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Detlev Lücke
"Opposition ist Mist. Lasst das die anderen
machen - wir wollen regieren"
Die SPD hat einen neuen Vorsitzenden und
drückt bei den Reformen aufs Tempo
Wer Metaphern brauchte für diesen
SPD-Sonderparteitag am 21. März im Berliner Hotel Estrel,
konnte sie finden. Es herrschte ein frischer Wind in der Stadt, die
Sonne versuchte immer wieder, die grauen Wolken zu durchbrechen, es
war der Tag des Frühlingsanfangs. Im Hotelsaal, einem eher
nüchternen, fensterlosen Zweckbau, gab der bisherige
SPD-Vorsitzende Gerhard Schröder nach fast genau fünf
Jahren sein Amt ab, die Delegierten dankten ihm mit reichem Beifall
und wählten mit über 95 Prozent ihren neuen Chef, den
Fraktionsvorsitzenden der Sozialdemokraten im Bundestag, Franz
Müntefering.
In ihrer Eröffnungsrede verwies die
stellvertretende SPD-Vorsitzende Heidemarie Wieczorek-Zeul darauf,
dass der Wind der Partei um die Ohren blase, dass verlorenes
Vertrauen zurückgewonnen werden müsse. Die Partei habe es
aber in ihrer 140-jährigen Geschichte immer wieder geschafft,
aus Krisen einen Neubeginn zu finden. Sie sei eine Mitglieder- und
Wertepartei, "die dem gesellschaftlichen Wandel niemals ausgewichen
ist".
Dieser notwendige Wandel, hervorgerufen durch
eine globalisierte Wirtschaftswelt und deren Herausforderungen, ist
es, der die Sozialdemokraten in eine schwierige Lage gebracht hat.
Als linke Volkspartei, die ihrer Wählerklientel beim Umbau des
Sozialstaates viel, vielleicht allzuviel, zumuten muss, ist sie in
einen schwierigen Spagat geraten. Sie hat in den Zeiten des
schmerzhaften Umbaus der sozialen Sicherungssysteme und des
Gesundheitswesens zahlreiche Mitglieder verloren und einige Wahlen.
Die Meinungsumfragen sind schlecht und haben sich erst in den
jüngsten Tagen um einige Prozent verbessert.
Dennoch war es eine große
Überraschung, als der SPD-Vorsitzende Gerhard Schröder
vor einigen Wochen ankündigte, sein Amt in die Hände von
Franz Müntefering zu legen und sich nur noch auf das Regieren
als Bundeskanzler zu konzentrieren. Dass das kein Ballast abwerfen
bedeute, unterstrich Schröder in seiner Abschiedsrede als
Parteichef. Die Agenda 2010 werde konsequent zuende geführt,
Hauptziele blieben Innovation und Gerechtigkeit. Der deutsche
Sozialstaat sei kein Fürsorge-, sondern ein Teilhabestaat,
betonte der Redner. Er zog in der Rechtfertigung seines
Regierungshandelns die Parallele zur Ostpolitik Willy Brandts, die
vor rund 30 Jahren gegen den erbitterten Widerstand der
Oppositionsparteien durchgesetzt wurde und erst nach Jahren
Früchte trug. Heute musste der Kanzler seinen Politikentwurf
allerdings auch gegen die in Teilen widerstrebenden eigenen
Parteimitglieder verteidigen. "Die Entscheidungen, die wir heute
treffen, werden sie morgen aushalten müssen", verwies
Schröder auf nachfolgende Generationen, denen der Umbau gelten
sollte. Wer den Sozialstaat umbauen wolle, müsse jedoch den
Bauplan kennen. Der scheidende Parteivorsitzende machte dabei auch
den Unterschied zu den heutigen Oppositionsparteien klar. So
würden die Sozialdemokraten die Tarifautonomie nicht antasten.
Deutschland verdanke seine Stärke unter anderem dem
konsensorientierten Handeln in den Betrieben. Heute gehe es um die
Verteidigung der Mitbestimmung auf europäischer Ebene. In
seiner Bilanz rechtfertigte Gerhard Schröder unter starkem
Beifall der Delegierten seine außenpolitische
Grundsatzentscheidung, sich nicht am Irak-Krieg zu beteiligen.
"Hätte Deutschland nicht Nein zu sagen gewagt, dann
stünden deutsche Soldaten heute im Irak."
Den alten sozialdemokratischen Satz "Wissen
ist Macht" verband der Redner mit zukünftigen Anforderungen an
die Wissensgesellschaft. Es gehe nicht nur um den Export von Waren,
sondern auch von Wertvorstellungen. "Bei allen notwendigen
Auseinandersetzungen über die Notwendigkeiten von Politik,
lasst uns nicht vergessen, auch gerecht zu sein zu denen, die
morgen im Wohlstand leben wollen. Ich möchte nicht haben, dass
unsere Kinder einmal sagen: Ihr habt zu wenig übrig gelassen,
und jetzt müssen wir auch noch die Zeche bezahlen für
etwas, das wir gar nicht bestellt haben."
Hatte Gerhard Schröder bei anderen Reden
im Berliner Estrel-Hotel oft die Delegierten beschworen und unter
rhetorischen Druck gesetzt, seinem Weg zu folgen, so schien er in
seiner Abschiedsrede gelassen zu sein, aber nicht emotionslos. Er
betonte seinen Stolz, in einer Reihe mit August Bebel und Willy
Brandt gestanden zu haben und sprach von einer neuen
Mannschaftsaufstellung in einem größeren Spielfeld.
"Franz ist für dieses Amt der Beste, den wir für unsere
Partei bekommen können", gab er den Stab an seinen Nachfolger
weiter. Stehender Applaus und vereinzelte Bravorufe waren der
Balsam für einen Vorsitzenden, dem häufig mangelnde
Einfühlung in die Seele der Partei und allzustarke
Konzentration auf das Regierungshandeln vorgeworfen worden
war.
Der ehemalige SPD-Vorsitzende Hans-Jochen
Vogel lobte Gerhard Schröder für seinen Entschluss, in
einer derart schwierigen Situation für die Sozialdemokratie
den Platz freizumachen und sich zurückzunehmen. Die Partei
dürfe die Regierungsverantwortung nicht preisgeben und
müsse mit aller Macht gegen das Entstehen einer linken
Splitterpartei vorgehen. Schon ein Prozent bei den nächsten
Bundestagswahlen für eine derartige Gruppierung könne den
Verlust der Macht bedeuten. Auch Heidemarie Wieczorek-Zeul hatte
gewarnt: "Wer links neben der SPD splittert, hilft nur der
Opposition."
Und in die Rolle der Opposition will die
Partei nicht. Franz Müntefering hat es bei seiner
Bewerbungsrede für den Vorsitz klar ausgedrückt:" Die
Opposition ist Mist, lasst das die anderen machen. Wir wollen
regieren." Dass er kein Theoretiker und Visionär, sondern ein
Realist und Pragmatiker ist, fand bei den Delegierten großen
Anklang. Allerdings stellte Müntefering zahlreiche Fragen, die
nicht rhetorisch gedacht waren. Fragen nach den Aufgaben der
Marktwirtschaft, nach den Werten der Gesellschaft, nach dem Weg zu
mehr Gerechtigkeit. Als eine der großen Zukunftsaufgaben
nannte er die Generationengerechtigkeit und den damit verbundenen
Umbau des Sozialstaates. Auch dafür fand er Sätze, die in
ihrer Geradlinigkeit und zuweilen Schlichtheit große
Zustimmung fanden, wie: "Demographische Entwicklung ist keine
Krankheit, sondern großer Fortschritt: Wir leben länger,
und das ist schön." Gründe eines derartigen historischen
Optimismus sind für Müntefering Begriffe wie
Solidarität und Politik für die Menschen. Es werde der
Weg zur Bürgerversicherung gegangen, es dürfe kein junger
Mensch in Deutschland in die Arbeitslosigkeit geschickt werden. Es
gehe um die Erhaltung der Tarifautonomie, die
Ausbildungsplatzabgabe, wo sie notwendig werde, um den
Schulterschluss mit den Gewerkschaften und die Hilfe für die
finanzschwachen Kommunen. Für dieses Angebot zum
Tätigwerden erhielt der neue SPD-Vorsitzende ein Traumergebnis
von 95,11 Prozent der Delegiertenstimmen. Sein neuer
Generalsekretär Klaus-Uwe Benneter, dessen Antrittsrede im
zunehmenden Geräuschpegel buchstäblich ertrank und der
sich mit 78 Prozent der Stimmen begnügen musste, sprach die
Hoffnung aus, dass bei der nächsten Wahl die Bilanz seiner
Arbeit bewertet werde und nicht seine rhetorischen
Leistung.
Außer der Wahl des SPD-Vorsitzenden und
des SPD-Generalsekretärs beschloss der Parteitag, der nur gut
vier Stunden dauerte, die in Bochum gefassten
Grundsatzentscheidungen zur Agenda 2010 zügig umzusetzen. Mit
dem gemeinsamen Gesang des alten Arbeiterliedes "Wann wir schreiten
Seit, an Seit" gaben sich die Teilnehmer des Sonderparteitages ihre
emotionale Marschrichtung für die schwierige Wegstrecke dieses
Jahres, das von der Bundespräsidentenwahl, der Europawahl
sowie mehreren Landtags- und Kommunalwahlen geprägt ist. Sie
werden die Bewährungsprobe für das neue Personalkonzept
sein. Schon am Tag nach der Zusammenkunft in Berlin wurde der
Partei von Arbeitgebern, die noch mehr Reformen verlangen, und von
Gewerkschaften, die dieser Entwick-lung kritisch
gegenüberstehen, der Rucksack für den kommenden Weg
gepackt. Dann wird sich zeigen, wie gut die Tandemlösung
Schröder-Müntefering funktioniert. In der ersten
Präsidiumssitzung am 22. März kündigte der neue
SPD-Vorsitzende ein Treffen mit den Spitzenfunktionären der
Gewerkschaften an. Er wird sich vielleicht an das
Hannah-Arendt-Wort erinnert haben, das er auf dem Parteitag
zitierte: "Politik ist angewandte Liebe zum Leben."
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