Wolfgang Benz
Diabolisches Werkzeug
Eine Arbeit über den Gestapochef
Müller
Heinrich Müller, Amtschef IV im Reichssicherheitshauptamt,
der Terrorzentrale des NS-Staats, zuletzt SS-Gruppenführer und
Generalleutnant der Polizei, gehörte zu den farblosen
Gestalten unter den Mächtigen des Regimes. Ende April 1945 ist
er im untergehenden Berlin verschwunden. Die Spurensuche hat
Geheimdienste und Journalisten, Gerichte und Historiker
jahrzehntelang beschäftigt.
Müller kam 1900 in München als Kind
katholisch-kleinbürgerlicher Eltern zur Welt. Nach einer Lehre
als Flugzeugmonteur brachte er es im Ersten Weltkrieg zum
Unteroffizier. 1919 trat er in den Münchner Polizeidienst ein,
diente sich empor und wechselte zur Bayerischen politischen
Polizei, wo er die Gunst seines Vorgesetzten Reinhard Heydrich
errang.
Nach Herkunft stand er bis 1933 der katholischen Bayerischen
Volkspartei nahe. Er gehörte auch nicht zu den
"Märzgefallenen", die 1933 eilig das Mitgliedsbuch der NSDAP
erwarben. Am 20. April 1934 trat er der SS bei. Parteigenosse wurde
Müller erst 1938. Er war fleißig wie ein Berserker,
führte praktisch kein Privatleben, machte Karriere, wie dies
aus so bescheidenen Anfängen nur im NS-Staat möglich
war.
Wegen seiner exponierten Stellung im Herrschaftsapparat und weil
er sie offensichtlich wegen seiner Sekundärtugenden inne
hatte, erhofft man sich von einer Biographie des Gestapo-Chefs
Aufschlüsse über das Wesen des Regimes, also
darüber, wie die Verfolgung und Vernichtung von Menschen
geplant und vollzogen wurde, jenseits aller Rationalität.
Bornscheins Buch über Müller enttäuscht leider in
jeder Hinsicht. Dass es für ein Porträt des Menschen
Müller kaum Fakten jenseits der Karrieredaten gibt, ist dem
Verfasser nicht anzulasten. Wohl aber, dass er offensichtlich kein
Konzept hat. Der Autor interessiert sich vor allem für
Instanzenzüge, Organisationsschemata und
Geschäftsverteilungspläne; ebenso akribisch zählt er
Ehrungen, Beförderungen und Auszeichnungen auf. Neues wird bei
so schlichtem Positivismus nicht zutage gefördert, obwohl der
Autor, folgt man dem Quellenverzeichnis, in allen
einschlägigen Archiven gerackert hat und gern aus den
Dokumentenfunden zitiert. Die durch die Forschung gewonnene
Erkenntnis ist dagegen völlig vernachlässigt worden.
Dilettantisch
Das Ergebnis ist entsprechend. Wie sehr der Autor auf dem Feld
der NS-Forschung dilettiert, wird auf Schritt und Tritt deutlich.
So liest man zum Beispiel (S. 100) den Satz "Zur Bearbeitung aller
die jüdische Rasse betreffenden Angelegenheiten diente das
bereits mehrfach erwähnte Juden-Referat". An anderer Stelle
wird von "Rentendörfern" gefaselt, in denen Himmler
privilegierte Juden aus Frankreich, Ungarn und Rumänien
"untergebracht" haben soll. Im Jahr 1943 sei in diesem Zusammenhang
das Lager Theresienstadt in ein Altersghetto ("Rentendorf")
umgewandelt worden.
Naiv und teilweise falsch sind die Mutmaßungen über
das Schicksal der polnischen Juden. Sie hätten, schreibt
Bornschein mitleidig, unter der deutschen Besetzung besonders zu
leiden gehabt: "Sie wurden erniedrigt und misshandelt, zum
Arbeitseinsatz ins Reich geschickt oder in Ghettos eingepfercht."
Er behauptet (S. 77), von 1933 bis 1945 seien 18 Millionen Menschen
in Konzentrationslager verschleppt worden, von denen elf Millionen
zu Tode kamen. Müller soll die "Aktion Reinhard" als
Vergeltungsschlag geleitet haben, bei der die gesamte jüdische
Bevölkerung nach Auschwitz verbracht worden sei. Die Liste
grober Fehler lässt sich beliebig verlängern.
Hölzern und ungelenk wird das vorgetragen, und
nationalsozialistischer Jargon findet sich ohne
Anführungszeichen. So schreibt er "nach den Judenpogromen vom
November 1938 verfolgte die Staatsführung nunmehr zwei
Hauptziele zur Lösung des Judenproblems: 1. Die
Zurückdrängung der Juden aus den einzelnen Lebensgebieten
des deutschen Volkes, 2. Die Zurückdrängung der Juden aus
dem Lebensraum des deutschen Volkes." Das ist die Sprache des
Protokolls der Wannsee-Konferenz. Aber das kennt Bornschein auch
nicht, denn er vermutet "auf der Tagesordnung standen die
verschiedenen Tötungsmöglichkeiten" (S. 103).
Joachim Bornschein
Gestapo-Chef Heinrich Müller.
Technokrat des Terrors,
Militzke-Verlag, Leipzig 2004; 224 S. 24,80 Euro
Professor Wolfgang Benz leitet das Zentrum für
Antisemitismusforschung der TU Berlin.
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