|
|
Balduin Winter
Grenzraum, Brücke, Übergangsraum
Das neue EU-Mitglied Slowakei komprimiert
ethnische und kulturelle Vielfalt zu unverkennbarer
Eigenart
Von den acht ehemals kommunistischen
Ländern, die am 1. Mai 2004 der Europäischen Union
beitreten, ist die Slowakische Republik so etwas wie ein
"Jungstaat". Ihre staatliche Souveränität erlangte sie
erst 1993 durch die Trennung von der Tschechischen Republik. Zuvor
war diese Region viele Jahrhunderte lang ein Teil Ungarns, um dann
sehr wechselvolle Zeiten im Rahmen der Tschechoslowakei zu erleben.
Dabei handelt es sich um ein ungemein vielschichtiges Land,
kontinentale Wasserscheide, Grenzland gegen den osmanischen Ansturm
und zugleich ein Land der Übergänge. Auch die neueste
Schicht, die die Globalisierung aufträgt, kann den spezifisch
multikulturellen Charakter nicht überdecken.
Brücke der Völker, hört man an
Festtagen. Aber Sonntagsreden in dieser Region sind niemals flockig
und luftig. Jedes Wort wird belauert von Geschichte, die anderswo
gemacht wurde. Aber nähern wir uns diesem Land zunächst
mit den Augen und sehen: Es ist ein schönes, ein
vielfältiges Land. Wir sind überrascht, denn vieles wirkt
irgendwie vertraut. In der Altstadt von
Bratislava/Pressburg/Pozsony erinnern viele Gebäude an Wien
oder Budapest; auch andere Städte vermitteln etwas von jenem
architektonischen Charakter, den man, sehr unscharf, den
"kakanischen" bezeichnen möchte.
Das Habsburger Reich war über lange Zeit
stilbildend bei Repräsentativbauten. Das sieht man einer
östlichen Stadt wie Ko¨ice/Kaschau/Kassa ebenso an wie
´ilina/Sillein/Zsolna. Daran mögen auch reichlich
deutsche Hände mitgewirkt haben, denn das Land im
Karpatenbogen zwischen Moráva/March und Tisza/Theiß hatte
nicht nur eine Brückenfunktion, sondern wurde auch vielen
Menschen zur neuen Heimat. Menschen mit deutscher Zunge waren hier
Jahrhunderte lang keine Ausländer.
Dieses Land mit einem recht jungen Namen, -
das Land, das doch durch den Gebirgszug im Norden eine scheinbar so
klar gezogene Grenze hat und dessen Strukturen so schwierig sind.
Es ist ein erstaunliches Land, und es ist begeisternd, was seine
Menschen in den Jahren seit der Wende zu Wege gebracht haben. Denn
in den Neunzigern, als die Slowakei überhaupt erst als
souveräner Staat auf der Landkarte auftauchte, hatte sie keine
gute Presse. Ein populistischer Vladimir Meciar mit seiner
nationalistischen Bewegung schien die junge Demokratie zu
erdrücken.
Seitens der EU wurde die Slowakei als
politisches Schmuddelkind unter den Beitrittswilligen betrachtet.
Es stimmt freilich, die Trennung von Tschechien wurde in erster
Linie von den Nationalisten forciert, wobei die tschechische Seite
damals im Westen das eindeutig bessere Ansehen genoss; Václav
Klaus verstand es, seinem Nationalismus das Mäntelchen eines
liberalen Weltbürgertums umzuhängen.
Zuvor hatte es erst ein Mal eine rein formal
unabhängige Slowakei gegeben: Als Nazideutschland im März
1939 die Tschechoslowakei überfallen hatte, gestand es seinem
slowakischen Sympathisanten eine begrenzte Unabhängigkeit zu.
Dabei fiel ein Teil des Territoriums an Ungarn, darunter die
östliche Metropole Ko¨ice. Die Regierung der
"Pfaffenrepublik" und die Militärleitung erhielten deutsche
Berater beigestellt. Ein Staat von Hitlers Gnaden.
All die Jahrhunderte zuvor gab es dieses
Land, aber keine "Slowakei". Als Staat ist sie unglaublich jung,
ein lausbubenhaft junger Staat - auf historisch uraltem Boden. Und
auf was für einem Boden! Es gehört zu jenem Mitteleuropa,
über dessen Debatte in den Siebzigern und Achtzigern man im
Westen oft die Nase gerümpft oder die Achsel gelupft hat.
Milan Kundera, György Konrád, Václav Havel, Milan
¦imecka, Adam Michnik, Danilo Ki¨ gehörten zu den
Visionären, die über das geteilte Europa hinausdachten.
Sie wollten im Sowjetkommunismus schon damals nur ein Intermezzo
für diesen an kulturellen Traditionen so reichen
"Subkontinent" sehen. Das war nicht so selbstverständlich, wie
es heute erscheint.
Seit Urzeiten ist diese Region ein
Durchzugsland. Man muss sich nur einmal das Flusssystem vor Augen
führen. Im Süden grenzt die Donau - eine historische
Wanderroute ohnegleichen. Wandert man die March aufwärts, die
die heutige Westgrenze bildet, gelangt man über eine niedrige
Schwelle in Mähren zur Oder: eine alte Fernhandelsstraße.
Entlang des Váh/Waag zieht eine weitere Route unter der Tatra
hoch, ein recht leicht passierbarer Sattel, dann die beiden
Möglichkeiten: nach Norden den Dunajec hinunter zur Weichsel,
nach Osten weiter bis zum Oberlauf der Tisza/Theiß. Der Hron,
ein weiterer Nebenfluss der Donau, knickt früher nach Osten
ab, verläuft südlicher, parallel zum Váh.
So bergig, ja gebirgig das Land in seinem
Mittelteil wird, überall zeichnen sich Wege und Verbindungen
ab in alle Himmelsrichtungen. Das Bergland, immerhin fast 3.000
Meter hoch, ist keine Barriere, sondern Region der Durchgänge
und der Übergänge. Sie sind wahrscheinlich die Grundlage
dessen, was, bei aller Vielfalt, bisher das Verbindende, die
Verbindlichkeit des Landes ausgemacht hat.
Denn es handelt sich nicht einfach um "einen
Raum". Es sind kleinräumige, miteinander verbundene
Landschaften mit höchst unterschiedlichen Siedlungsschichten
und -geschichten. Jeder Versuch, hieraus eine Einheitsgeschichte zu
basteln, eine stringente Besiedlungsgeschichte, gar eine
Nationalgeschichte, muss scheitern. Die ethnische und sprachliche
Mannigfaltigkeit auf dem Boden der heutigen Slowakei ist über
die Jahrhunderte gewachsen. Es ist eine Region der Brüche und
Verwerfungen, aber auch eine "Kreuzung der Kulturen", wie eine von
vielen slowakischen Autoren verwendete Metapher lautet.
Was nutzt es, ein sagenhaftes
"Großmährisches Reich", das Reich des Fernhändlers
Samo im 7. Jahrhundert, als erste slowakische Staatsgründung
auszudeuten? Nichts blieb davon als ein paar Funde und ein Mythos.
Was nutzt es, die gescheiterten Versuche der Slawenapostel Kyrill
und Method als Beleg einer frühen eigenständigen
Kirchenblüte hervorzuheben? "Großmähren" wurde 906
zwischen dem Frankenreich und den landnehmenden Magyaren zerrieben,
deren König Stephan die lateinische Liturgie der
römischen Kirche durchsetzte.
Während der ungarischen Herrschaft wurde
die Region unter den Karpaten "Felvidék" genannt, was auf
Deutsch einfach "Oberland" heißt, und Oberungarn blieb es bis
1918, immerhin tausend Jahre. Wechselvolle Zeiten, wechselnde
Herrscher, wechselnde Grenzen. Lange Zeit war Pressburg
Krönungsstadt der ungarischen Könige. Oberungarn war
während der Türkenherrschaft der Rückzugsraum des
ungarischen Adels, die Silber- und Erzminen im Hauerland bildeten
das materielle Rückgrat der ungarischen Magnaten.
Der Name "Slowakei" kam erst in der Mitte des
19. Jahrhunderts auf, als die slowakische Nationalbewegung auf den
Plan trat, als die Slowaken ihre eigene Sprache kodifizierten und
in der Revolution von 1848 ihre eigene Stimme erhoben. Wer aber
hatte sich inzwischen alles niedergelassen in diesem Land, das etwa
so groß wie Hessen ist!
Von neolithischen Ausgrabungen, die uns eine
bronzene Venus von Puchov beschert haben, gebrannt rund 35.000
Jahre vor Christus, bis zu keltischen Wällen reicht ein weiter
Bogen von alten Besiedlungsspuren. Eine Reihe weiterer Völker,
darunter Kimbern, Quaden, Römer, Awaren und Gepiden,
hinterließen ihre Zeichen, bevor es zu einer dauerhaften
Besiedlung im 7. Jahrhundert durch slawische Stämme
kam.
Im 9. Jahrhundert erreichten, vom mittleren
Ural kommend, die schließlich staatsgründenden Magyaren
den pannonischen Raum. Aus dem 11. Jahrhundert stammen Belege der
ersten jüdischen Ansiedlungen, in Liptovský
Mikulᨠsteht, renoviert, eine der größten
Synagogen Mitteleuropas. Dazwischen liegt eine wechselvolle
Geschichte mit ihrem absoluten Tiefpunkt, als eine slowakische
Regierung nach Nazi-Vorbild Judengesetze erließ und
schließlich, wie Ladislav Lipscher in seiner Studie "Die Juden
im Slowakischen Staat 1939 - 1945" aufzeigt, aus eigenen
Stücken den Großteil der jüdischen Bevölkerung,
rund 65.000 Menschen, nach Nazideutschland deportieren
ließ.
Seit dem 12. Jahrhundert kamen in mehreren
Wellen deutsche Siedler als Bauern, als Handwerker, als Bergleute
in die Zips und in die Bergbaugegenden. Ulm und seine "Ulmer
Schachteln" waren bekannt als Abfahrtort und Transportmittel.
Ungarns Urbanisierung wäre ohne deutsche Immigration undenkbar
gewesen. Zu den Einwanderern aus Sachsen gehörte auch die
Familie der Bachs, die sich vermutlich erst im Bergbau versuchte,
bevor sie nach Pressburg ging. Johann Sebastians Großvater war
es dann, der wieder nach Thüringen
zurückkehrte.
Allerdings ist das deutsche Element heute
weitgehend verschwunden, nachdem das Terrorregime der Nazis Europa
mit Krieg und Vernichtung überzogen hatte. Viele Tausende
flüchteten noch während der Kriegshandlungen. Danach
musste auch hier unter dem Eindruck der Naziverbrechen die
Kollektivschuldthese zu ethnischen Säuberungen
herhalten.
Im 14. Jahrhundert kamen schließlich
Roma und Ruthenen, im 15. Jahrhundert im Gefolge der Hussitenkriege
Tschechen und unter dem Druck der heranrückenden Osmanen
einige Tausend kroatische Familien. Auch
Herrschaftsverhältnisse und Religionsbekenntnisse wechselten
in einzelnen Teilgebieten des Öfteren. Allein das 20.
Jahrhundert hatte für diesen Fleck Erde an Staatsformen
Monarchie, demokratische Republik, autoritären Staat,
kommunistische Diktatur und zum versöhnlichen Ausklang wieder
die Demokratie parat. Schwerlich lässt sich wohl über
dieses Land in Begriffen der politischen, religiösen oder
kulturellen Homogenität sprechen.
Seit es den neuen Staat, die Slowakische
Republik, gibt, ist eine Art permanenter Historikerstreit in Gange.
Typisch Mitteleuropa, könnte man György Konrád
beipflichten, der auf das für diese Region so
charakteristische Kreuz mit der Geschichte hinweist, dass "wir
Mitteleuropäer uns viel häufiger auf die Vergangenheit
berufen als, sagen wir, Amerikaner. Wir kämpfen mit
Jahrtausenden, narkotisieren uns mit der Zeit. Hier kann kein
Mensch Politiker werden, der sich nicht mit Geschichte brüsten
kann."
Das ist aber nur die Grundierung. Gemeinsam
mit den Nachbarn gilt es, sich von vier Jahrzehnten
Gehirnwäsche im Sinne der kommunistischen Ideologie frei zu
machen. Für den intensiven Geschichtsdiskurs in der Slowakei
fallen außerdem noch besondere Faktoren ins Gewicht. Ihre
Geschichte spielte sich bisher vor allem innerhalb zweier anderer
staatlicher Rahmen ab, Ungarn und Tschechoslowakei.
Der Historiker Du¨an Kovác meint,
die Geschichte der Slowakei ließe sich jedoch nicht mit der
Geschichte Ungarns und nach 1918 mit der der Tschechoslowakei
gleichsetzen. Andererseits dürfe sie auch nicht verengt werden
zur Geschichte der slowakischen Nationalbewegung, denn: Soll man
eine slowakische Geschichte schreiben oder eine Geschichte der
Slowakei? Eine slowakische Geschichte müsste die Nichtslowaken
ausgrenzen oder herabsetzen, würde verschweigen, dass in
Banská ¦tiavnica der slowakische Dichter Andrej
Sládkovic und der ungarische Dichter Sandor Petöfi zur
Schule gingen; dass auch Sandor Marai aus der heutigen Slowakei
stammt; dass Franz Liszt in Pressburg studierte und seine Karriere
begann; dass Franz Schubert auf dem Schloss der Eszterházys
bei ´eliezovce Jahre verbrachte und dort zum Beispiel "Die
schöne Müllerin" schrieb.
Apropos ´eliezovce/Zselis: In diesem
zweisprachigen Ort gibt es eine ulica Hviezdoslav, also eine nach
dem slowakischen Nationaldichter benannte Gasse; sie geht direkt
über in die utca Ady Endre, also die Endre-Ady-Gasse, benannt
nach dem ungarischen Dichter. Es ist eine ruhige Nebenstraße,
von Wohnhäusern mit Vorgärten flankiert, geradezu
friedlich.
Dennoch taugt dieses Bild nicht als Metapher
auf die Wirklichkeit: Sehr viele Angehörige der ungarischen
Minderheit sprechen slowakisch, nur wenige Slowaken beherrschen das
Ungarische. Dabei hat die Mehrsprachigkeit in diesem Land eine
lange Tradition. Erinnert sei nur an den Kaschauer Kalender, 1674
in der Universitätsdruckerei von Ko¨ice/Kaschau/Kassa in
Lateinisch, Deutsch, Ungarisch und Slowakisch gedruckt, oder an die
Taxa Pharmaceutica Posoniensis von Ján Justus Torkos, 1745 in
Pressburg/Pre¨porok/Pozsony (der Name Bratislava kam erst 1918
auf) in denselben Sprachen veröffentlicht.
Alte Städteverzeichnisse registrieren
die Ortsnamen in mindestens zwei Sprachen. Zahlreiche Autoren
betonen die Mehrsprachigkeit in weiten Kreisen der Bevölkerung
- auf dem Tuchmarkt von Bardejov zum Beispiel konnten die Menschen,
ob sie Slowakisch, Ungarisch, Deutsch, Polnisch oder Romanes
sprachen, sich untereinander verständigen. Und das
funktionierte wohl auf die Weise, dass die Sprecher oft im selben
Satz von einer Sprache in die andere fielen; etwas, das man heute
als code-switching bezeichnet.
Mit den verschiedenen Herrschaften, Ethnien
und Sprachen haben sich auch ganz unterschiedliche Kulturelemente
zusammen gefunden - vielleicht liegt darin der Ansatz zu einer
Erklärung, was das Geheimnis, was den Charme dieses Landes
ausmacht. Natürlich nur den Ansatz, denn das Geheimnis liegt
immer bei den Menschen selbst. Sonst müsste man zu einem
pessimistischen Ende kommen. Das 20. Jahrhundert hat
tatsächlich mit seinen entsetzlichen Vorgängen vieles von
dieser alten, historisch gewachsenen Vielfalt niedergewalzt. Und
man könnte des Weiteren aufseufzen, und erst die
Globalisierung.
Es stimmt, Bratislava ist in der schönen
neuen Welt der Handys und des Internets angekommen: Reklamen von
Nokia, Giorgio Armani, adidas, Sony, Microsoft - ob als digitales
Wechselbild auf Großwerbeflächen, ob als Firmenlogo auf
Krägen und Krawatten oder als Graffiti auf
überfüllten Trolleybussen. Die pulsierende Hauptstadt
steht für ein Land, das mit etwas Verzögerung den Weg
nach Europa eingeschlagen und inzwischen erstaunliche Erfolge
aufzuweisen hat.
Das alte Pressburg, ohnehin von
realsozialistischen Bausünden durchkerbt, wird allmählich
überwuchert von einer alles verfremdenden Rhapsodie aus Glas
und Beton und Aluminium, von einer McMixtur aus Formen, Farben und
Zeichen, verwechselbar mit der Baustelle Potsdamer Platz oder den
neuen Banlieues von Paris. Houellebeqs Ausweitung der Kampfzone
lässt sich auch als Metapher für die Osterweiterung der
EU verstehen. Die Sprache, in der sich Slowaken und Minderheiten
des Landes verständigen, ist dann eben die Sprache der
Globalisierung, nämlich das Englische.
Und dennoch: Das Land ist unverkennbar die
Slowakei, sein Geheimnis sind die Menschen, die über alle
Brüche und Katastrophen hinweg an der Physiognomie dieser
Region mitgestalten und ein ganz neues und unvergleichbares Element
in die nun erweiterte Europäische Union einbringen.
Balduin Winter, Österreicher von Geburt,
ist Redakteur der in Frankfurt am Main erscheinenden Monatsschrift
"Kommune".
Zurück zur Übersicht
|