Ludwig Watzal
Apathie und Radikalisierung wachsen
unaufhaltsam
Intifada und palästinensische
Gesellschaft
Der Friede in Israel und Palästina scheint in weite Ferne
gerückt zu sein. Daran ändern auch die sogenannten
diversen Friedenspläne wie Road Map, Genfer Initiative oder
Ariel Sharons einseitige Rückzugsankündigung aus dem
Gaza-Steifen nichts. Bilder von Gewalt haben sich tief ins
Bewusstsein der Öffentlichkeit eingegraben:
Selbstmordattentäter treiben ihr Unwesen und reißen
Unschuldige Israelis mit in den Tod; die Gegenmaßnahmen der
israelischen Armee bringen immer wieder Tod und Zerstörung auf
palästinensischer Seite.
Beide Gesellschaften sitzen in einer Sackgasse: Israel versucht,
sich durch Mauer und Zaun gegen den Terror zu schützen. Die
Palästinenser sind führungs- und perspektivlos, hin- und
hergerissen zwischen Gewalt und korrupter Führung.
Lätitia Bucaille, Professorin für Politikwissenschaft
an der Universität Bordeaux, schildert anhand der
Lebensgeschichten von Sami, Naiy, Bassam und anderen jungen
Kämpfern aus Flüchtlingslagern die sozialen und
politischen Spannungen innerhalb der palästinensischen
Gesellschaft, die Versuchungen des Krieges und die zunehmende
Radikalisierung. Sie versucht durch die Analyse von Frustrationen,
Wünschen und Hoffnungen, die Ursachen des Konfliktes zu
verstehen.
Schwerpunktmäßig kreisen ihre Ausführungen um die
beiden Intifadas. Weitere Kapitel befassen sich mit der
Autonomiebehörde, den Rissen in der palästinensischen
Nation und einer möglichen Trennung beider Völker. Ziel
der Untersuchung ist es, die Erfahrungen der Palästinenser in
den besetzten Gebieten darzustellen. Dies geschieht anhand von
persönlichen Biographien, um dadurch das Umschlagen des
Friedensprozesses in eine Kriegslogik zu erklären.
Die PLO verfolgte bis zur Anerkennung Israels durch ihren
Nationalkongress am 15. November 1988 in Algier eine Strategie des
bewaffneten Kampfes. Im Gegensatz dazu stellt die Strategie der
Intifada von 1987 etwas völlig Neues dar, weil sie mit der
Tradition der Gewalt brach, so die Autorin. Die Aktionen des
zivilen Ungehorsams schufen nicht nur eine Massenbasis und
Strukturen der Selbstverwaltung, sondern demonstrierten, dass es
eine palästinensische Nation mit einer eigenen Identität
gab.
Dadurch veränderte sich das Verhältnis zwischen
Besatzern und Besetzten. Des weiteren entwickelte sich ein eigener
Wertekanon, sprich "puritanische Werte" wie einwandfreier
Lebenswandel und Disziplin. Für Vergnügungen und
Zerstreuungen sei kein Platz mehr gewesen. Das Scheitern der
Intifada lag letztendlich daran, "dass die Protagonisten es nicht
verstanden haben, die nationale und soziale Dimension des Kampfes
deutlich zu machen". An Glaubwürdigkeit habe diese Bewegung
auch deshalb eingebüßt, weil der zivile Widerstand und
der begrenzte Einsatz von Gewalt einer wachsenden Brutalität
Platz machen mussten, und zwar in Form der Tötung von
Kollaborateuren. Im Gegensatz zur Al-Aqsa-Intifada beschränkte
sich die Aktivitäten auf die besetzten Gebiete, Angriffe auf
Israelis wurden abgelehnt.
Die zweite Intifada
Im Gegensatz dazu steht die zweite, die Al-Aqsa-Intifada von
2001. Sie stelle keine strukturierte Bewegung dar, an der die
gesamte palästinensische Bevölkerung beteiligt sei. Die
Träger des neuen Aufstands gehen wenig koordiniert vor, ihre
Ziele und Methoden weichen häufig voneinander ab, ein Teil ist
von ihrer Gesellschaft isoliert. Hinzu kommt, dass die
Autonomiebehörde die bewaffneten Kämpfer kaum
kontrollieren kann.
Das Scheitern der Al-Aqsa-Intifada liegt aber auch an "der
Einstellung der einflussreichen Familien, die sich hinderlich auf
die Intifada auswirkt". Sie fürchteten einen Umsturz der von
ihnen beherrschten sozialen Ordnung. Diese Klassenwidersprüche
hat es zwar schon immer in der palästinensischen Gesellschaft
gegeben, sie traten aber durch die Rückkehr Arafats und seiner
"Tunesier" deutlich zu Tage. Diese waren der ursprünglichen
Gesellschaft so entfremdet, dass sie sich hinter hohen Mauern
mondäne Villen errichteten, wohingegen ihre Landsleute in den
Flüchtlingslagern weiter dahin vegetierten.
Die Neuankömmlinge seien von der neu entstandenen
Händlerklasse mit Misstrauen betrachtet worden. Diese Klasse
war es auch, die sich mit der israelischen Besatzung arrangiert
hatte und von ihr profitierte. Gleichwohl suchte Arafat die
Unterstützung der Bourgeoisie. Die brutalen
Zusammenstöße mit der israelischen Armee habe die
nationale Solidarität in dem Maße beeinträchtigt, in
dem sich die Interessenunterschiede zwischen Mittelschichten und
bewaffneten Kämpfern vertieften, so die Autorin.
Hatte nach Bucaille die erste Intifada noch zu einer stabilen
Identität geführt, so wurde diese durch die
Einführung der Autonomiebehörde erschüttert. In der
Zeit des "unsichereren Friedens" war es ihr nicht gelungen, etwas
ähnliches der jungen Generation zu vermitteln. Das Scheitern
des Friedensprozesses habe bei der Mehrheit der Menschen zur
Apathie und zur Radikalisierung geführt. Symptom dafür
seien die Selbstmordattentate. Für die Autorin zeigt deren
Popularität, dass sich die palästinensische Gesellschaft
islamisiert. Hamas habe zwar keinen politischen Sieg errungen, aber
"es ist ihr gelungen, ihre Ideologie zu verbreiten, die im
Märtyrer ein Vorbild sieht".
Das Buch ist in weiten Teilen eine glänzende Analyse der
palästinensischen Gesellschaft, die um ihre Existenz
kämpft. Es gibt aber auch zahlreiche Passagen, die den
Eindruck erwecken, die israelische Besatzung sei doch gar nicht so
schlimm und manchmal sogar vorteilhaft für die
Palästinenser: So werden die gezielten Tötungen durch
Sondereinheiten, die sich als Araber verkleiden und die in Israel
auch "Todesschwadronen" genannt werden, als völlig legitim
dargestellt.
Auch wolle Israel die Palästinensergebiete nicht
wirtschaftlich beherrschen, sondern sei primär an seiner
Sicherheit interessiert. Israel habe ein Sicherheitskonzept
entwickelt, das in beiderseitigem Interesse liege. Die
Eingeschlossenheit in den Gebieten trage dazu bei, dass junge Leute
keine pragmatischen Positionen entwickeln könnten.
Paradoxerweise bringe die direkte Konfrontation mit Israel den
Menschen die konkrete Realität näher, nämlich die
Existenz Israels, mit dem man sich arrangieren müsse. Was wohl
die Unterdrückten zu diesen Nettigkeiten sagen würden?
Einige dieser verharmlosenden Beschreibungen israelischer
Besatzungspolitik können nur als zynisch bezeichnet
werden.
Lätitia Bucaille
Generation Intifada.
Aus dem Französischen von Ilse Utz,
Hamburger Edition, Hamburg 2004; 207 S., 16 Euro
Der Autor ist Redakteur der Beilage "Aus Politik und
Zeitgeschichte".
Zurück zur
Übersicht
|