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Torsten Wöhlert
"Ohne den privaten Mythos hält man den
Alltag gar nicht aus"
Michael Lüders' sensible und informative
Reise durch die arabische Welt
Michael Lüders ist ganz ohne Zweifel einer
der besten deutschsprachigen Kenner arabisch-islamischer Kultur und
alles andere als ein Schreibstubengelehrter. Der Mann hat eine
Weltanschauung, die frei von Ideologie auf dem gründlichen
Anschauen der Welt basiert - der eigenen wie der
arabisch-islamischen. Und er hat eine Botschaft, die schon fast
missionarischen Charakter trägt: hinsehen, zuhören,
erleben, zu verstehen suchen, sich dabei selbst befragen und erst
dann urteilen und handeln.
Lüders ist kein Kulturrelativist, dem
das Fremde um seiner selbst willen als positiver Wert gilt. Er
bezieht deutliche Positionen jenseits herrschender Extreme und
gängiger Klischees. Der Autismus politischer Islamisten
langweilt ihn ebenso wie die Selbstgerechtigkeit der
"Lordsiegelbewahrer des christlichen Abendlandes, die unentwegt von
der Verteidigung westlicher Werte schwadronieren und in erster
Linie ihre eigenen Privilegien meinen". An Huntington und seinen
Jüngern des Kulturkampfes bleibt kein gutes Haar.
Selbsternannten Nahostexperten, die einer
öffentlichen Meinung nach dem Munde reden, der zufolge der
Westen für Freiheit, Selbstverwirklichung, Toleranz und
Menschenwürde steht, die arabisch-islamische Welt hingegen
für Terror, Unterdrückung, Frauenfeindlichkeit und
Mittelalter, ergeht es nicht besser. Deutlich auch die Kritik an
den politischen Eliten in beiden Teilen der Welt und die Warnung
vor den Gefahren einer Anti-Terror-Politik, die an den Ursachen
islamistisch motivierter Gewalt vorbei geht und so der eigenen
Arroganz und Ignoranz zum Opfer fällt.
Stattdessen sucht der Autor den
interkulturellen Dialog und bietet sich dem Leser als Medium an,
indem er ihn mitnimmt auf eine sehr persönliche, mit allen
für das historische Verständnis notwendigen
Erklärungen versehene (Zeit-)Reise durch die
arabisch-islamische Welt von Syrien, über Palästina,
Israel bis in die Golfregion und Nordafrika.
Die dabei vermittelten Erkenntnisse und
Thesen sind durchaus streitbar, auch umstritten; aber nie von oben
herab, sondern immer aus tiefer Kenntnis und mit deutlicher
Sympathie für orientalische Mentalität und Lebensweise,
für eine oft im Wortsinn zwischen Stolz und Leidenschaft
zerrissene, Kultur und Lebensweise, die uns weder kalt lassen soll
noch kann. "Im Herzen Arabiens" ist ein auf großer Sach- und
Detailkenntnis basierendes Buch, in dem der Autor von seinen
Begegnungen mit der arabisch-islamischen Kultur erzählt -
immer in der Absicht, dem Leser nicht nur das Andere, das Fremde
näher zu bringen, sondern auch sich selbst, die eigene
Gesellschaft besser verstehen und beurteilen zu
können.
Lüders ist Orientalist im besten Sinne
des Wortes. Kein Scholl-Latour oder Konzelmann sondern eher ein
Edward Said mit der journalistischen Begabung eines Egon Erwin
Kisch. Lüders weiß Geschichten zu erzählen, die auf
den Punkt kommen. Er beschreibt alltägliche wie
außergewöhnliche Begebenheiten, die beim Leser mehr
Wirkung hinterlassen als manch eingeschobene Analyse.
Der Titel des Buches klingt denn auch wie ein
Roman von Karl May. Tatsächlich bekennt Lüders sich zu
den romantischen Wurzeln seiner Orientalistik. "Wer nie Karl May
gelesen hat, sollte die Finger von der Region lassen." Wie wahr. Um
sich ein Leben lang mit dem Orient zu befassen, bedarf es "starker
Bilder, einer Sehnsucht, einer Legende. Ohne den privaten Mythos
hält man den Alltag nicht aus."
Diese Haltung fließt in jede Geschichte,
jedes Portrait ein, diktiert die politische Analyse und macht das
Buch so authentisch, ehrlich und damit lesenswert. Aber auch
streitbar. Das kann nicht ausbleiben. Lüders will provozieren,
aber auf eine ebenso energische wie unterhaltsame und eigenwillige
Art. Wer im deutschen Kopftuchdisput steht, lese die Nahaufnahmen
von vier arabischen Frauen aus Marokko, Saudi-Arabien, Libanon und
dem Sudan.
Der Autor versteht sich als Dolmetscher. Das
fängt konsequenterweise bei der arabischen Sprache an, die
schwer genug zu erlernen, aber ohne kulturelle Kontextbezüge
nicht zu verstehen, geschweige denn zu übersetzen ist. Und es
setzt sich thematisch fort in analytischen Betrachtungen und
Alltagsbeobachtungen, die historische und zeitgenössische
Wurzeln frei legen und so einen neugierig-kritischen Blick auf die
scheinbar fremde arabisch-islamische Kultur erlauben.
Dabei wird kaum ein Thema ausgespart. Ob
Sexualität und Emanzipation, Menschenrechte und
Behördenwillkür, das andere Verständnis von Zeit,
Raum und Geld, die Fata Morgana der arabischen Einheit, die
Situation im Irak oder der Kampf ums tägliche Überleben
in den Elendsvierteln der arabisch-islamischen Welt: der Autor
bleibt präsent. Wir werden nicht entlassen, sondern
mitgenommen und aufgeklärt - im besten Sinne des
Wortes.
Wissenschaft, die akademisch korrekt, aber
ohne sprachlich-sinnlichen Bezug zum Adressaten im Elfenbeinturm
eigener Erkenntnis verbleibt, verfehlt nicht nur ihre Wirkung, sie
lädt überdies zum populistischen Missbrauch ein. Michael
Lüders weiß diese Klippen souverän zu umschiffen.
"Im Herzen Arabiens" ist ein fundiertes und ebenso lebendig wie
verständlich geschriebenes Buch über die Zerrissenheit
der arabisch-islamischen Kultur zwischen Tradition und Moderne.
Absolut lesenswert. Warum "Die Zeit" einen solchen Autor ziehen
ließ, bleibt allein ihr Geheimnis.
Michael Lüders
Im Herzen Arabiens. Stolz und Leidenschaft -
Begegnung mit einer zerrissenen Kultur.
Herder Verlag, Freiburg/Br. 2004;
224 S.,19,90 Euro
Torsten Wöhlert arbeitet als Journalist
in Berlin; zurzeit ist er Pressesprecher beim Berliner Kultur- und
Wissenschaftssenator.
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