Beate Bahnert
Wiederaufbau ja oder nein?
Dokumentation zur Leipziger
Universitätskirche
Als Verlag mit Sitz in Leipzig, der besonders der lutherischen
Tradition verpflichtet ist, scheint die EVA geradezu
prädestiniert für diese Veröffentlichung zu sein.
Das Buch enthält Zündstoff. Denn es platzt mitten hinein
in die hitzigen Diskussionen um die Neugestaltung des
Universitätscampus am Leipziger Augustusplatz, dessen Zentrum
jahrhundertelang zweifellos die Universitätskirche St. Pauli
mit dem Augusteum gebildet hatte.
Der Band enthält Beiträge zweier Kolloquien der
Leipziger Universität vom Frühjahr 2003 zum Thema "Welche
Erinnerung brauchen wir?". Wer nachvollziehen möchte, was wo
und wann einzuordnen ist, tut sich anfangs etwas schwer, denn statt
eines kurzen strukturierenden Vorworts referiert der Essay von
Middell/Schubert/Stekeler-Weithofer auf den ersten 40 Seiten den
Inhalt des Bandes, bringt aber soviel an eigenen Einsichten, dass
man ihn nicht überblättern sollte.
Die Leipziger Universitätskirche aus dem 15. Jahrhundert,
die den Zweiten Weltkrieg unbeschadet überstanden hatte, war
am 30. Mai 1968 auf Geheiß des Ulbricht-Regimes gesprengt
worden. Im Hinblick auf das 600-jährige Jubliäum der
Leipziger Universität im Jahre 2009 ist die Debatte um die
angemessene Gestaltung des Augustusplatzes und einen Wiederaufbau
der Paulinerkirche immer aggressiver geworden. Zurzeit
beschäftigt sich die Presse vor allem mit den
unterschiedlichen Architektenentwürfen, denn allzu viel
zeitlicher Spielraum bleibt nicht mehr.
Die Dokumentation/Reflexion der Ereignisse von 2003 beginnt mit
dem Rücktritt des Rektors der Universität am 30. Januar
als Protest gegen eine Entscheidung der sächsischen
Landesregierung zum Wiederaufbau der Paulinerkirche entgegen den
Hoheitsrechten der Universität. Der Rektor, Volker Bigl,
erinnert an alle Traditionen der Universität und auch daran,
dass hier Weltoffenheit und Internationalität sogar nach 1968
in besonderer Weise, etwa nach Osteuropa hin, wirksam wurden. Aber
wer will das heute noch hören im Kontext der Aufarbeitung von
Schuld und Diktatur in der DDR?
Das ist jedoch nur ein Aspekt. Weit über die Leipziger
Problematik hinaus weist der Gedanke, dass "Monumentalität die
Erinnerung verstellt", wenn durch das Festhalten an festen Ideen
programmatische Lösungen unmöglich gemacht oder - wie im
Fall Universitätscampus - verzögert werden.
In allen Beiträgen wird das Jahr der Sprengung als ein Jahr
großer Umbrüche in Europa begriffen. Die
Veröffentlichung weitet deshalb Erinnerungskultur territorial
und zeitlich aus. Vergleiche mit der Dresdner Frauenkirche, dem
Berliner Schloss, dem Holocaust-Mahnmal in der Bundeshauptstadt,
dem Frankfurter Römerberg liegen nahe. Besonders
aufschlussreich ist die Rekonstruktion zerstörter Städte
in Polen und Tschechien (Michaela Marek). Der Vergleich mit den
Entwürfen zu "Ground Zero" in New York, den Frank Zöllner
anstellt, scheint allerdings doch etwas gewagt.
Nicht zu Wort kommen jene, die am Protest 1968 unmittelbar
beteiligt waren, ebensowenig jene, die einen uneingeschränkten
Wiederaufbau der Paulinerkirche favorisieren. Insofern kann das
Buch nicht halten, was es verspricht: ein umfassendes
repräsentatives Meinungsspektrum des "Leipziger
Kirchenstreits" abzubilden. Die Blickwinkel sind durchaus
unterschiedlich, Polemik ist selten, Sachlichkeit überwiegt.
1996 kam zum Beispiel Pater Andreas Reichwein SJ, der katholische
Studentenpfarrer, nach Leipzig. Ihn erinnert der kulminierende
Streit an die Zeit vor 1545, und er mahnt eindringlich
Sensibilisierung für die verletzte menschliche Würde auf
allen Seiten an.
Das Dilemma der Frage, "welche Erinnerung wir brauchen", zeigt
sich beispielsweise im Beitrag des Leipziger Historikers Hartmut
Zwahr ("Erinnerung erfordert Wissen"): Er ruft den bekannten
Plakatprotest in der Kongresshalle (1968) ins Gedächtnis, aber
die Aussagen darüber, welche Akteure daran namentlich
beteiligt waren, gehen weit auseinander und haben seit Jahren zu
bleibenden, tiefen Verletzungen geführt (vgl. Seiten 63 ff. im
Gegensatz zu 135 und der Veröffentlichung von Dietrich Koch:
Das Verhör. Zerstörung und Widerstand, 3 Bände,
Dresden 2001).
Alle Autorinnen und Autoren sind leidenschaftlich von der Vision
einer offenen Universität erfüllt. Angesichts der
dramatischen Situation der Hochschulen hat die "Option Zukunft"
Vorrang, ohne die eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit
nicht funktioniert. In dem vorliegenden Band werden dazu sehr
deutliche Thesen formuliert, die in der gesamtdeutschen
Erinnerungslandschaft einfach provozieren müssen. Schon
deshalb lohnt eine Auseinandersetzung.
Matthias Middell / Charlotte Schubert /
Pirmin Stekeler-Weithofer (Hrsg.)
Erinnerungsort Leipziger Universitätzskirche.
Eine Debatte.
Beiträge zur Leipziger Universitäts- und
Wissenschaftsgeschichte, Reihe B, Band 2. Evangelische
Verlagsanstalt, Leipzig 2004; 160 S., 18,80 Euro
Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Leipzig.
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