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Jutta Witte
Gift gleich neben der Rollbahn?
Hessen: Neuer Zündstoff wegen
Flughafenausbau in Frankfurt
Politisch ist der Ausbau des Frankfurter
Flughafens im Nordwesten des jetzigen Areals längst
beschlossene Sache. Der Erfolg des ehrgeizigen Projektes, das die
Flugbewegungen am größten Flughafen Kontinentaleuropas
auf 660.000 im Jahr erhöhen und der Rhein-Main-Region rund
95.000 neue Arbeitsplätze bringen soll, ist in diesen Tagen
jedoch alles andere als selbstverständlich. 2007 will die
Flughafenbetreiberin Fraport die neue Landebahn in Betrieb nehmen.
Der geplanten Piste jedoch steht ein als Störfallbetrieb
eingestuftes Chemieunternehmen im Weg. Notfalls will Hessens
Ministerpräsident Roland Koch die zur Celanese AG
gehörende Ticona enteignen.
Unter den 1.000 Ticona-Mitarbeitern, die im
Schnitt bereits 15 Jahre für den Kelsterbacher Chemiebetrieb
arbeiten, herrscht Nervosität. Im Falle einer Verlagerung,
sagt ihr Betriebsratsvorsitzender Axel Weidner, gingen diese
Arbeitsplätze für Westeuropa verloren. Die Ticona ist auf
Technische Kunststoffe spezialisiert, wie sie vor allem in der
Automobilproduktion verwandt werden. Im Werk lagern unter- und
oberirdisch hochgiftige Chemikalien.
Das Gefahrenpotential ist nach Ansicht der
Gutachter, die im Auftrag des hessischen Wirtschaftsministeriums
das Risiko analysiert haben, enorm. Um eine Katastrophe auf dem
Werksgelände mit seinem Borfluoridlager und seiner
Ethylenverdichterstation auszulösen würde es ausreichen,
wenn eine Flugzeugtragfläche eine Produktionskolonne streifen
würde, erklärt Jürgen Farsbotter vom
Rheinisch-Westfälischen TÜV in Essen. Wie sein Kollege
vom TÜV Pfalz, Helmut Spangenberger, spricht Farsbotter von
einem "Dominoeffekt": Sollte es zu einer Explosion in der
Hauptproduktionsanlage kommen, rechnen beide Experten mit dem
Totalverlust des Werkes.
"Ernste Gefahren" sieht Farsbotter auch
für den Umkreis des Werksgeländes. Die ausströmenden
Giftgase würden im Radius von einem Kilometer Menschenleben
bedrohen. Also entweder Ticona oder Landebahn: für die
Störfallkommission, die am 18. Februar ihr Votum abgeben hat,
gibt es keinen Zweifel, dass beides unvereinbar ist. Nach Angaben
ihres Vorsitzenden Christian Jochum würde die neue Bahn 700
Meter entfernt vom Gelände des Betriebs verlaufen, die
Flugzeuge in 60 bis 100 Metern Höhe über die Ticona oder
an ihr vorbei fliegen.
Das Risiko eines durch einen Flugzeugabsturz
ausgelösten Störfalls läge bei einem Fall in 25.000
Jahren. Weit mehr als 100 Tote allein auf dem Werksgelände
wären die Folge. "Nach internationalen Standards ist ein
solches Risiko nicht akzeptabel", betont der Chemieprofessor. Dass
es in der Bundesrepublik bislang keine gesetzlichen Vorgaben
für ein noch hinnehmbares Risiko gibt, macht die Debatte um
die Ticona in seinen Augen zu einem "schwerwiegenden
Präzedenzfall".
Die letzte Entscheidung über den Bau der
Bahn beziehungsweise eine Verlagerung der Ticona liege nun beim
Land Hessen, sagt Jochum. Während nach Einschätzung des
Fraktionsgeschäftsführers der Grünen, Frank
Kaufmann, die Nordwestvariante nach der Entscheidung der
Störfallexperten keiner rechtlichen Prüfung Stand halten
wird, halten Ministerpräsident Roland Koch und die
CDU-Landeregierung am eingeschlagenen Weg fest. "Sollte bei der
Realisierung das Ticona-Problem nicht durch geeignete
Umbaumaßnahmen zu lösen sein", ließ der
Regierungschef unmissverständlich wissen, "dann steht im
Planfeststellungsverfahren selbstverständlich auch die
Schließung des Werkes als letzte Möglichkeit zur
Verfügung."
Für eine Enteignung allerdings liegen
die juristischen Hürden zu hoch, schätzt man bei
Celanese, weil es zur Nordwestvariante eine Alternative im
Nordosten des Flughafens gebe. Das Werk stehe nicht zur
Disposition. "Kelsterbach ist der wichtigste europäische
Ticona-Standort, unverzichtbar für die Zukunftsfähigkeit
des Geschäftes", betont der Celanese-Vorstand. "Es wird Zeit,
dass Ticona sich etwas kooperativer zeigt", kontert der
wirtschaftpolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Clemens Reif. Man
müsse sich fragen, ob Ticona von Sicherheit spreche, aber
tatsächlich Entschädigung meine.
Einen Schadensersatzanspruch von bis zu 1,3
Millionen Euro soll Ticona beziffert haben. Um viel Geld geht es
auch bei der Fraport. 3,3 Milliarden Euro investiert das
Unternehmen in den Flughafenausbau. Einen dreistelligen
Millionenbetrag koste die Verzögerung des Ausbaus pro Jahr,
sollte die neue Landebahn nicht wie geplant 2007 in Betrieb gehen,
warnt nun der Fraport-Vorstandsvorsitzende Wilhelm Bender. Dennoch
sieht das Unternehmen "für eine öffentliche
Variantendiskussion keinen Anlass". Votum und Begründung der
Störfallkommission wolle man nun "eingehend wissenschaftlich
überprüfen".
Unterdessen werfen die Sozialdemokraten, die,
wie auch die Liberalen, den Ausbau des Rhein-Main-Flughafens stets
befürwortet haben, der Landesregierung vor, das Thema Ticona
verschlafen zu haben. Fraktionschef Jürgen Walter
fürchtet wegen des zu erwartenden Rechtsstreits eine
"jahrelange Verzögerung" des Ausbaus. "Allein mit
Enteignungsdrohungen" sei das Thema nicht in den Griff zu bekommen.
Überdies hält die SPD den hessischen Wirtschaftsminister,
der gleichzeitig Chef der Planfeststellungsbehörde ist,
für "überfordert".
Aloys Rhiel hatte noch während der
Anhörung der Gutachter im Landtag das prognostizierte Risiko
als "verantwortbar" bezeichnet. In einer späteren juristischen
Auseinandersetzung um den Flughafenausbau könne diese
"politische Dummheit" noch eine Rolle spielen, glauben nicht nur
die Sozialdemokraten. Auch der verkehrspolitische Sprecher der FDP,
Michael Denzin, findet, Rhiel habe nicht "die notwendige
Zurückhaltung" geübt. Hessen könne es sich nicht
leisten, die Genehmigung für den Flughafenausbau aufs Spiel zu
setzen.
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