Thomas Veser
Bulgaren und Rumänen können
grenzüberschreitend studieren
Akademischer Eisbrecher auf der Donau
Wuchtige Säulenportale im spätstalinistischen Baustil
rahmen auf beiden Flussufern die Einfahrt zur einzigen
Donaubrücke zwischen Rumänien und Bulgarien. Wer
über das 1954 eingeweihte Bauwerk fahren will, braucht Zeit,
Geduld und Geld: Bevor die exorbitanten Brückengebühren
einkassiert werden, müssen die Autofahrer stundenlang
warten.
Wie mühselig die Grenzüberschreitung 13 Jahre nach dem
Fall des Eisernen Vorhangs im Alltagsleben vonstatten geht, haben
die Austauschstudentinnen Silvia Iuga (27) aus Rumänien und
Tyurkyan Tomasheva (23) aus Bulgarien am eigenen Leib erfahren.
Während sich Silvia Iuga in der nordbulgarischen Grenzstadt
Russe vor einem Jahr in den zweijährigen Masterkurs
Europastudien eingeschrieben hat, studiert Tyurkyan Tomasheva in
Giurgiu auf der anderen Flussseite Wirtschaftsinformatik.
Dieser akademische Austausch steht mobilen Studierenden beider
Länder seit Herbst 2002 offen. Damals nahm das
"Bulgarisch-Rumänische Interuniversitäre Europazentrum"
(BRIE) seine Tätigkeit auf. Initiiert wurde die
Bildungsstätte, deren Institute für Wirtschaftsinformatik
und Europastudien sich in Giurgiu und Russe befinden, von
Deutschland. Langfristig ist vorgesehen, die Hochschule in die
Trägerschaft des Berliner Amtes für Auswärtige
Angelegenheiten überzuführen.
Aus Mitteln des Stabilitätspakts für Südosteuropa
stellte Berlin eine halbe Million Euro für die erste
grenzüberschreitende Bildungsstätte mit
universitärem Charakter in diesem Teil Europas bereit.
Ebenfalls beteiligt sind deutsche Stiftungen, darunter die
Gemeinnützige Hertie-Stiftung, die Stipendien in Höhe von
400.000 Euro vergibt. Sie wählt mit dem universitären
Zentrum für Europäische Integrationsforschung (Bonn) die
Studienkandidaten aus, kümmert sich um Gastvorlesungen und
entwickelte das Curriculum für den zweijährigen
Master-Kurs Europastudien.
BRIE, das von der deutschen Hochschulrektorenkonferenz (HRK)
koordiniert wird, steht unter der Schirmherrschaft der ehemaligen
Bundestagespräsidentin Rita Süssmuth, die bei einer
Pressekonferenz zum Abschluss des ersten Studienjahres in Russe
grosse Hoffnungen auf Südosteuropas erstes
grenzübergreifendes Hochschulinstitut setzte. Mit seinem
Ausbildungsangebot könne BRIE dazu beitragen, "dass junge
Menschen aus beiden Ländern an der Entwicklung ihrer
Randregionen aktiv mitwirken" und über nationale Trennlinien
hinweg ein "Wir-Gefühl" enstehe.
Davon ist auf beiden Seiten des breiten Donaustromes freilich
noch nicht viel zu spüren. Es gibt nur wenig Austausch
zwischen den Nachbarn, die den Entwicklungen im Nachbarland
gegenüber kaum mehr als Indifferenz an den Tag legen. Auf
Initiative der Europäischen Union ist zwischen der
südrumänischen Walachei und dem nordbulgarischen Gebiet
von Russe zwar die Euroregion Danubius gegründet worden;
über politische Absichtserklärungen, bei Wirtschaft,
Raumplanung, Umweltschutz und Tourismus künftig gemeinsam zu
agieren, ist man indessen nicht herausgekommen. Dabei leiden die
beiden Regionen nicht nur unter knappen Finanzen, es fehlen auch
qualifizierte Mitarbeiter, denen die Zentralregierungen in Bukarest
und Sofia aus Furcht vor Machtverlust nur zögernd die
nötigen Kompetenzen übertragen.
Durch die zweiseitige Universität, der nach offizieller
Darstellung die Funktion eines "Eisbrechers" zukomme, werde der
lange erwartete Ruck durch die erstarrte Grenzlandschaft an der
Donau gehen. Beim Aufbau des neuen Zentrums griff man auf bereits
bestehende nationale Bildungsstätten zurück. Die
Angel-Kanchev-Universität in Russe richtete 1993 einen auf
Europathemen bezogenen Studiengang ein, in Giurgiu hatte die
renommierte Bukarester Akademie für Wirtschaftswissenschaften
ein Wirtschaftskolleg gegründet, um dem extrem
strukturschwachen Raum südlich der Hauptstadt
bildungspolitisch den Rücken zu stärken.
Während die 180.000 Einwohner zählende Stadt Russe,
als "Rustschuk" einstmals Vorposten der österreichischen
Wirtschaftsexpansion in Richung osmanisches Reich, BRIE die
ehemalige deutsche Schule zur Verfügung stellte, mieteten die
rumänischen Partner für den Wirtschaftsinformatikkurs
Räume in einer Staatsschule an. Inzwischen erwarb man die
Wohn- und Dienstgebäude einer ehemaligen
Grenzwächterkaserne und plant ihren Umbau.
Das Lehrpersonal stammt aus Rumänien und Bulgarien,
ergänzt durch kurzzeitig tätige Dozenten, die an der TU
Chemnitz, den Universitäten Bremen und Mainz sowie der
deutsch-polnischen Europa-Universität Viadrina
(Frankfurt/Oder) angestellt sind. Zudem übertrug die
Gelsenkirchener Fachhochschule ihr Modell eines
Gründerzentrums, das in einer Textilfabrik am Stadtrand von
Giurgiu eröffnet wurde.
Die ausländischen Dozenten halten ihre geringfügig
angepassten Lehrveranstaltungen nun zusätzlich in den
Partnerländern ab. Als Verkehrssprachen wählte man
Englisch und Deutsch. Diese Sprachen müssen Bewerber
ausreichend beherrschen, außerdem muss ein mit dem
BA-Abschluss vergleichbares Diplom vorliegen.
Rund 50 Bewerber erhielten 2002 grünes Licht, rund die
Hälfte konnte das erste Jahr erfolgreich abschliessen. In
diesem Wintersemester verdoppelte sich die Zahl der
Master-Studienanfänger, deren Begeisterung sich leicht
nachvollziehen lässt.
Im dritten Semester ist ein halbjähriger Studienaufenthalt
an einer der deutschen Partner-Hochschulen vorgeschrieben, und
damit erwerben die Erfolgreichen nicht nur ein anerkanntes
rumänisch-bulgarisches Doppeldiplom, sondern zudem einen der
begehrten deutschen Abschlüsse, die in der ganzen EU anerkannt
sind. Ausserdem verfügen die Institute links und rechts der
Donau mittlerweile über Bibliotheksbestände und
IT-gestützte Zugangsmöglichkeiten, die
westeuropäischem Niveau entsprechen. Sema Ciorabai (24), die
in Giurgiu Wirtschaftsinformatik studiert, bringt es auf den Punkt:
"Wir arbeiten in Kleingruppen und schätzen den
praxisorientierten Ansatz der deutschen Dozenten."
Das hat sich offenbar in anderen Balkanländern
herumgesprochen. Zu den frisch immatrikulierten Gaststudenten
zählen neben Esiola Mllja (22) aus Albanien die slowenische
Soziologin Leja Drofenik (24) und Natascha Jovanolia (28) aus
Mazedonien. Aus dem weit entfernten Studentenwohnheim, in dem sie
sich zunächst einquartiert hatten, wollen sie möglichst
schnell heraus, um in der Stadt eine gemeinsame Wohnung zu
mieten.
Ihre Präsenz gibt der Donauhafenstadt Russe ein Bisschen
von jener multikulturellen Atmosphäre der Zeit vor den
Weltkriegen zurück, die Elias Canetti, berühmtester Sohn
der Stadt, in seiner Biographie verklärt hatte: Kaum ein Tag
sei vergangen, an dem man in den Strassen von Russe und Giurgiu,
die damals eine Einheit bildeten, nicht sieben bis acht Sprachen
vernommen hatte. Unterdessen hat sich auch die Lage an der
Donaubrücke für die Mobilitätsstudenten von BRIE
entspannt: Täglich verbinden Shuttle-Busse die beiden
Institute, zudem haben sich die Behörden beider Länder
darauf verständigt, dass bei Vorlage der Studienbescheinigung
der Brückenzoll erlassen wird.
Informationen: www.brie.ru.acad.bg
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