Helmut Herles
Eine Sicht auf die Geschichte "mit meiner
Brille"
Der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl hat
den ersten Band seiner Erinnerungen vorgelegt - der zweite soll im
kommenden Jahr folgen
Helmut Kohl war von 1982 bis 1998 Kanzler der
Bundesrepublik Deutschland. Auch im internationalen Vergleich ist
es eine der längsten Amtsperioden als Regierungschef einer
parlamentarischen Demokratie. Als 16-Jähriger war er in die
Politik gegangen, "bewusst" in die CDU; "in der CDU fand ich meine
politische Heimat". Jetzt hat er den ersten Band seiner
"Erinnerungen" vorgelegt, der die Zeit von der Kindheit bis zum
Beginn der Kanzlerschaft umfasst. Im kommenden Jahr will er den
zweiten Band abschließen; er soll rechtzeitig zu Kohls 75.
Geburtstag am 3. April 2005 fertig sein.
Helmut Kohl nimmt Maß an Bismarck und
Adenauer, ohne dass er es ausdrücklich schreibt. Aber es kann
kein Zufall sein, dass er den ersten Band seiner die Jahre 1930
(Geburt) bis 1982 (erste Wahl zum Bundeskanzler) umfassenden
Memoiren "Erinnerungen" nennt. Er knüpft damit an den Titel
des Lebensbuches von Konrad Adenauer an, das dieser in seinem
Arbeitszimmer im Bonner Bundesrat und dem lichten Glasgehäuse
in Rhöndorf mit dem Blick auf das Rheintal geschrieben
hatte.
Kohl diktierte in Oggersheim im
Souterrain-Gehäuse. Ein Bild, das durch eine hintersinnige
Interpretation von Frank Schirrmacher überhöht wurde.
Aber vielleicht passt es zu beiden - Adenauer mehr aus dem
Überblick heraus, Kohl "von unten", auch aus dem Instinkt,
schreibend.
Er arbeitete im früheren Spielzimmer
seiner Kinder, angesichts eines Karrussell-Pferdes, das seine
verstorbene Frau Hannelore als Vorsitzende der ZNS-Stiftung
mehrfach zu deren Gunsten versteigert hatte und jedesmal wieder
zurückerhielt, um damit weiterhin Gutes zu bewirken. Ohne
"ihren Herzenswunsch" hätte Kohl nicht geschrieben, wie er
dankbar bei der Präsentation des Buches im Berliner "Hilton"
sagte.
Miturheber, nicht nur des Titels, sind aber
sicher auch die "Gedanken und Erinnerungen" des eisernen
Reichskanzlers Bismarck, der sein Werk so gewidmet hatte: "Den
Söhnen und Enkeln zum Verständnis der Vergangenheit und
zur Lehre für die Zukunft."
Genau das will Kohl erreichen.
Bewusst-unbewusst knüpft er somit an die beiden Politiker an,
mit denen er sich angesichts der geschichtlichen
Veränderungen, die er bewirkte, trotz seiner
Sündenfälle messen kann und will. Denn Helmut Kohl ist
und bleibt der Bundeskanzler der deutschen Einheit und der
europäischen Einigung, was unterdessen auch in anderen
Parteien so gesehen wird. Über die Wiedervereinigung wird er
im zweiten Band ausführlich schreiben und dabei sicher nicht
mit Kritik an den "Enkeln" Willy Brandts sparen, weil diese nach
seiner Überzeugung entweder - wie Lafontaine - gegen die
Einheit waren oder sie - wie Schröder - "verschlafen" oder im
Bundesrat gegen sie gestimmt hatten.
Sicher wird er dabei aber auch nicht
verschweigen, dass Willy Brandt ihm emotional und tatsächlich
geholfen hat; nicht nur mit dem geflügelten Wort: "Nun
wächst zusammen, was zusammengehört". Da Kohl das "alte
Schlachtross" geblieben ist, hat er in der Hitze des Gefechts
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse angegriffen -
mutmaßlich ohne ihn zu meinen.
Wahrscheinlich hat Kohl an die
Ministerpräsidenten wie Lafontaine oder Schröder gedacht,
als er bei der Präsentation des Buches in Berlin von
sozialdemokratischen "Parlamentspräsidenten oder so was"
redete, die niemals die Einheit Deutschlands gewollt hätten.
Daraufhin schrieb Bundestagspräsident Wolfgang Thierse am 8.
März in einem Brief an den früheren Bundeskanzler, Kohl
möge dies künftig nicht wiederholen: "Auch zu der Zeit,
als ich das Amt des Bundestagspräsidenten noch nicht bekleiden
und übrigens auch keine öffentliche Rede über meine
Überzeugungen halten konnte, habe ich immer schon und
gelegentlich sogar sehnsuchtsvoll auf die deutsche Einheit
gesetzt."
Thierse zitiert als Beleg seine erste Rede
als Parlamentarier der frei gewählten Volkskammer der DDR am
18. April 1990: "Die SPD hat sich in der Koalitionsvereinbarung zum
Artikel 23 des Grundgesetzes als dem realistischen Weg zur
deutschen Einheit bekannt (Beifall, besonders bei der CDU). Wir
begrüßen die entsprechende Aussage in der
Regierungserklärung. Das mag manchem befremdlich erscheinen
(Zuruf von der PDS: Ja!)". Thierse vermutet, dass Kohl ihn
angegriffen haben könnte, weil er die Sanktion wegen der
Verletzung des Parteiengesetzes nicht habe verwinden
können.
Über diese Spendenaffäre will er im
zweiten Band, der bis zu seinem 75. Geburtstag am 3. April 2005
fertiggeschrieben sein soll, berichten. Die Spender wird er auch da
nicht nennen; "dazu habe ich alles gesagt". Es ist "kein Werk der
Rache", eher der Rechtfertigung - wie angesichts des Todes seines
Freundes Hanns-Martin Schleyer -, aber auch des Rechthabenwollens.
Wobei der Politiker und Zeitzeuge einräumt, dass er die Epoche
"mit meiner Brille" schildert. Er will "Geschichtsfälschern,
die auf breiter Front unterwegs sind", entgegentreten. Wenn er
manche andere Memoiren lese, frage er sich: "Habe ich damals
überhaupt gelebt? Das war doch völlig anders, ich war
doch dabei."
Spitzen und Seitenhiebe
Helmut Kohl ist zwar milder geworden, aber
noch kann er auf Seitenhiebe nicht verzichten. So schreibt er
über Richard von Weizsäcker (den er beim ersten Anlauf
1969 noch vergeblich als Bundespräsidenten-Kandidaten
aufstellen wollte), nachdem er ihn 1979 schließlich als
Regierenden Bürgermeister von Berlin durchgesetzt habe,
kühler, als er es empfindet: "Seine Berufung nach Berlin war
ein klassisches Beispiel für die Wirksamkeit einer
Personalpolitik, die später von ihm und anderen oft als
‚System Kohl' geschmäht wurde."
Das umfangreiche Werk hat den Vorteil, dass
man dank des Sach- und Personenregisters schnell die Helden und
Antihelden dieses Lebens findet und dank der schwarz-weiß
Fotos die Atmosphäre jener Jahre nachempfinden kann. Man
begegnet Zeitgenossen, denen er, wie Hans-Dietrich Genscher, dankt;
mit denen er konkurrierte und kooperierte, wie Rainer Barzel und
Willy Brandt; die offiziell seine politischen Freunde, aber in
Wirklichkeit damals seine stärksten Gegenspieler, wie
Franz-Josef Strauß, waren.
Kohl ist sicher, dass die Lehren aus seinem
erfolgreichen Kampf gegen die Trennung der Unionsfraktion durch den
Kreuther Beschluss der CSU auch heute gelten. "Das war eine meiner
wichtigsten Leistungen." "Der Satz: ‚Getrennt marschieren,
aber vereint schlagen', ist eine Fama." Hätten sich CDU und
CSU damals getrennt, wäre die Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland ganz anders, also negativ, verlaufen. Davon ist Kohl
überzeugt, wie er bei der Vorstellung des Buches
sagte.
Das Buch beginnt mit einem den Autor
charakterisierenden Satz in der Ich-Form. Auch dies kann kein
Zufall sein, da jeder machtbewusste Politiker auch Egozentriker ist
oder, wie Willy Brandt in seinen Lebenserinnerungen "Links und
frei" geschrieben hatte, sogar von Egomanie heimgesucht wird. Kohls
erstem Satz und vielen anderen merkt man die mündliche Rede
an, aus der ein schriftlicher Text wurde: "Ich bin ein klassisches
Beispiel dafür, welchen Einfluss das Elternhaus hat." Aber
gerade dieser Teil 1 "Wurzeln und Prägungen" (1930 - 59) ist
lesenswert, wenn man verstehen will, warum dieser Politiker den
Krieg verabscheut, in dem er seinen Bruder Walter verlor, und
deshalb die europäische Einigung vor allem als Friedenswerk
begreift und vorangetrieben hat. "Heimat Europa" ist für ihn
kein Klischee.
Der zweite Teil zeigt den Landespolitiker in
Rheinland-Pfalz (1959 - 69); Teil 3 die Zeit als
Ministerpräsident in Mainz (1969 - 76), in der er zum
Bundesvorsitzenden und Kanzlerkandidaten der CDU aufstieg, aber die
Wahl von 1976 knapp verlor, die er nach englischem Wahlrecht
gewonnen hätte. Der Band schließt mit der Zeit von 1976 -
82, als er Oppositionsführer in Bonn war und Bundeskanzler
wurde.
Die ganze Spannung und die Widersprüche
dieser Phase werden allein schon in Kapitel-Überschriften
deutlich, mit denen sich Kohl wie ein Journalist äußert:
Als Wahlsieger in der Opposition. Der Kreuther Trennungsbeschluss.
Kampf um die Einheit. Verletzungen. Heimtückische RAF-Morde.
Auf Leben und Tod. Standfestigkeit statt Schlingerkurs. Aufbruch
aus der Opposition. Kampfansage. Gekämpft und doch verloren.
Der Herausforderer. Schmidt oder Strauß. Rückschlag.
Verheerende Niederlage. Keine Resignation. Neuer Elan. Berliner
Berufung. Symbol der Unmenschlichkeit. Kraftvoll gegen den
Zeitgeist. Sommer der Überraschungen. Schlag auf Schlag.
Weichenstellung. Die Wende. Mit der Wende meint er übrigens
nicht die friedliche Revolution in der DDR, sondern sein - mit
Hilfe der FDP und vor allem Genschers - gelungenes Misstrauensvotum
gegen Helmut Schmidt am 1. Oktober 1982. Mit einem Dank an Genscher
endet dieses Buch.
Hätte er 1976 nicht den sicheren Sitz in
Mainz mit dem harten Stuhl im Bonner Bundeshaus getauscht,
wäre er nie zum Bundeskanzler gewählt worden. Es waren
Jahre, in denen er sich nicht nur gegen den sozialdemokratischen
Bundeskanzler Helmut Schmidt zu behaupten hatte, sondern sich gegen
Franz-Josef Strauß durchsetzen musste. Heute sieht Kohl diesen
Konflikt versöhnlich. Die sich wirklich mit dem
"großartigen Politiker" auseinandersetzen mussten, wie er oder
der CSU-Politiker Theo Waigel, sprächen heute viel
freundlicher über Strauß als mancher seiner damaligen
Gefolgsleute.
Helmut Kohl ärgert sich mutmaßlich
noch heute darüber, dass sein Vorgänger Helmut Schmidt
ihn unterschätzt hat. Schmidt allerdings hörte
spätestens damit auf, vom "tönenden Nichts aus Mainz" zu
sprechen, als der Kanzlerkandidat Helmut Kohl schon bei der
Bundestagswahl von 1976 sein Wahlziel gegen Helmut Schmidt nur
knapp verfehlt hatte. Damals warnte zum Beispiel der spätere
SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzende Hans-Jochen Vogel als
Bundesjustizminister seinen Bundeskanzler vor der
Unterschätzung des Mainzers.
Helmut Schmidt urteilt in seinen
jüngsten Interviews längst gerecht über Helmut Kohl;
und Helmut Kohl könnte in seinem zweiten Band noch
vorurteilsfreier als im ersten über sein Glück schreiben,
dass er ernten konnte, was andere Bundeskanzler vor ihm gesät
haben. Denn die Wiedervereinigung, die Helmut Kohl erreichte,
beruht nicht nur auf dem Freiheitswillen der Menschen in der DDR
während des Herbstes 1989, dem Perestroika-Wandel in der
Sowjetunion, der Hilfe der Ungarn und des polnischen Papstes und
dem Willen der amerikanischen Führung - im Gegensatz zur
Ablehnung Thatchers und dem Zögern Mitterands angesichts der
kommenden Vereinigung der beiden deutschen Staaten.
Die Wiedervereinigung ist auch das Ergebnis
eines glücklichen dialektischen Zusammenhangs zwischen Helmut
Kohls Politik und der seiner Vorgänger. Ihm gelang in der Tat
die Synthese zwischen den anfänglichen Antithesen der
deutschen Politik, der festen Verankerung der Bundesrepublik
Deutschland im Westen durch Konrad Adenauer und der am Anfang von
der Union heftig abgelehnten Ostpolitik Willy Brandts.
Helmut Kohl kam aber auch die Standfestigkeit
Helmut Schmidts zugute. Ohne den von Helmut Schmidt und ihm
durchgesetzten NATO-Doppelbeschluss durch Nachrüstung des
Westens der Überrüstung der Sowjetunion zu begegnen und
damit den Wandel in der Sowjetunion und schließlich deren Ende
als Diktatur herbeizuführen, hätte es die Einheit in
Frieden und Freiheit jedenfalls nicht geben können. In diesem
Sinn steht Helmut Kohl auf den Schultern seiner
Vorgänger.
Er hofft, mit seinem Lebensbuch - vor allem
dessen zweitem Teil - Vorurteilen gegen ihn entgegenzutreten, indem
er "aus dem Zusammenhang gelöste Schlagworte" wie die von den
"blühenden Landschaften" in der ehemaligen DDR oder der "Gnade
der späten Geburt" in ihren "wirklichen Kontext" stellen
will.
Ob es wirklich das "Opus magnum" ist, das
große Werk Helmut Kohls, als das es der Verlag anpreist, wird
man erst nach dem kommenden abschließenden Band beurteilen
können. Auf jeden Fall aber lohnt es die Lektüre, weil
die Subjektivität eines Autobiographen zu einer objektiven
Würdigung durch Historiker und Politologen erheblich beitragen
kann. Es ist ein lesbares Buch und spricht sicher nicht nur
Fachleute oder Kohls Zeitgenossen an.
Helmut Kohl
Erinnerungen 1930 - 1982.
Droemer Verlag. München 2004; 684 S.,
28,- Euro
Helmut Herles war langjähriger
Parlamentskorrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" in
Bonn und ist jetzt Chefkorrespondent des Bonner "General-Anzeiger"
mit Büros in Bonn und Berlin.
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