|
|
Heike Mätzing
Gültig gebliebener Forschungsansatz
Ehrung für den Historiker Hartmut
Zwahr
Festschriften stellen einen gebräuchlichen
Ausdruck kollegialer Wertschätzung dar. Allerdings sind sie
mittlerweile so verbreitet, dass der Grund ihrer Entstehung meist
nur beiläufig erwähnt wird. Die hier anzuzeigende
Publikation verdient hingegen aus mehreren Gründen
hervorgehoben zu werden. Der anlässlich seines 65. Geburtstags
von Ost und West geehrte, in Bautzen geborene Hartmut Zwahr war
einer der führenden Sozialhistoriker der DDR, was angesichts
der Rolle, die ehemalige DDR-Historiker in der aktuellen deutschen
Geschichtswissenschaft spielen, allein schon aufmerken
lässt.
Dabei gestaltete sich Zwahrs beruflicher
Werdegang typisch für jene Nachkriegsgeneration, deren
Bildungsweg durch die offensive Sowjetisierung der ostdeutschen
Gesellschaft und ihrer Institutionen geprägt war. Nach der
Ausbildung zum Bibliothekar und der Reifeprüfung an der
Arbeiter- und Bauernfakultät studierte der aus einer
kleinbürgerlichen Familie Stammende (der Vater war
Angestellter) in Leipzig Geschichte, Germanistik und
Pädagogik, bevor er dort 1963 mit einer Arbeit über die
antisorbische Staatspolitik im deutschen Kaiserreich promoviert
wurde. 1974 erfolgte die Habilitation mit einer Studie über
die Konstituierung des Leipziger Proletariats, die bei ihrem
Erscheinen (1978) auch in Westdeutschland aufmerksam rezipiert
wurde.
Jürgen Kocka war damals zwar nicht mit
allen Resultaten einverstanden, dennoch bezeichnete er das Werk als
"ungewöhnlich originell, gelungen und weiterführend". Die
Studie dokumentiert eine quantitative Sozialstrukturanalyse, die -
damals erstmalig in der DDR-Historiographie - auf statistischen
Massendaten basierte. Auf der Grundlage von Taufregistern und
daraus ableitbaren Patenschaftsverhältnissen untersuchte
Hartmut Zwahr den Klassenbildungsprozess unter wirtschafts-,
sozial-, kultur- und politikgeschichtlichen Aspekten.
Dabei sah er sich mit seinem methodischen
Ansatz in der Tradition von Jürgen Kuczynski, Hans Mottek und
Ernst Engelberg; er schrieb implizit jene Traditionslinie fort, die
sich seit der Wende zum 20. Jahrhundert, zumal in Leipzig, mit dem
Namen Karl Lamprechts verbindet. Von der Habilitationsschrift
Zwahrs gingen derart starke Impulse aus, dass ihr Erscheinen als
Zäsur innerhalb der DDR-Historiographie gilt.
Seit 1978 wirkte Zwahr als Professor an der
Sektion Geschichte der Karl-Marx-Universität Leipzig, wo er
1982 gemeinsam mit anderen Historikern den Leipziger
Sozialgeschichtlichen Arbeitskreis gründete. Dies ist insofern
erwähnenswert, als eine Teildisziplin Sozialgeschichte in der
DDR erst spät in Erscheinung trat.
Ausgehend von der ideologisch verbindlichen
Prämisse, dass letztlich jede marxistische Historiographie,
indem sie von der Gesellschaft, ihren Klassen und Schichten
auszugehen habe, Sozialgeschichte sei, wurde einem originären
sozialgeschichtlichen Ansatz unterstellt, er würde die
marxistische Geschichtstheorie in Frage stellen. Erst seit den
70er-Jahren, vor dem Hintergrund der Erbe- und Traditionsdebatte
und dem damit verbundenen Perspektivwechsel, gelang es den
Befürwortern einer eigenen Teildisziplin, diese Vorwürfe
zu entkräften und der "weiten" Definition von Sozialgeschichte
eine "enge" an die Seite zu stellen. Diese konnte sich nun explizit
mit der näheren Bestimmung sozialer Gruppen, Schichten und
Klassen beschäftigten, also mit Makro- und Mikrogruppen, mit
Lebensweisen, Alltag, sozialem Verhalten et cetera.
Allerdings gelang es bis zum Ende der DDR
nicht, eine entsprechende Teildisziplin auch institutionell zu
etablieren. Es basiert aber vermutlich gerade auf diesem Ansatz,
dass Hartmut Zwahr so schnell und so erfolgreich wie kaum ein
zweiter der ostdeutschen Kollegen auch in der neuen Bundesrepublik
seinen wissenschaftlichen Platz fand. So erhielt er 1992 erneut
einen Ruf an die Universität Leipzig und hatte dort bis zu
seiner Emeritierung im Jahre 2001 den Lehrstuhl für Sozial-
und Wirtschaftsgeschichte inne. Ebenso erwähnenswert ist seine
Tätigkeit als Mitherausgeber der Zeitschrift "Geschichte und
Gesellschaft".
Nicht nur diese Vita macht die Festschrift
bemerkenswert, sondern auch der Kreis der beitragenden Autoren. Der
Band vereint 46 Essays zu sozial-, struktur- und kulturhistorischen
Themen, verfasst von bedeutenden, zumeist Leipziger Kollegen und
von Novizen, die durch die Schule Hartmut Zwahrs gegangen sind. Die
Schrift gliedert sich in drei Teile, wobei der erste unter dem
Leitgedanken "Tradierungen und Interpretationen" steht. Er
enthält Beiträge von Jürgen Kocka, Hans-Ulrich
Wehler, Friedrich Lenger, Wolfgang J. Mommsen, Georg G. Iggers,
Volkmar Weiss, Wolfgang Kaschuba, Rainer Eckert und Ulrich von
Hehl. Thematisch spannt sich der Bogen dabei von der
europäischen Geschichte der Arbeit bis zum Konflikt um das
Hannah-Arendt-Institut in Dresden.
Der zweite Teil spürt "Figuren und
Strukturen" nach und subsumiert Aufsätze von Franz-Reiner
Erkens, Thomas Vogtherr, Henning Steinführer, Uwe Schirmer,
Jens Bruning, Helmut Bräuer, Manfred Rudersdorf, Manfred
Hettling, Gerhard Heitz, Karl-Heinz Blaschke, Günther
Heydemann, Thomas Keiderling, Rudolf Boch, Susanne Schötz,
Beate Klemm, Jan Havránek, Stephan Niedermeier, Arno Herzig,
Heinrich August Winkler, Kerstin Kretschmer, Hanna Haack und
Heinz-Gerd Hofschen sowie Michael Riekenberg. Diese Essays
skizzieren vor allem Gestalten aus der Zeit des 8. bis 20.
Jahrhunderts.
Der dritte Schwerpunkt fragt nach "Regionen
und Institutionen" und vereint Abhandlungen von Manfred Straube,
Markus Huttner, Andreas Schöne, Wolfgang Uhlmann, Michael
Hammer, James Retallack, Uwe John, Erhard Hexelschneider, Jens
Blecher und Gerald Wiemers, Michael Rudloff, Volker Titel, Detlef
Döring, Siegfried Hoyer, Dietrich Scholze und Thomas
Topfstedt. Hier steht vor allem die Geschichte sächsischer
beziehungsweise Leipziger Einrichtungen im 19. und 20. Jahrhundert
im Mittelpunkt. Was auf den ersten Blick wie ein "Leipziger
Allerlei" wirkt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als
ein, um im Bild zu bleiben, Lob der "Delikatessen", die Zwahr
bislang servierte:
Einerseits bestellt er mit seinen Studien
über Arbeiter und Bürgertum, über Frauen- und
Geschlechtergeschichte, über Handel, Handwerk und Gewerbe, die
Geschichte des Buchhandels oder die der Sorben ein beeindruckend
großes Feld. (Das Schriftenverzeichnis weist knapp 180 Titel
aus, von denen etwa die Hälfte nach 1990 erschien.)
Andererseits verfolgte er auf seinem wissenschaftlichen Weg schon
die Konzeptionierung einer "dialektischen Sozialgeschichte", wobei
er sich seit den 70er-Jahren, als der selektive Blick auf die
Arbeiterbewegung zunehmend einer Beschäftigung mit der ganzen
deutschen Geschichte wich, vor allem mit der Klassendialektik
zwischen "Proletariat und Bürgertum" beschäftigte. Dabei
standen bei ihm auch hier weniger die geschichtsphilosophischen
Postulate und der Erweis ihrer Richtigkeit als vielmehr die
konkreten Lebens- und Arbeitsbedingungen der Protagonisten im
Zentrum des Interesses. Personen wurden in charakteristische
Situationen und Handlungsbedingungen eingebunden, um "am Wandel der
Figuren den Wandel der Strukturen" zu verdeutlichen.
Im Titel des Buches spiegelt sich mithin
Hartmut Zwahrs wissenschaftlicher Ansatz. Dessen ungeachtet war
Zwahr jedoch durchaus von einer sozialistischen Alternative auf
deutschem Boden überzeugt, und zumindest bis zur Wende in der
DDR fühlte er sich derPrämisse vom gesellschaftlichen
Fortschritt und von der Erlangung menschlicher Freiheit
verpflichtet und verbunden, was sich nicht zuletzt auch in seinem
1990 erschienenen Werk "Herr und Knecht. Figurenpaare in der
Geschichte" par excellence ablesen lässt. Was aber diese
Forschungserträge von vielen (nicht allen!) anderen, dem
materialistischen Ansatz verpflichteten Untersuchungen
unterscheidet, ist das Faktum, dass sie auch dann noch ihre
wissenschaftliche Gültigkeit behalten, wenn sie der
politischen Setzungen entkleidet werden.
Eben darin liegt das große Verdienst
Hartmut Zwahrs, der den materialistischen Ansatz als
wissenschaftliche Methode ernst nahm und auf diese Weise
verschiedene seiner Theorieelemente für die moderne
Sozialgeschichte fruchtbar gemacht hat. Das Erscheinen dieses
Bandes lässt damit zugleich hoffen, dass der materialistische
Ansatz trotz seines langen Missbrauchs als politisches Programm in
der deutschen Historikerzunft zunehmend mehr Akzeptanz findet,
nicht zuletzt deshalb, weil es sich um ein aus dem19. Jahrhundert
überkommenes Erbteil nationaler Historiographiegeschichte
handelt.
Figuren und Strukturen. Historische Essays
für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag.
Hrsg. von Manfred Hettling, Uwe Schirmer und
Susanne Schötz. Unter Mitarbeit von Christoph
Volkmar.
K. G. Saur, München 2002; 834 S., 78,-
Euro
Zurück zur Übersicht
|