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Jeannette Goddar
"Ich krieg immer, was ich will"
Sie sind in einer Gang, sie sind jung, und sie
sind kriminell. Wie Mädchen ihre Zukunft verspielen und ihre
Hoffnung nicht verlieren
Es gibt ein Lied von Hans Scheibner, das in
einer Trabantenstadt spielt und "Sie wohnt auf dem Mond"
heißt. Darin steht ein junger Mann inmitten einer
westdeutschen Hochhaus-Siedlung der 80er-Jahre und sucht die
Wohnung seiner Angebeteten. "Erst kommen die roten Balkons",
heißt es im Refrain, "dann die gelben, die blauen, die
grünen." Das Ende vom Lied: Der Verehrer kann sich nicht
erinnern, in welchem der identischen Bauten die Gesuchte wohnt, und
zieht unverrichteter Dinge wieder von dannen.
Genau so sieht es aus, wo die 16-jährige
Manu sitzt. Von der Tischtennisplatte, auf der sie hockt, hat sie
freien Blick auf eine ganze Batterie Berliner Plattenbauten, die
sich durch nichts als die Farbe der Balkone unterscheiden. Sie
sitzt auf dem Hof einer ehemaligen Schule, der fest in der Hand der
ortsansässigen Jugend ist. Die Scheiben sind eingeschlagen,
die Türen demoliert. Unter den Büschen lagern leere
Flaschen, Kippen, Feuerzeuge, Taschentücher.
Manu sitzt inmitten von 15 Jugendlichen und
ist nicht zu übersehen. Mit ihren schwarzen lockigen Haaren
und ihrer dunklen Haut ist sie im Osten Berlins immer noch eine
echte Ausnahme. Und wenn sie irgendetwas um keinen Preis
möchte, dann so sein, wie alle anderen: Weiß. "Nigger",
sagt sie, "dit is dit Allercoolste." Warum? "Na, guck dir mal nen
Schwarzen und nen Weißen auf nem Werbefoto an. Wer sieht
besser aus? Der Nigger - na also."
Nun könnte man meinen, dass die
16-Jährige sich inmitten all der anders Aussehenden nicht wohl
fühlt. Das ist aber nicht so. Sie motzt über angeblich
rassistische Polizisten, Lehrer, Nachbarn. Auf ihre Gang, in der
sie sich eine unübersehbare Anführerinnenrolle erobert
hat, lässt sie nichts kommen. Über Freunde, sagt sie,
gehe gar nix. "Wie ne Family" sei das, immer hätten alle was
zu erzählen, jeden Tag was Neues: "Das ist Zuhause", nie im
Leben wolle sie woanders hin. Nicht zu ihrem südamerikanischen
Vater nach Kreuzberg - "kein Bock auf die ganzen Türken". Aus
Berlin weg schon gar nicht. "Das hat man ja schon mal versucht -
hat aber nicht geklappt."
Manus Einzugsbereich reicht bis zum
Supermarkt zwei Ecken weiter. Dahin geht sie, wenn sie Geld
braucht. Mit ihrer Freundin Cara oder mit ein paar Jungs im
Schlepp. Und auf der Suche nach Menschen, die ihr den Eindruck
machen, sie hätten Geld in der Tasche. Notfalls, prahlt sie,
würde sie aber auch allein "wen abziehn", und: "Glaub
bloß nich', dass ich Schiss hab."
Wenn Manu, die höchstens 1,60 Meter
groß ist, jemanden abzieht, sucht sie sich allein reisende
Passanten, am liebsten ältere Frauen. Sie zückt ein
Messer, stellt sich in den Weg, schon bekommt sie ein Portmonee.
"Easy", sagt sie - wenn da nicht die Polizei wäre, die sie
dauernd auf dem Kieker habe. Zuletzt, beschwert sie sich, habe sie
wegen "lachhafter" 30 Euro vor Gericht gestanden. "Woher soll ich
denn wissen, dass die Alte mit so wenig einkaufen geht."
Wenn Manu die Geschichte ihrer kriminellen
Karriere herunterbetet, kommt man erstens schnell durcheinander und
weiß zweitens nicht genau, ob sie die Wahrheit sagt oder sich
gerade vor ihren Freunden mächtig wichtig macht. Doch selbst
wenn nur die Hälfte stimmt, hat sie mit ihren 16 ein
erstaunliches Register an Anzeigen gesammelt. Gefährliche
Körperverletzung war angeblich schon dabei, auch Raub und
räuberische Erpressung. Meist konnte man ihr nicht viel
anhaben, weil man ihr nicht wirklich etwas nachweisen
konnte.
Will man sich mit Manu über die Frage
unterhalten, ob es nicht irgendwie unmoralisch sei, Menschen Gewalt
zuzufügen um an ihr Geld zu kommen, verläuft das
Gespräch schnell im Sande. "Ja", "nein", "irgendwie". "Aber",
und jetzt wird sie richtig ungehalten, irgendwie müsse ja auch
sie zu ihrem Recht kommen. Ihre Mutter gäbe ihr zwar Geld,
aber, natürlich, nicht genug. Und da sie gewohnt ist sich
durchzusetzen - "ich krieg immer, was ich will" ist wohl der Satz,
den sie an diesem Nachmittag am häufigsten sagt - nimmt sie
sich, was sie braucht.
Ihre eigene Familie zu bestehlen hat sie sich
vor zwei Jahren abgewöhnt. Nachdem sie dem Freund ihrer Mutter
150 Euro geklaut hatte, setzte die sie kur-zerhand vor die
Tür. Ein Taxifahrer brachte sie zum Jugendnotdienst.
Vorübergehend zog sie in eine betreute Wohngemeinschaft.
Irgendwann stand sie wieder bettelnd zu Hause vor der Tür.
"Die können mich doch nicht einfach rausschmeißen." Ihre
Mutter, sagt sie, solle sich doch freuen, dass sie wieder da
sei.
Ob das so ist, ist nicht bekannt -
schließlich hatte die Mutter schon mehrfach versucht, die
Erziehung ihrer Tochter anderen zu überantworten. Aus Manus
Sicht - oder aus jenem Teil davon, den sie preisgibt - fing alles
an, als sie 14 war. Da wurde sie beim Dealen mit Marihuana auf dem
Schulhof erwischt und flog von der Schule. Auf der neuen habe sie
sich nicht zurecht gefunden: "Da hab ich noch mehr Scheiße
gemacht als vorher." Sie kiffte und klaute, was das Zeug hielt -
bis ihre Mutter sie in ein Heim kurz vor der dänischen Grenze
steckte. Nach ein paar Wochen flüchtete sie zurück nach
Berlin. "Ich lass mich doch nicht einfach so verschicken." Auch
damals nahm ihre Mutter sie wieder auf - bis zu dem Tag mit den 150
Euro. Habe sie das verletzt, dass ihre Mutter nichts mehr mit ihr
zu tun haben wollte? Oder habe sie Verständnis? Manu antwortet
nicht. Das Gespräch sei beendet, sagt sie völlig
unvermittelt. Warum? "Kein Bock mehr."
Anstelle der Geschichte von Manu könnte
man auch die ihrer Freundin Cara erzählen. Oder die von
Hunderten anderen Mädchen in Berlin. Wenn man eine Geschichte
über Mädchen erzählen will. Will man das nicht,
bieten sich mehrere tausend Jungs an. Wirft man einen Blick in die
Statistik, sind Mädchen an der Kriminalität unter
Jugendlichen immer noch mit unter zehn Prozent beteiligt, bei
langsam steigender Tendenz. Auch ein weiteres gern verbreitetes
Klischee widerlegt der Blick auf die Zahlen: Der Jugendliche an
sich wird nicht seit Jahren immer krimineller. Allerdings: Die Zahl
der Gewalttaten steigt seit ein paar Jahren wieder, nachdem sie
Mitte der 90er-Jahre eine Zeit lang gesunken sind.
Unübersehbar ist allerdings eines: Ein
erschreckend hoher Prozentsatz der Jugendkriminalität geht auf
das Konto von ausländischen Jugendlichen. Laut der offiziellen
Berliner Kriminalitätsstatistik wurde 2003 jeder fünfte
ausländische Berliner zwischen 14 und 18 einer Straftat
verdächtigt - bei den Deutschen war es "nur" jeder Zehnte.
Drastischer noch der Unterschied bei Gewalttaten: Ausländische
Jugendliche sind - statistisch, also nicht absolut - drei bis vier
mal so häufig an Gewalttaten, Raub oder Straßenraub
beteiligt. Nimmt man die eingebürgerten Jugendlichen
nicht-deutscher Herkunft dazu, liegt ihr Anteil an der
Jugendgruppengewalt bei über 50 Prozent. All das ist zwar
erschreckend, aber nicht neu. In Berlin wie anderswo warnen einige
Kriminologen wie Sozialwissenschaftler seit Jahren davor, die
Folgen der Desintegration zu unterschätzen.
"In den 90er-Jahren ist viel versäumt
worden", sagt Stephan Voß, Leiter der Berliner
Landeskommission gegen Gewalt. "Vor lauter Furcht, rassistisch zu
argumentieren", habe man häufig darauf verzichtet,
Erklärungen dafür zu suchen, dass ausländische
Jugendliche sich immer öfter in abgeschlossenen Gruppen
organisieren und kriminell werden. Dabei ist das
Gruppenphänomen schon Teil der Erklärung: Wer sich in der
Gesellschaft ausgegrenzt fühlt, neigt stärker zum
Rückzug in eine Gruppe. Aus Gruppen heraus aber wird viel mehr
Gewalt verübt als von Einzelkämpfern.
Dazu gesellen sich eine Reihe weiterer
Erklärungsansätze, nachzulesen unter anderem in Studien
des niedersächsischen Kriminologen Christian Pfeiffer oder des
Bielefelder Sozialforschers Wilhelm Heitmeyer. Danach gesellen sich
zu aus Fremdheit resultierender Selbstabschottung faktische
Perspektivlosigkeit, oder, einfacher gesagt: Arbeitslosigkeit,
schlechte Ausbildung, Armut. Und, nicht immer, aber häufig,
ein anderes Verständnis von so etwas, was für Ehre und
Männlichkeit gehalten wird. Vor allem Jungen wird häufig
vermittelt, sie dürften keinerlei Schwäche zeigen -
müssten aber, notfalls mit fragwürdigen Mitteln,
irgendwelche Stärken an den Tag legen. Ebenso legen
wissenschaftliche Erkenntnisse beredtes Zeugnis darüber ab,
dass Gewalt in ausländischen Familien noch häufiger an
der Tagesordnung ist als in deutschen. Und die meisten Menschen,
die Gewalt ausüben, haben Gewalt selbst erlebt.
Mangelnde Integration
Seit dem massenhaften Auftauchen von
Streetgangs Anfang der 90er-Jahre ist viel passiert. Zu den
türkischen und arabischen Jugendlichen der zweiten Generation
sind Tausende schlecht integrierte Aussiedlerkinder gekommen, die
erst ihr erstes Jahrzehnt in Deutschland erleben. Und Mädchen
wie Manu. Die in vieler Hinsicht kaum deutscher sein könnte,
multikulturelle Orte wie Kreuzberg ablehnt und dennoch hart daran
arbeitet, sich trotz ihrer weißen Mutter eine möglichst
geschlossene Identität als Schwarze zu schaffen. Mindestens im
Fünf-Minuten-Rhythmus weist sie darauf hin, dass sie anders,
nämlich schwarz, also "Nigger" ist - und damit viel cooler als
die Weißen. Wenn sie einmal Mutter werde, sagt sie dann auch
noch, dann nur von "kleinen Schokokindern". Und: "Wir werden immer
mehr - aber wir sind immer noch viel zu wenige."
Für's Erste konzentriert sie sich auf
etwas Anderes: Seit vergangenem Sommer rafft sie sich - meistens -
morgens auf, einen Kurs für Schulverweigerer zu besuchen. Wenn
sie durchhält, hat sie am Ende einen Hauptschulabschluss. Und
dann? Am liebsten, sagt sie, würde sie etwas mit Heimkindern
machen, mit Kindern aus kaputten Familien. Wieso sie sich denn
ausgerechnet mit Kindern, von denen viele schwierig seien,
beschäftigen wolle? "Wieso?" fragt sie zurück, und
für einen ganz kurzen Moment sieht sie gar nicht mehr so cool
aus wie vorher: "Ich bin doch selbst ein schwieriges
Kind."
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