Frauke Hamann
Lebensbedrohliche Erinnerungen
Traumaerfahrungen nach erlittener
Gewalt
Die junge beruflich erfolgreiche Frau, die ihren Körper
nicht spürt, sich Verletzungen zufügt und
schließlich nicht mehr arbeitsfähig ist, begreift im
Verlauf einer Traumatherapie die Ursache - der Großvater hat
sich an ihr als Kind vergangen. Wege aus der Angst schildert
Fälle wie diesen: "Frühes Leiden wird zur körperlich
ausgedrückten Krankheit, die aktuelles Leiden verursacht."
Die Gesellschaft hat sich der Diskussion traumatischer
Ereignisse und ihrer Ursachen gestellt, wie nicht zuletzt die
Debatte über die Holocaustopfer und ihre Nachkommen belegt.
Ereignisse wie Kriege, Katastrophen, Folter, Verbrechen oder
schwere Unfälle wirken traumatisch und halten die Betroffenen
gefangen. "Dass aber die frühe sexualisierte Gewalt und die
Vergewaltigung von Frauen die gleichen oder noch gravierendere
seelische und körperliche Folgen haben, wurde lange nicht
erkannt."
Mit dieser These beginnt Inge Olbrichts Buch. Die Autorin war
bis vor kurzem Chefärztin der Psychosomatischen Abteilung
einer Klinik in Bad Wildungen, wo sie 1987 eine Therapiegruppe
für sexuell traumatisierte Patientinnen einrichtete, die
ausschließlich von Therapeutinnen betreut wurde. In "Wege aus
der Angst" begründet sie ihr Konzept geschlechtshomogener
Gruppen, analysiert Ursachen und Folgen von Traumata, schildert
Therapieansätze und -erfahrungen. Ihr ist bewusst, dass der
Trauma-Begriff derzeit inflationär verwendet wird und
sexueller Missbrauch medienwirksames "Modethema" geworden ist.
Olbricht ächtet den Begriff "sexueller Missbrauch", weil er
verharmlose und letztlich die Täter schütze.
Vergewaltigungen oder Kindesmisshandlungen seien keine Sexualakte,
sondern besonders schwere Menschenrechtsverletzungen, ein Vehikel
für die Macht- und Zerstörungswünsche von
Tätern (etwa 80 - 90 Prozent der Täter sind Männer),
seien "sexualisierte Gewalt". Mit den gängigen Begriffen
würden die Entwicklungsstörungen, Angsterkrankungen und
Depressionen von Frauen zu individuellen Problemen gemacht und
nicht als Zeichen personaler und strukturellen Gewalt in der
Gesellschaft aufgefasst.
Olbricht stellt die schwerwiegenden Folgen sexueller Gewalt dar
und beschreibt, was im Gehirn bei einer traumatisierenden Erfahrung
geschieht. Dann stellt sie ein Drei-Phasen-Modell der
Traumatherapie vor. Die Traumaerfahrung fällt aus dem
üblichen Lebenskontext heraus, kann nicht als Wirklichkeit
erkannt werden. Sie ist deswegen nicht im biographischen
Gedächtnis gespeichert und damit durch die Erinnerung
abrufbar. Je nach Trauma und Persönlichkeit können
Wochen, Monate oder Jahre vergehen, bis sich eine posttraumatische
Belastungsstörung entwickelt: "Noch heute werden
Zusammenhänge zwischen Trauma und Lebensgeschichte oft nicht
hergestellt, wenn Inhalte und Symptome erst Jahre später
auftauchen."
Die Therapeutin beschreibt die gravierenden körperlichen
Auswirkungen von Traumatisierungen. Die Beziehungen zum eigenen
Körper sind nachhaltig gestört, da der Körper "als
Speicher das Trauma enthält". Selbstverletzungen und
Suchterkrankungen treten vermehrt auf, das Risiko eines
Suizidversuches ist zwölfmal höher. Traumatisierte seien
stets in der Erwartung der erneuten Katastrophe. Das Beispiel der
Dichterin Sylvia Plath, die mehrere Suizidversuche unternahm und
schließlich starb, zeige, dass Überlebende ständig
in der Gefahr sind, an ihrem Überleben zu scheitern.
Doch Olbricht weiß auch: "Das Trauma gibt es nicht." Sie
schildert die Selbstheilungsversuche sexuell traumatisierter
Patientinnen, macht deren Handlungs- und Kommunikationssignale
sichtbar. Konsequent weist sie die von ihr entwickelten Wege aus
der Angst: Es sei schädlich, die "Versöhnung" mit dem
Täter anzustreben. Die Autorin plädiert für
geschlechtshomogene Therapiegruppen, die eigene soziale Systeme
darstellten - nur so könnten traumatisierte Frauen für
sich selbst als Individuen sichtbar werden.
Olbricht hat sich in ihrer Arbeit auf Frauen konzentriert, die
massiv unter den seelischen und körperli-chen Folgen von
Gewalt leiden. Sie zeigt, dass dabei neue Konzepte und eine
besondere Kombinationen von Therapieverfahren und -techniken
entwickelt werden müssen. Die Fachdebatte ist unabgeschlossen,
die Definitionen sind im Fluss. Mit "Wege aus der Angst" stellt
Inge Olbricht ihre reichen Erfahrungen zur Diskussion.
Inge Olbricht
Wege aus der Angst. Gewalt gegen Frauen, Ursachen - Folgen -
Therapie.
C. H. Beck, München 2004; 240 S., 18,40 Euro
Frauke Hamann arbeitet als freie Journalistin in Hamburg.
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