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Hermann Glaser
Sonntagsworte und Werktage
Das Jahrbuch Kulturpolitik zum Thema
"Interkultur"
Das nun zum dritten Mal erschienene "Jahrbuch für
Kulturpolitik" ist bereits zu einem unentbehrlichen "Zentralorgan"
der Reflexion geworden. Die Ziele, die bei der Einrichtung des
Kompendiums formuliert wurden - unter anderem jeweils ein
bemerkenswertes Thema der kulturpolitischen Diskussion als
Schwerpunkt aufzugreifen, fundierte Politikberatung vorzunehmen,
wichtige Daten und Ereignisse der Kulturpolitik des abgelaufenen
Jahres zu dokumentieren sowie relevante Veröffentlichungen
aufzulisten -, wurden Jahr um Jahr auf hervorragende Weise
erreicht.
Die "Bibliographie kulturpolitischer Neuerscheinungen 2002" etwa
umfasst 43 eng bedruckte Seiten, was deutlich macht, dass der
Diskurs in Blüte steht. Die gewonnenen Erkenntnisse
können freilich, vor allem wegen der sehr knapp gewordenen
kommunalen Ressourcen, immer weniger vom Kopf auf die
Füße gestellt werden.
Plurale Identitäten
Der diesjährige Schwerpunkt "Interkultur" fasst schon im
Begriff zusammen, welche große Aufgabe uns gestellt ist:
nämlich zu einer Integration pluraler Identitäten zu
gelangen, ohne Verleugnung oder Verdrängung der jeweils
eigenen angestammten Identität. Das bedeutet eine
Auseinandersetzung mit Heimat, Fremdsein und Nationalstaat und die
Suche nach einem eigenen realistischen (realisierbaren) Standort
innerhalb einer globalisierten Welt. Immer rücksichtloser
werden die "Territorien für Seinsgewissheit" in ihrer
Selbstständigkeit (eben die "Heimaten") vor allem mit Hilfe
der Amerikanisierung eingeebnet und damit die Vielheit und Vielfalt
der Kulturen reduziert.
In der Bundesrepublik sieht sich das "Bürgerrecht Kultur" -
"Kultur für alle" konfrontiert mit einer Gesellschaft, in der
rund sieben Millionen Menschen nichtdeutscher Herkunft leben.
Hoffnung auf Heimat bedeutet, Babylon als Heimat zu begreifen.
Damit jedoch Diffusion und Konfusion nicht den Zerfall eines
friedlichen Miteinander bewirken, bedarf es großer
kulturpolitischer Anstrengungen, im Besonderen eines kommunikativen
Denkens und Handelns, um einen für alle verbindlichen
Wertekanon zu erreichen. Fundamentalismus, ganz gleich welcher
Provenienz, stellt die größte Gefährdung einer auf
der Verinnerlichung von Grundwerten, Grundrechten und
Grundpflichten beruhenden, vom Prinzip Verantwortung und
Solidarität getragenen Bürgergesellschaft dar.
Inspirierender Workshop
Wie sich im "Jahrbuch" Philosophen und Politiker,
Parteivertreter und Angehörige unterschiedlicher Ethnien,
Generationen, Disziplinen und Arbeitsbereiche unter der geschickten
Moderation der Herausgeber zu einem inspirierenden Workshop
zusammenfinden, macht in Zeiten, da man allenthalben
antizipatorische Vernunft und die Vernunft der Synthesis vermisst,
große Hoffnung. Zugleich werden die Widerstände benannt,
die den vernünftigen Weg zur interkulturellen Gesellschaft
blockieren.
In Deutschland, so Wolfgang Thierse, gehe es um die kulturelle
Auseinandersetzung zwischen dem durch die Personalisierung der
Massenmedien begünstigten Gestus autoritärer Führung
und den Werten einer demokratischen, offenen und toleranten
Gesellschaft. Kulturelle Stichworte unserer Politik müssten
sein: Die Akzeptanz des Andersseins, das Eintreten gegen jede Form
von Rassismus, die Begründung nationalen Bewusstseins im
europäischen Kontext sowie die Stärkung des
gesellschaftlichen Zusammenhalts auch dadurch, dass sich
Minderheiten mehr als bislang in Kunst und Alltagskultur
wiederfinden können.
Außerhalb des dokumentarischen und (ebenfalls wichtigen)
statistischen Teils - etwa "Wie hat sich die öffentliche
Kulturfinanzierung weiterentwickelt?" - enthält das Handbuch
viele gute Sonntagsworte. Die Werktage warten darauf, dass sie in
diesen endlich Geltung erlangen. Hermann Glaser
Jahrbuch für Kulturpolitik 2002/03.
Thema: Interkultur.
Hrsg. für das Institut für Kulturpolitik der
Kulturpolitischen Gesellschaft von Thomas Röbke und
Bernd Wagner.
Klartext Verlag,Essen 2003;
491 S., 19.90 Euro
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