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Josef-Thomas Göller
"Fahrenheit 9/11": Amerika kommt nicht mehr zur
Ruhe
Die Lage in den USA vor der
Regierungsübernahme im Irak
Bilder sind es, die Amerika derzeit nicht zur
Ruhe kommen lassen. Bilder, die eigentlich keiner sehen möchte
und dank der Gnadenlosigkeit der Medien doch jeder kennt. Nicht nur
die aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib. Während die
Folterbilder immer noch die europäischen Medien in Atem
halten, zeigt sich in den USA die Tendenz, diese als "Ausrutscher"
allmählich abzutun und ihnen keine Top-Aufmerksamkeit mehr zu
zollen. Schließlich hat noch nicht einmal
Verteidigungsminister Donald Rumsfeld seinen Hut nehmen
müssen.
Doch dem nationalen Verdrängungswunsch
wird aus dem eigenen Land der Garaus gemacht. Der Regisseur Michael
Moore, in Hollywood hinlänglich als enfant terrible
verschrien, hat den Dokumentarfilm "Fahrenheit 9/11" gedreht und
dafür in Cannes die Goldene Palme erhaltent: ein neuer Schlag
in die Magengrube der verletzten amerikanischen Bürgerseele
und eine schallende Ohrfeige für Präsident George W.
Bush.
In Anspielung auf den Erfolgsroman
"Fahrenheit 451" von Ray Bradbury sowie den Tag des
Terroranschlages auf die USA am 11. September 2001, in Amerika kurz
9/11 genannt, hat Moore aus einer Fülle von Foto- und
Fernsehaufnahmen ausländischer Kameramänner, etwa des
britischen Channel Four, freier Foto-Journalisten und nicht
gesendeten Materials amerikanischer TV-Stationen, die ihm Video-
und Fotoaufnahmen heimlich zuspielten, einen "Reality-Film"
zusammengestellt. Wir sehen - in allen Details -, wie amerikanische
Soldaten und irakische Zivilisten im Feuergefecht sterben, wie ihre
Körper zerrissen werden und Fleischfetzen durch die Luft
fliegen, während aus Arterien Blut speit gleich einem Brunnen.
Fast möchte man meinen, Moores Doku ist ein Hollywoodstreifen
von Steven Spielberg. Starben so nicht auch die Kameraden von
"Private Ryan"? Doch die, die da im "close-up" krepieren, sind
echte Menschen.
Wir sehen auch einige der mehr als 4.000
amerikanischen Kriegsverwundeten, die die Regierung in
Militär-Kliniken vor der Öffentlichkeit versteckt, weil
ihre Körper, ihre Psyche zerstört sind.
Vielleicht mehr noch als die echten
Kriegsbilder, die jedoch teilweise hollywood-like wirken,
schockiert der unmittelbare Blick ins Weiße Haus. Da sieht man
einen George Bush, wenige Minuten bevor er der Nation und der Welt
via Fernsehen mitteilt, dass Amerika Saddam Hussein angreifen wird,
wie er mit der Kamera-Crew herumalbert und seine Augen spielerisch
zuhält wie ein "Kuckuck"-versteckspielendes
Kleinkind.
Fox News, das inzwischen CNN an
Zuschauerzahlen überholt hat und den Stellenwert eines
Staats-Fernsehens einnimmt, geiferte sofort: "typisch
französisch". Damit war für den Rechtsaußen-Sender
das Thema vom Tisch. Kein Wort davon, dass vier der Jury-Mitglieder
in Cannes Amerikaner waren.
Breiten Raum fand indes die Berichterstattung
über Alexandra Kerry, die Tochter des demokratischen
Präsidentschaftskandidaten John Kerry. Die 30-Jährige war
mit einem unscheinbaren Zwölf-Minuten-Film in Cannes
vertreten. Doch ihr schwarzes Abendkleid erschien im
Blitzlichtgewitter derart durchsichtig, dass die Medien Fotos von
ihr mit Blendbalken über Busen und Schoß druckten. Kein
Pluspunkt für den Daddy, der trotz des angeknockten
Präsidenten keine hohen Sympathiewerte
genießt.
Deshalb sind die amerikanischen Medien, die
sich seit eh und je offen zu einem der beiden Kandidaten bekennen,
irritiert. Die Journalisten wissen nicht mehr, wen sie
unterstützen wollen. Anders als Fox News langen die
großen Zeitungen und Sender kritisch zu. Mit
bitter-beißendem Sarkasmus stellten etwa die "New York Times"
und die "Washington Post" in langen Rezensionen und Kommentaren
fest, dass Moores Film in der ganzen Welt gezeigt werde, nur nicht
zu Hause.
So, wie jüngst der amerikanische
Kongress befand, dass die Freigabe sämtlicher Folterbilder im
Irak der Nation nicht "zugemutet" werden könne, so glaubt,
versehen mit ein wenig Druck des regierungstreuen Disney-Giganten,
in einer Art pensée unique nun auch die amerikanische
Kino-Welt, dass ein Dokumentarfilm, der über zwei Stunden
sterbende Soldaten, jammernde Mütter sowie einen feixenden
Präsidenten vorführt, keine Zuschauer finden wird.
Amerika packt sich selbst in Watte.
Kollektives Wegsehen
Vor 60 Jahren hatten die Amerikaner diese
Hemmung nicht - weil es nicht sie, sondern andere betraf. Mich
erinnert dieses kollektive Wegsehenwollen der USA an die Berichte
meines Vaters aus seiner Kriegsgefangenschaft in Fort Sill,
Oklahoma. Bis Kriegsende 1945 wurden deutsche Kriegsgefangene in
den USA überwiegend gut behandelt. Eines Morgens im Sommer
1945 jedoch gab es für sie kein Frühstück in
Speisesaal des Gefangenenlagers. Stattdessen zeigten düster
blickende Wachmänner Filmaufnahmen: aus Dachau, Buchenwald,
Auschwitz; nackte Skelette wie Abfall aufeinandergetürmt,
Gaskammern, Öfen mit Leichenteilen. Meinem Vater und seinen
Kameraden wurde übel, sie waren schockiert, aber sie
verstanden, warum ihnen Amerikaner diese Bilder
zumuteten.
Jetzt, da es um sie selbst geht, wollen
regierungsnahe Interessengruppen die amerikanische Nation der
Wahrheit lieber nicht ins Auge sehen lassen. Denn was wäre das
Ergebnis einer kritischen Selbstanalyse? Es würde offenbaren,
dass nicht der Präsident allein "kriegslüstern" war. 80
Prozent der Amerikaner und die Mehrheit im Kongress - auch ein
beträchtlicher Teil der oppositionellen Demokraten - stimmten
von Herbst 2001 bis Frühjahr 2003 der Politik von
Präsident Bush zu. Heute möchte man davon nichts wissen.
Und das alles nur aufgrund von Fotos und Videos. "Es gibt keinen
schlechten Frieden oder guten Krieg", sagte einst Benjamin
Franklin, einer der Gründerväter der USA.
Es ist Zeit für Washington, den "guten
Krieg" im Irak zu beenden. Stichtag könnte der 30. Juni sein.
Zum ersten Mal in der Geschichte des Irak soll eine freie Regierung
das Land zwischen Euphrat und Tigris regieren. Die USA haben es in
erster Linie dem UN-Gesandten Lakhdar Brahimi überlassen, jene
30 Posten zu vergeben, aus der die Übergangsregierung des Irak
gebildet werden soll. Vor kurzem zauberte er einen Kandidaten
für das Ministerpräsidentenamt hervor: den Atomphysiker
Hussain Shahristani. Seine Expertise: nichts weiter als ein Artikel
im Wall Street Journal am 29. April! Sagt der UN-Vertreter. Sonst
aber ist der stille Shahristani politisch weitgehend unbeleckt.
Vielleicht ist dies der Grund, warum das US- Außenministerium
die Nominierung unterstützt.
Die Vorteile des 62-Jährigen: Er hat
keine namhaften Gegner, und seine Vergangenheit spricht für
ihn. Er wurde von 1979 bis 1991 durch Saddam Hussein in das nun
weltweit bekannte Gefängnis Abu Ghraib gesteckt. Shahristani
hatte sich geweigert, dem Diktator seine nuklearwissenschaftlichen
Kenntnisse für den Bau von Atombomben zur Verfügung zu
stellen. Außerdem ist er Schiite und damit Repräsentant
der Bevölkerungsmehrheit des Irak und als solcher eng
befreundet mit der Grauen Eminenz des Landes, dem einflussreichen
Groß-Ayatollah Ali Sistani, ohne den keine
Übergangsregierung gebildet werden kann.
Doch bis dahin sind noch schwierige Fragen zu
klären. Die Kurden im Norden machen Trouble. Ursprünglich
war ihnen einer der beiden Vize-Präsidentenposten zugesagt
worden. Davon ist keine Rede mehr seitens der UNO. Also
beanspruchen die Kurden nun vier der mächtigsten
Ministerposten, etwa Außen- und Verteidigungsamt.
Unwahrscheinlich, dass sie beide Ministerien zugesprochen
bekommen.
Auch herrscht große Verärgerung
unter den irakischen Politikern - und der Kandidat Shahristani ist
einer der namhaftesten Kritiker -, dass die USA keinerlei Anstalten
für eine richtige freie Wahl getroffen haben. Unbestimmt ist
davon die Rede, im nächsten Jahr eine demokratische Wahl zur
Bildung einer freien irakischen Regierung durchzuführen. Bis
dahin liegt diese Entscheidung indes nicht in der Hand der von der
UNO benannten Übergangsregierung. Größter
Streitpunkt indes ist die Beschränkung des Handlungsspielraums
dieser Interimsregierung. Während der lautstarke Kriegsgegner
Frankreich im Entwurf zur UN-Resolution, die die Befugnisse der
neuen irakischen Regierung definieren soll, die totale
Handlungsfreiheit und einen echten Machtwechsel für die Iraker
fordert, tun sich die Amerikaner schwer, die Kontrolle über
das Land sowie den Einsatz ihrer Truppen aufzugeben.
Sie wollen am liebsten nur ein "bisschen"
Selbstregierung des Irak entsprechend ihren Sicherheitsinteressen.
Frankreich und teilweise der US-Alliierte Großbritannien
hingegen wollen in der anstehenden UN-Resolution einen festen
Wahltermin für Anfang 2005 festlegen sowie eine Abstimmung der
Iraker über den Verbleib ausländischer Truppen in ihrem
Land. Wie bei solchen Gegensätzen üblich, wird im
UN-Sicherheitsrat am Ende ein Kompromiss zustandekommen, der Keinem
passt, am wenigsten den Irakern. Auch wenn sich Präsident
Jacques Chirac vor der UNO als Interessenvertreter für die
Irakis aufschwingt, mutmaßen viele Iraker, dass Frankreich nur
eigene machtpolitische Spiele betreibe. Denn aufgrund der
langjährigen engen Geschäftsbeziehungen seiner
Großfirmen, insbesondere im Ölbusiness, mit Saddam, ist
manchen Irakern eine wenn auch abgespeckte Militärpräsenz
der Amerikaner für die nächsten Jahre lieber als eine
völlig souveräne eigene Regierung, die keine innere
Sicherheit des Landes garantieren kann. Dieses Manko wird noch
lange das eigentliche Problem jeder Irak-Politik bleiben. Und es
wird sich darüber erweisen, ob es den USA gelingt, die erste
funktionierende Demokratie auf arabischen Boden auf die Beine zu
stellen.
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