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Richard Woyke
Was zusammengehört, ist zusammen
Eine zu optimistische Stimme aus dem
Europarat?
Vom Titel könnte man meinen, dass es sich um eine
Längsschnittanalyse europäischer Geschichte über
zwei Jahrhunderte handelt, doch Walter Schwimmer, seit 1999
amtierender Generalsekretär des Europarats, erzählt
weitgehend spannend über Entwicklungen in Europa iwährend
der beiden letzten Dekaden aus der Sicht eines Beteiligten. Dabei
steht natürlich der Europarat, also jene 1950 von zehn
(west)europäischen Staaten gegründete Organisation, im
Zentrum.
Der besondere Stolz des Verfassers auf diese in der
Öffentlichkeit doch weit unterschätzte internationale
Organisation zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. So
optierte er für die Mitgliedschaft in der Parlamentarischen
Versammlung des Europarats anstelle der Mitgliedschaft im
Europäischen Parlament, da er glaubt, im Europarat mehr
bewegen zu können.
Zunächst zu Schwimmers Europabild: Danach unterscheidet
sich Europa als Ganzes von den anderen Kontinenten durch den ihm
eigenen kulturellen Fundus wie durch eine besondere
wirtschaftliche, gesellschaftliche und sozialpolitische Ordnung.
Für Schwimmer ist Europa eine "Schicksalsgemeinschaft", die
keine Uniformität verlangt, dafür aber innere
Auseinandersetzungen verträgt.
Um die europäische Identität zu bewahren, ist es
geboten, so das von Schwimmer zitierte Statut des Europarats, "eine
größere Einheit unter den Nationen zum Zwecke der
Sicherung der Ideale und Grundsätze zu erreichen, die ihr
gemeinsames Erbe darstellen, und ihren wirtschaftlichen und
sozialen Fortschritt zu fördern". Schwimmer fordert für
die Gesellschaften in Europa gegenseitigen Respekt, Achtung vor dem
Anderen, vor seinen Traditionen, seiner Kultur, seiner Sprache,
Offenheit statt nationalistischer Enge, Toleranz statt Ablehnung
des Fremden.
Aber diese Ziele sind nicht zum Nulltarif zu haben. Europa
braucht die Wachen, die Aktiven, die Aufmerksamen, die aktive
Zivilgesellschaft. Schwimmer rechtfertigt durchgehend die besondere
Bedeutung des Europarats für den europäischen
Integrationsprozess. Für ihn ist der Europarat die einzige
wahrhaftige europäische Organisation, da er mehr als 800
Millionen Bürger repräsentiert, inzwischen mit 45
Mitgliedstaaten nahezu alle europäischen Länder umfasst
und für diese verbindliche Vorgaben erstellt hat.
Schwimmer arbeitet sehr gut die Bedeutung des Europarats in der
Zeit des Strukturbruchs der internationalen Beziehungen 1989/1991
heraus. So wurde der Europarat zur ersten Anlaufstelle für die
ehemaligen sozialistischen Staaten, die die "Rückkehr nach
Europa" anstrebten und im Europarat den ersten Ansprechpartner
fanden. Europa erhielt in diesen Umbruchszeiten eine neue
Landkarte, die die Vision vom "einen" Europa zu dieser Zeit als
machbar erscheinen ließ.
Es ist faszinierend, die politische Entwicklung in Europa zu
jener Zeit aus der Sicht des Europarats noch einmal
nachzuvollziehen. So war es das Präsidium der
parlamentarischen Versammlung des Europarats, das die Idee einer
Einladung an den damaligen KPdSU-Parteichef und sowjetischen
Staatspräsidenten Gorbatschow nach Straßburg lancierte.
So hielt Gorbatschow am 6. Juli 1989 eine bedeutende Rede vor dem
Auditorium einer anderen "Glaubensgemeinschaft", "die noch bis vor
kurzem, von Moskau ausgesehen, als das Bollwerk des kalten Krieges
im westlichen Teil Europas galt".
Vor dem Europarat bekannte sich Gorbatschow - und dies war in
der Tat etwas fundamental Neues - zu den Werten dieser Institution:
pluralistische Demokratie, individuelle Menschenrechte und Primat
des Rechtsstaats. Gorbatschow verstand den Europarat als eine der
tragenden Säulen seiner Vision vom gemeinsamen
europäischen Haus. Und es sollten sich sehr schnell die
Grundkonstanten in Europa mit dem Mauerfall, der Auflösung des
Sozialismus als Staats- und Gesellschaftsform in Osteuropa, der
deutschen Wiedervereinigung wie auch der Implosion der Sowjetunion
ändern. Für den Europarat bedeutete diese Entwicklung die
sukzessive Erweiterung, die mit Ungarn im November 1990 als erstem
der Reformstaaten begann.
Das zukünftige Europa sieht Schwimmer aus großen und
kleinen Staaten bestehend, aus Völkern mit baltischem,
germanischem, keltischem, romanischem, slawischem,
zentralasiatischem oder anderem Ursprung. Darin werden Menschen
unterschiedlichen Glaubens leben - katholische, orthodoxe und
protestantische Christen, Juden, Moslems, und andere,
einschließlich Agnostiker und Atheisten. Über 200
Sprachgemeinschaften werden in den verschiedensten
europäischen Staaten miteinander leben. Neben nationalen
Mehrheitsbevölkerungen wird es ethnische Minderheiten mit
einem Recht auf Bewahrung ihrer Eigenart geben; ein einiges und
vereintes Europa wird auch ein Europa der Vielfalt sein.
Der sich selbst als Optimist bezeichnende Schwimmer träumt
von einem ungeteilten Europa der gemeinsamen Werte und des
gemeinsamen kulturellen Erbes, einem Europa ohne Zwang und
Bevormundung, einem Europa der bereitwilligen Zusammenarbeit, einem
Europa der partnerschaftlichen Verantwortung für die Probleme
der anderen, einem Europa der sozialen Solidarität und einem
Europa der demokratischen Sicherheit. Dass er dabei die Rolle des
Europarats vielleicht überschätzt, wird aus seiner
Funktion erklärbar.
Walter Schwimmer
Der Traum Europa. Europa vom 19. Jahrhundert in das dritte
Jahrtausend.
Springer Verlag, Heidelberg 2004; 297 S., 39,95 Euro
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