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Hermann Glaser
"Was kann noch kommen?"
Eine bewegende Biographie über Jean
Améry
Im Jahre 1938 wurde er als Jude aus
Österreich verjagt. 40 Jahre später wurde er - nach
seinem tragischen Freitod - in einem Wiener Ehrengrab bestattet.
Dazwischen lag ein leidvolles Leben, wenn auch mit (späten)
großen literarischen Erfolgen. Es war das Leben eines
Zerrissenen, eines "Schiffbrüchigen", so der Titel eines
autobiographisch bestimmten Jugendromans, der ihn 20 Jahre
umgetrieben hat, ohne dass er ihn veröffentlichen konnte.
Die Rede ist von Jean Améry: Auf dem mit
Efeu überwachsenen Grabstein: Der Name; die Geburts- und
Sterbedaten; seine Auschwitznummer 172364. Dieses Brandmal am
linken Unterarm, schrieb er, lese sich kürzer als der
Pentateuch oder der Talmud und gebe doch gründlicher Auskunft,
Sie sei auch verbindlicher - als Grundformel der jüdischen
Existenz; er zeigte es mir, als ich ihn für die
"Nürnberger Gespräche" Ende der 60er-Jahre gewinnen
konnte. Er war dadurch für immer versehrt.
Die Deutschen hatten Améry nach der
Besetzung Belgiens, wohin er emigriert war, als Mitglied einer
Widerstandsorganisation schrecklich gefoltert. "Mit dem ersten
Schlag der Polizeifaust, gegen den es keine Wehr geben kann
…, endigt ein Teil unseres Lebens und ist niemals wieder zu
erwecken", hieß es später in seinem Essay "Die Tortur"
(1965). Mitte Januar 1944 wurde er nach Auschwitz abtransportiert,
wo er als Schreiber in einem Werk der I.G. Farben überleben
konnte. Anfang April 1945 kam er nach Bergen-Belsen und wurde zwei
Wochen später durch die alliierten Truppen befreit. "Das
Überstehen war ein Widersinn."
Aus solchem Leiden erwuchs diesem
Schriftsteller, der zu den bedeutendsten deutschsprachigen
Publizisten nach 1945 zählt, die Kraft, in Aufsätzen,
Vorträgen, dann in seinem Buch "Jenseits von Schuld und
Sühne" (1966) unter Zurücknahme des eigenen Erlebens das
Dritte Reich scharfsichtig zu analysieren, einen Staat, für
den "die Tortur kein Akzidens, sondern seine Essenz
war".
Nun legt Irene Heidelberger-Leonard, geboren
1944 in der französischen Emigration, Professorin an der
Université Libre de Bruxelles, eine Lebensbeschreibung
Amérys vor, die durch genaue Recherchen, die nicht einfach
waren ("ein Leben voller Lücken"), und großes
Einfühlungsvermögen besticht. Vor allem handelt es sich
um eine Biographie, welche der Leserschaft die Schriften dieses
luziden Denkers nahe bringt. Die Verfasserin ist auch die
Herausgeberin seiner seit 2003 erscheinenden "Gesammelten
Werke".
Geboren wurde Améry - er legte sich
diesen ana-grammatischen nom de plume erst 1955 zu - als Hans Maier
1912 in Wien. Im Klassenkatalog der Volksschule von Bad Ischl,
wohin die Mutter nach dem Tode des Vaters im Ersten Weltkrieg
gezogen war und bei mäßigem Erfolg eine Pension mit
Gastwirtschaft betrieb, erscheint er als Hans Mayer, ein Jahr
später als Johann Mayer. Als er wieder nach Wien kommt, wo er
das Gymnasium ohne Abschluss besucht, eine Buchhandelslehre
absolviert und erste schriftstellerische Versuche unternimmt,
zeichnet er als Hanns Mayer.
Nomen et omen insofern, als ihm, dem Juden -
1933 verließ er die jüdische Gemeinde, in die er
demonstrativ 1937 wieder eintrat -, über lange Zeit die
Identität verweigert wurde. Selbst nach 1945 hatte der
Vertriebene, Gejagte und Gefolterte zunächst Schwierigkeiten,
"sich behördlich versichern zu lassen, daß es ihn
überhaupt noch gibt. Sein einziger Ausweis ist die
?registration card' aus Bergen-Belsen".
Nach Kriegsende nahm Améry seine
schriftstellerische Tätigkeit wieder auf, was zunächst
sehr entbehrungsreich verlief - drei Artikel pro Woche brauchte er
als Existenzminimum. "Was mich angeht", so schreibt er kurz nach
dem 45. Geburtstag seinem lebenslangen besten Freund Ernst Mayer,
"so bin ich auf Moll gestimmt. Die Lebensbilanz zeigt wenig Gewinn.
Was kann noch kommen? Nichts. Man wird wursteln, geistig, seelisch,
materiell." Sein "verpatztes Schicksal" führt er zurück
auf seine "psychische und moralische Unmöglichkeit", für
Deutschland zu arbeiten.
Das änderte sich, als der Redakteur
Helmut Hei-ßenbüttel ihn 1964 für den "Radio-Essay"
des Süd-deutschen Rundfunks entdeckte und gewann. Ende der
60er-Jahre ist er ein "Medienliebling"; allein im Laufe der
intensiven Zusammenarbeit mit Hans
Paeschke, dem Herausgeber der renommierten
Zeit-schrift "Merkur" (1965 - 1978), entstehen rund 60
Beiträge. Seine Bücher, darunter "Über das Alter"
(1968) finden beste Resonanz und werden von der Kritik mit
großem Lob bedacht.
Dem Durchbruch folgt jedoch der
Zusammenbruch: Améry erleidet einen Herzinfarkt. Nach dem
"Hinuntersteigen in die Abgründe" des Alterns, nun die
"ausgewachsene Depression": Lebens- und Todesangst vereinigen sich
zu einem dumpfen Gefühl des Überdrusses und der
Kampfesmüdigkeit. Er rafft sich jedoch wieder auf, arbeitet
unermüdlich. Neue Erfolge, Ehrungen, Preise folgen. Aber die
schwere Krise schwelt weiter. Er unternimmt einen
Selbstmordversuch; 1976 liefert ein Buch der misslungenen Praxis
die Theorie nach: "Hand an sich legen. Diskurs über den
Freitod"; in sechs Wochen werden 9.000 Exemplare
verkauft.
Bei jeder Gelegenheit beklagt Améry
seine schwer geschädigte Gesundheit, vor allem das verkalkte
Herz. "Er müsse ständig um die Funktionsfähigkeit
des Kadavers bangen." Die seit längerem andauernde
Liebesbeziehung zu der Amerikanerin Mary Cox Kitaj, die er
ursprünglich als "glückliche Leidenschaft" empfand,
versetzt ihn in schwere moralische Skrupel seiner Frau Maria
gegenüber, die unermüdlich ihn umsorgende, mit ihm
selbstlos zusammenarbeitende Gefährtin seit den Tagen der Not.
Die Kritik würdigt seine belletristischen Arbeiten ("Lefeu
oder der Abbruch", 1974; "Charles Bovary. Landarzt", 1978) nicht
so, wie er es erwartet und erhofft hatte.
Er wollte immer vor allem als Dichter
anerkannt werden. All dies lässt ihn endgültig
verzweifeln. Minutiös bereitet er in Salzburg den zweiten, nun
gelingenden Selbstmordversuch vor. In einem Brief entschuldigt er
sich bei der Hotelleitung wegen wahrscheinlicher
Ärgerlichkeiten. Er erklärt den Polizeibehörden,
dass er sich freiwillig, im Vollbesitz seiner geistigen
Kräfte, den Tod gebe. Er schreibt an seinen Verleger, an
seinen treuen Lektor, an seine Frau ("Geliebtes Herzilili,
allergeliebtes, vor dem ich sterbend in Schuld knie … Ich bin
auf dem Weg ins Freie. Es ist nicht leicht, aber dennoch eine
Erlösung").
Er wurde zur Frankfurter Buchmesse erwartet.
"Als die Nachricht aus Salzburg in Frankfurt einschlug, hielt die
Frankfurter Bücherwelt eine Sekunde lang den Atem an. Kein
Nachruf, der die moralische Instanz Jean Améry als Essayisten
nicht in den Himmel hebt. Ironie der Ironie. Allein die
BILD-Zeitung verleiht ihm das Epitaph, das er so ersehnt hatte:
"?Selbstmorddichter Améry lag tot im Hotel - vergiftet!' (19.
10. 78)"
Irene Heidelberger-Leonard
Jean Améry. Revolte in der Resignation.
Biographie.
Verlag Klett-Cotta. Stuttgart 2004; 408 S.,
24,- Euro
Hermann Glaser war über viele Jahre
inspirierender Kulturreferent der Stadt Nürnberg; seitdem ist
er als Publizist tätig.
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