Thomas Ammer
Miese "Kundschafter des Friedens"
Erfolg, Misserfolg und Ende der
DDR-Spionage
Der Buchtitel ist der Position von Ernst Wollweber,
Amtsvorgänger Erich Mielkes als Staatssicherheitsminister,
1955/56 über den Vorrang der "Westarbeit" im MfS entnommen.
Zwar wurde diese Position schon 1957 auf Veranlassung Ulbrichts
zugunsten einer Aufwertung der inneren Repression verlassen, die
"Westarbeit", vor allem Spionage und Spionageabwehr, blieb aber -
nicht zuletzt eng verknüpft mit der Bekämpfung der
Opposition in der DDR - ein zentrales Tätigkeitsfeld der
"Staatssicherheit". Hauptgegner war die Bundesrepublik Deutschland,
und dieser Schwerpunkt ist Gegenstand des vorliegenden Sammelbandes
mit 21 überarbeiteten Referaten in einer Tagung der Abteilung
Bildung und Forschung der "Gauck-Behörde" im November
2001.
Nach der Lektüre erscheint der Ruhm der MfS-Spionage
erheblich angekratzt. Manfred Görtemaker stellt in seinem
Beitrag über den deutschland- und ost-west-politischen
Hintergrund die innerdeutsche "Normalisierung" nach dem
Grundlagenvertrag heraus, die angesichts der Verstärkung der
Westarbeit des Mielke-Apparats gegen die Bundesrepublik und
generell seines Ausbaus in der Entspannungsphase ab Mitte der
70er-Jahre eher skeptisch zu bewerten ist.
Die von Thomas Auerbach beschriebenen Sabotage- und
Terrorstrategien sowie ihre Planungen gerade in der Spätphase
der DDR können diese Skepsis nur bestärken. Wohl gab es,
vor allem im ersten Jahrzehnt der DDR, eine "Strategie der
Befreiung", von der Bernd Stöver interessante Details
berichtet, aber sie konnte an Opposition und Widerstand
überall im sowjetischen Machtbereich anknüpfen, und so
sind Gegenmaßnahmen des MfS (Aktion "Blitz") vor allem Teile
der Repression des "inneren Feindes" in der DDR.
Zum politischen Hintergrund gehört auch der von Karl-Rudolf
Korte geschilderte Regierungsstil von Helmut Kohl ("System Kohl",
"personenbezogene Arbeitsweise" des Kanzlers), der es dem MfS
unmöglich gemacht habe, die Regierungspolitik zu beeinflussen.
Restlos überzeugt das nicht, wenn man etwa an das Mitschneiden
der Telefonate Kohls denkt.
Die meisten Beiträge von Referenten der BStU, der
Nachrichtendienste der Bundesrepublik und des Bundeskriminalamts
befassen sich mit den früheren und heutigen Erkenntnissen
über die DDR-Spionage. Ein Schwerpunkt sind die 1998
entschlüsselten SIRA-Daten über die Spionageergebnisse
der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) und die
"Rosenholz"-Unterlagen (insbesondere Personenkartei der HVA und
ihre IM-Statistik), deren Rückführung aus den USA
kürzlich abgeschlossen wurden.
Die Enttarnung des Agentennetzes des MfS ist nahezu
vollständig gelungen, wobei neue Erkenntnisse infolge
Verjährung kaum noch juristische Konsequenzen haben
können. Generell ist das Bild im Westen über die
DDR-Spionage heute recht präzise und detailliert. Aussagen
über Erfolge und Misserfolge der Spionageabwehr gegen das MfS
und bei dessen Auflösung stehen nebeneinander, zum Beispiel
gelungene Abwehr und zugleich schwerwiegender Verrat durch
"Maulwürfe" (Dirk Dörrenberg, Bundesamt für
Verfassungsschutz/BfV; Rainer O. M. Engberding, Bundeskriminalamt),
über 150 Informanten aus dem ehemaligen MfS für das BfV
und unerschütterliche "Loyalität" anderer MfS-Offiziere
gegenüber der Sowjetunion noch heute (Dörrenberg; Joachim
Lampe, Generalbundesanwaltschaft).
Die These von Ullrich Wössner (BND), alle in den Westen
gereisten DDR-Bürger hätten "zwangsläufig mit dem
MfS in Kontakt" gestanden, überzeugt in ihrer
Undifferenziertheit nicht; vor allem in der Endzeit der DDR bestand
der "Kontakt" in der Regel nur in der Genehmigung der Reise durch
das MfS. Und sollten am Ende der DDR wirklich "neun von zehn
DDR-Quellen des BND 'auf zwei Schultern getragen'" haben, ist dies
ungeachtet freundlicher Worte Wössners an die Adresse dieses
Personenkreises noch nachträglich Anlass für
Missbehagen.
Eine spannende Lektüre sind die Referate über die
MfS-Spionage in Wissenschaft und Technik. Dem MfS gelang die
Beschaffung einer Unmenge von Material, die seine
Auswertungskapazitäten oft überstieg, und vieler
Embargogüter. Aber das System der Planwirtschaft, gepaart mit
überzogener Geheimniskrämerei und Misstrauen
gegenüber den eigenen Wissenschaftskadern, war ein
entscheidendes Hindernis für die effektive Nutzung der
Spionageausbeute.
Die Kosten der "Beschaffung" waren immens, und nicht selten
wurde "illegal" zu überhöhten Preisen "Embargo"-Ware
erworben, die tatsächlich keinem Embargo unterlag und legal
weit billiger zu haben war. Zuweilen ist das MfS regelrecht
übers Ohr gehauen worden, etwa finanziell von dubiosen
Vermittlerfirmen, durch Lieferung manipulierter, also unbrauchbarer
Computer, und es kam auch vor, dass Kisten ankamen, die mit Sand
anstatt wertvoller Elektronik gefüllt waren (Jörg
Roesler; Reinhard Buthmann, BStU; Kristie Macrakis, Michigan State
University).
Die erst seit kurzer Zeit zugänglichen Unterlagen (zum
Beispiel "Rosenholz") ermöglichen weitere Forschungen
über Strukturen und andere Details der DDR-Spionage.
Möglich und notwendig, um dem von führenden früheren
MfS-Offizieren verbreiteten Nimbus von der friedensfördernden
und angeblich sauberen Arbeit der "Kundschafter des Friedens" zu
begegnen, sind Forschungen über die Zuarbeit des
Spionageapparats für die innere Repression in der DDR, etwa
"Zersetzung" Oppositioneller und Jagd auf Fluchtwillige.
Der Sammelband vermittelt dem Leser umfassende und zugleich
kompakte Kenntnisse über die komplizierte Materie der
"Westarbeit" des MfS und ist daher ein wichtiges Hilfsmittel
für die politische Bildung zu diesem Thema!
Geord Herbstritt/Helmut Müller-Enbergs (Hrsg.)
"Das Gesicht dem Westen zu..." DDR-Spionage gegen die
Bundesrepublik Deutschland.
Wissenschaftliche Reihe "Analysen und Dokumente" der BStU., Band
23.
Edition Temmern, Bremen 2003; 456 S., 22,90 Euro
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