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Christoph Bieber
Europäischer Medienwahlkampf: Welche Themen
dominieren?
Internationaler Workshop in
Straßburg
Die Europawahl wirft ihre Schatten voraus. Während die
Parteien ihre Kandidatennominierungen abschließen und
allmählich die Riege der Spin-Doktoren und Campaigner in den
Vordergrund tritt, gehen auch in den Redaktionen der Republik die
Vorbereitungen für aufwändige "Europa-Specials" in die
heiße Phase - schließlich stehen mit dem EU-Beitritt von
insgesamt zehn neuen Ländern zum 1. Mai und der Wahl am 13.
Juni gleich zwei Großereignisse für Politik und Medien
vor der Tür. Den zu erwartenden Medienwahlkampf um Europa vor
Augen, haben sich das Gießener Zentrum für Medien und
Interaktivität (ZMI), die Bundeszentrale für politische
Bildung und der europäische Kultursender ARTE eine besondere
Strategie zurecht gelegt: Gemeinsam entwickeln sie die
Online-Plattform "www.europathemen.de", die an das erfolgreiche
Internet-Angebot "www.wahlthemen.de" aus dem Bundestagswahljahr
2002 anknüpft.
Dem Start der Website im März wurde ein Offline-Workshop
mit namhaften Europa-Experten vorgeschaltet. Während sich
andernorts Rosenmontagszüge durch die Karnevalshochburgen
wälzten, traf sich im neuen Straßburger Hauptquartier des
Kultursenders ARTE eine internationale Runde aus Europapolitikern,
Journalisten, Meinungs- und Medienforschern, um wesentliche
Gegenstände des bevorstehenden Europawahlkampfs - eben die so
genannten Europathemen - zu diskutieren. Die Leitüberlegung
des ambitionierten Projektes knüpft an die Idee an, dass die
europaweiten Wahlen im Juni eine hervorragende Folie für eine
praxisorientierte Untersuchung zum Stand der europäischen
Öffentlichkeit darstellen. In der sozialwissenschaftlichen
Forschung existiert diese Sphäre transnationaler Kommunikation
zumeist nur als Möglichkeitsraum, während empirische
Untersuchungen noch stets von einer Dominanz nationaler
Themenkonjunkturen und Medienstrukturen ausgehen. So ist die
Diskussion um das Raumschiff Brüssel in Deutschland und in
Frankreich zwar relevant, und auch im Beitrittsland Polen spielt
diese Chiffre eine große Rolle - doch im nationalen
Zusammenhang motiviert dieser Begriff völlig unterschiedliche
Lesarten: während in Deutschland Bilder des hässlichen
Zentralstaats samt diätengierigen Europapolitikern dominieren,
erwarten Franzosen von Brüssel den Erhalt und die
Stärkung kultureller europäischer
Alleinstellungsmerkmale. In polnischen Kampagnen zum EU-Beitritt
wurde die Bürokratie-Metropole dagegen als visuelle Vignette
eines schier unerschöpflichen Arbeitsmarktes der Zukunft
inszeniert.
Solchen europäischen Perspektivlagen widmete sich der
Workshop, um daraus eine Themenmatrix abzuleiten, die durch die
Online-Plattform "europathemen.de" im Vorfeld der Wahl genutzt
werden kann. Überzeugungsarbeit, dass das Internet dafür
genau das richtige Umfeld bereit stellt, war dabei kaum zu leisten
- in unerwarteter Einigkeit versprachen sich Politiker,
Journalisten, Wissenschaftler und Parteistrategen eine dynamische
und informierte Online-Diskussion.
Daniel Cohn-Bendit, zurzeit Fraktionschef der Grünen,
forderte die notwendige Emotionalität europäischer
Politikthemen, um eine "kritische Masse interessierter Bürger"
erreichen zu können. Aktuell sehe er eine solche Mischung im
Umfeld des umstrittenen Türkei-Beitritts, der
Migrationsproblematik und der gleich in mehreren Ländern
schwelenden "Kopftuch-Debatte". Was in Deutschland und Frankreich
für zahlreiche öffentliche Entrüstungsstürme
gesorgt hat, löse etwa in Großbritannien nur mehr ein
Kopfschütteln aus. Auch politikfernere Themenfelder eigneten
sich laut Cohn-Bendit durchaus zur Adressierung
grenzübergreifender, europäischer Problemlagen. So stelle
etwa der Umgang mit den zahlreicher werdenden Dopingfällen im
Hochleistungssport einen Anknüpfungspunkt zur Debatte im
europäischen Maßstab dar - "Es muss nicht immer der
Umweltschutz sein", so Cohn-Bendit, auch wenn die gerade
gegründeten "Europäischen Grünen" dieses Thema
natürlich in den Vordergrund gestellt haben.
Der französische Journalist Henri de Bresson ("Le Monde")
stellte eher strukturelle Probleme der Europäischen Union in
den Mittelpunkt seiner Überlegungen. So habe die Debatte um
die EU-Verfassung in der französischen Öffentlichkeit
sehr wohl eine wichtige Rolle gespielt und sei keineswegs nur ein
Expertenthema geblieben wie etwa in Deutschland. Der Pariser
Politologe Alfred Grosser beklagte, dass die Verfassungsdebatte,
die übrigens auch unter hoher Online-Beteiligung stattfand und
fast unausgewertet blieb, von den Regierungen sträflich
vernachlässigt worden sei - weder Chirac noch Schröder
hätten die fällige "große Rede" dazu gehalten.
Grosser erinnerte an den Satz des europäischen
Gründervaters Jean Monnet, wonach nichts ohne Menschen
geschaffen wird, aber nichts ohne Institutionen von Dauer sein
könne.
Für seinen spanischen Kollegen Fernando Vallespín ist
die Europawahl bereits jetzt in eine Abhängigkeit von den
Nationalwahlen am 14. März geraten - ganz gleich, welche
Themen eine europäische Agenda hervor bringe, im Falle
Spaniens komme die Wahl zum Europaparlament nicht über den
Status einer zeitnahen nationalen Korrekturmöglichkeit
über die im März anstehende Entscheidung über die
Aznar-Nachfolge hinaus.
Einblicke in aktuelle Befindlichkeiten in der Erweiterungszone
gab der Warschauer Publizist Adam Krzeminski ("Polytika") - er
zeichnete ein düsteres Bild von zwei sich allmählich
entfremdenden Europa-Lagern in Polen. Während sich das kurz
vor der Abwahl stehende politische Establishment EU-Mandate zum
angenehmen Karriereausklang sichern möchte, formiere sich auf
der anderen Seite eine wachsende Zahl aufgeschlossener, moderner,
vorwiegend junger Europa-Befürworter. Ganz nebenbei
stürze dieser Disput Polen in eine Diskussion über das
nationale Selbstverständnis zwischen traditionsbewusster
Agrarkultur und bildungsorientierter Wissensgesellschaft. Diese
intensiv geführte Debatte um ein nationales Leitbild
könne nicht folgenlos für die Diskussion
europäischer Politik und die Rolle Polens im neuen
Machtgefüge bleiben.
Die europäische Tour d'Horizon wurde gelegentlich
unterbrochen durch Workshop-Leiter Claus Leggewie (ZMI), der die
bewusst national gefärbten Beiträge mit den Leitfragen
nach der genuin europäischen Dimension innerhalb der
Themenvielfalt verknüpfte. Für eine empirische Erdung
sorgten Beiträge aus der Meinungs- und Umfrageforschung.
Andreas Wüst vom Mannheimer Zentrum für Europäische
Sozialforschung verwies zunächst auf die Unsicherheit und
Unkenntnis der europäischen Bürgerschaft: "Bei offenen
Fragen nach einer europäischen Politik-Agenda erhalten wir
nahezu keine sinnvollen Antworten. Erst wenn man den Befragten ein
Themensortiment präsentiert, entsteht ein Feedback." Die dabei
dominierenden Politikfelder können kaum überraschen - an
der Spitze rangieren Arbeits- und Beschäftigungsfragen, danach
folgen ungefähr gleich gewichtet "klassische" Politikbereiche
wie Sicherheit, Migration, Gesundheit oder Umwelt.
Dieter Roth, Leiter der Mainzer Forschungsgruppe Wahlen, hob
darüber hinaus die unterschiedliche Relevanz der Politikebenen
für die Bürger hervor und leitete daraus eine vorsichtige
Projektion der Wahlbeteiligung ab: "Die Zahl derjenigen, für
die in Umfragen die Politikebene Europa sehr wichtig oder wichtig
ist, ergibt in der Addition eine gute Annäherung an die
spätere Wahlbeteiligung. In aktuellen Umfragen liegt diese
Summe bei etwa 50 Prozent." Mit Blick auf den Wahlkampf machte Roth
die - mit Ausnahme der Grünen - national organisierten
Parteien als Hemmschuh für eine Akzeptanzsteigerung
europäischer Themen aus. Eine genuin europäische
Ausrichtung des Wahlkampfes würde dadurch verhindert, denn die
Parteien sähen im Europawahlkampf stets nur eine
zusätzliche Bühne für die Verhandlung nationaler
politischer Auseinandersetzungen. Trotz dieser nüchternen
Einschätzung befürwortete er aber Projekte wie
"www.europathemen.de", denn unter jungen Leuten, die sich
selbstverständlicher online politisch informieren und
beteiligen, erfreut sich Europa hoher Beliebtheit und gilt auch als
Mobilisierungsthema.
Andreas Helle (Mitglied im Planungsstab des
SPD-Parteivorstandes) erläuterte strategische Zwänge des
Wahlkampfs, aus seiner Perspektive sei die Europawahl eine lang
gezogene Mid-Term-Election nach amerikanischem Muster. Insbesondere
die Versuche der politischen Gegnerschaft, die Europawahl als
Abmahnung für eine verfehlte nationale Politik nutzen, mache
die Stärkung nationaler Themen zwingend erforderlich. Eine
Rückstellung echter Europathemen in einem solcherart über
mehrere Jahre anzulegenden wahltaktischen Strategieszenario sei der
politischen Gesamtsituation geschuldet.
Die überaus lebhafte Diskussion förderte somit
zahlreiche Impulse für den Aufbau einer Themenmatrix im
europäischen Maßstab zutage, einige Schneisen schlagen
dabei die Unterscheidungen in emotionale Themenstränge
(Kopftuch-Debatte), Strukturthemen (EU-Verfassung,
Mehrebenensystem) sowie die Sortierung entlang einzelner
Politikfelder (Ökonomie, Landwirtschaft, Bildung).
Herausgearbeitet wurden Themen, die im Bewusstsein der
europäischen Wähler nur noch gesamteuropäisch
lösbar sind (innere und äußere Sicherheit,
Agrarreform und Verbraucherschutz) und Themen, bei denen man sich -
das beste Beispiel war PISA - nationale Alleingänge nicht mehr
erlauben kann und "beste Praktiken" in anderen europäischen
Ländern zur Kenntnis nehmen muss. Mit der Identifikation
tatsächlich grenzübergreifender Themenlinien ist nur die
erste Hürde bei der Entwicklung der Online-Plattform
europathemen.de genommen.
Wie differenziert sich die Diskussion mit einer interessierten
Online-Bürgerschaft gestalten kann, zeigte die listige Frage
mit der Adam Krzeminski seine Überlegungen abrundete: "Die
Montanindustrie begründete den Zusammenhalt der
Europäischen Gemeinschaft in den 50er-Jahren - was ist das
Äquivalent dafür in der heutigen Situation?" Die
Antworten benannten den Bildungsbereich und Medienregulierung,
ebenso wie Verkehrs- und Sicherheitspolitik. Auf der Baustelle
Europa gibt es also noch viel zu tun. Das Hauptthema sollte nach
Ansicht von Alfred Grosser sein: "Seht, was Ihr an der Union schon
habt, wieviel wir schon gemeinsam bestimmen!"
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