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"Politik ist angewandte Liebe zum Leben - eine
Wahrheit, die uns ziehen kann"
Aus der Rede Franz Münteferings
Wir müssen uns ehrlich machen, was die Situation des
Sozialstaates angeht. Der deutsche Sozialstaat ist über
Jahrzehnte und Jahrhunderte erkämpft worden, und zwar in
Antwort auf den nationalen Kapitalismus. Diesen nationalen
Kapitalismus aber gibt es nicht mehr. Es gibt jetzt die globale
Fabrik: Die Zeichnung wird in Indien gemacht, das eine
Zubehörteil wird in der Tschechischen Republik hergestellt,
und zusammengebaut wird das Ganze in Deutschland - um dann zu
sagen: made in Germany. Die globale Fabrik ist also da.
Überall auf der Welt wird international zusammengearbeitet.
Wir als Partei müssen lernen, diese Thematik der
internationalen Zusammenhänge, der Globalisierung auf die
Tagesordnung zu setzen. es gibt noch zu viele im Lande, die
glauben, man könne für Globalisierung sein oder dagegen.
Das geht aber nicht mehr. Wir werden nicht einen Graben um
Deutschland ziehen und unseren eigenen Wohlstand retten
können. (...)
Es ist nicht mehr so wie vor 50 jahren und auch nicht mehr so
wie vor 30 Jahren. Wenn wir vom europäischen
Sozialstaatsmodell reden, dann meinen wir zu oft: Hoffentlich
bleibt unser eigenes. - So wird es nicht sein: auf der ganzen Welt
sind die ökonomischen Zusammenhänge vollkommen anders als
noch vor 30 Jahren, und wir behalten dennoch unseren eigenen
Sozialstaat.(...)
Europa ist eine große Chance, die einzige Chance. Wer will,
dass Deutschland dauerhaft Wohlstandsland bleibt, muss wollen, dass
dieses Europa zusammenfindet und eine Region des Wohlstandes
wird.
Manche von der Konservativen haben geglaubt, dieses Thema
gehöre ihnen. Das ist aber nicht so. Dieses Europa ist, auch
wenn die Konservativen an vielen Stellen über Jahrzehnte
regiert haben, bestimmt von der sozialdemokratischen Idee. Das war
die Idee, mit der die Sozialdemokraten in Deutschland und anderswo
in Europa im vergangenen Jahrhundert angetreten sind. Diese
Grundidee des sozialdemokratischen Sozialstaatsmodells wollen wir
auch im Europa der Zukunft. Dieser Sockel sozialdemokratischer
Überzeugung darf nicht verloren gehen. (...)
Zum Ehrlichmachen gehört, dass wir uns darüber klar
sind, dass diese Gesellschaft in einer Phase der Orientierung ist,
dass viele Sicherheiten, die es über Jahre und Jahrzehnte
gegeben hat, so nicht mehr da sind und dass uns die
Autoritäten fehlen, die Orientierung geben. Wir sind alle
suchend. Das geht die Kirchen an, das geht die Verbände an,
das geht die Gewerkschaften an, das geht uns als Partei an. Wohin
geht der Weg in dieser Gesellschaft? Was sind die Werte, die die
Grundlage unserer Politik sind und für die Zukunft sein
müssen. Wie verstehen wir Erziehung? Was geben wir den jungen
Menschen, den kleinen Menschen zwischen uns großen Menschen,
mit auf den Weg? Was ist der gesellschaftliche Konsens als Basis
für das, was wir tun? Bei all den Details, um die wir rauf und
runter streiten, bei all den Gesetzen, die wir gemacht haben,
bleibt eine Frage immer offen - das ist nicht nur etwas, was wir
uns selbstkritisch anheften müssen; es ist eine Grundsuche in
dieser Gesellschaft -: Wohin soll dieser Weg eigentlich gehen? Das
hat ganz eng damit zu tun, dass wir eine
Kommunikationsgesellschaft, eine Informationsgesellschaft sind, in
der es Mühsal macht, im Auge zu behalten, was wichtig und was
weniger wichtig ist. Das ist kein Vorwurf an die Medien. Es ist
gut, dass es alle diese Möglichkeiten gibt. Alles Wissen
dieser Welt ist jederzeit von uns allen abrufbar. Aber auszusuchen,
was davon wichtig ist und was in den Mülleimer gehört,
das ist nicht so leicht. Die Frage, wer diese Orientierung gibt,
das ist etwas, was man nicht mit Bundesgesetzen erledigen kann.
Aber wir müssen als Partei auch über Dinge sprechen, die
man nicht mit Bundesgesetzen erledigen kann. Wir müssen den
Mut haben, in dieser Gesellschaft eine Debatte unter der
Überschrift zu beginnen: Wohin soll die Reise gehen? Was ist
soziale Marktwirtschaft heute?
Ich will, wenn Ihr mich wählt, meinen Beitrag dazu leisten,
dass soziale Gerechtigkeit und Wohlstand für alle heute und in
Zukunft in Deutschland möglich sind. Dafür will ich
werben. Dafür will ich kämpfen. Gerhard Schröder und
ich haben über diesen Vorgang gesprochen. Wir haben irgendwann
gesagt: Was ist sinnvoll zu tun? Was ist nützlich für die
Partei? Wir haben gewusst- und ich weiß es -: Es ist mit
Risiken verbunden. Manche werden versuchen, Kerben zwischen uns zu
schlagen. Das wird nicht gelingen. (...)
Ich habe ein Zitat von Hannah Arendt gelesen: Politik ist
angewandte Liebe zum Leben. Das hat mir gut gefallen: denn ich
glaube, aufgrund des politischen Alltags, der uns alle strapaziert,
wo es um Kleinigkeiten geht, wo wir uns oft auf die Nerven fallen
und oft über alle unsere Zielsetzungen in den Niederungen des
Alltags untergehen und fragen: "Kann das weitergehen, wohin wird
das führen", halte ich das für eine gute Wahrheit, eine
Wahrheit, die uns alle ziehen kann. Politik ist angewandte Liebe
zum Leben.
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