|
|
Karl-Otto Sattler
Europas Parlamentspräsidenten fordern mehr
Einfluss für die Volksvertretungen und mehr
Bürgerbeteiligung
Mehr Interesse an Politik durch E-Voting und
Wahl-Lotterie?
Ein Gespenst geht um in Europa: In vielen Ländern sinkt die
Wahlbeteiligung, und ein Ende dieses Abwärtstrends ist nicht
abzusehen. Diese Tendenz macht natürlich vor allem den
Parlamenten zu schaffen, deren politische Legitimation
schließlich in der Stimmabgabe der Bürger wurzelt. Lange
Zeit wurde die niedrige Quote mit einem Satz des Bedauerns an
Wahlabenden kommentiert, und damit war diese leidige Angelegenheit
bis zum nächsten Urnengang abgehakt. Nun aber wachen
Politiker, Parteien und Wissenschaftler nach und nach auf; auch die
Volksvertretungen selbst treibt diese Malaise inzwischen um.
Vor einigen Jahren wäre es noch nicht denkbar gewesen, dass
ein internationaler Kongress von Parlamentspräsidenten wie
jetzt in Straßburg beim Europarat die spürbar abnehmende
Wahlbeteiligung zu einem seiner Themen macht. Peter Schieder
(Österreich), Präsident der Parlamentarischen Versammlung
des Staatenbunds, sieht in dieser Entwicklung eines der zentralen
politischen Probleme auf dem Kontinent: Die Volksvertretungen
müssten "sich dem Rückgang der Wahlbeteiligung und dem
mangelnden Vertrauen der Öffentlichkeit in die politischen
Institutionen stellen".
Rund 50 Parlamentsvorsteher aus ganz Europa sowie einige
Forscher suchten unter dem Motto "Das Europa der Bürger:
Parlamente und Bürgerbeteiligung" nach Wegen aus dieser
Misere. Eine wesentliche Aufgabe formulierte
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse so: "Es muss gelingen,
die Rolle des Europäischen Parlaments und der nationalen
Parlamente spürbar zu stärken und die Transparenz der
Entscheidungen zu erhöhen." In der Tat hängt die
politische Ausstrahlungskraft der Volksvertretungen entscheidend
von ihrer Macht und ihrem Einfluss ab. Doch es läuft
andersrum: Die Diskutanten im Palais d'Europe führten beredt
Klage über den Kompetenzverlust der Parlamente.
Schieder benannte einige Phänomene dieser Verwerfungen
zuungunsten der Abgeordnetenhäuser: Die wirtschaftliche
Globalisierung und die Medienkonzentration bleiben nicht ohne
Auswirkung, die terroristischen Bedrohungen haben die Position der
Exekutive gestärkt, auf internationaler Ebene haben starke
Länder und deren Regierungen das Sagen. Der
österreichische Politiker nimmt auch den Europarat von Kritik
nicht aus: In dessen Statut ist immer noch festgeschrieben, dass
die mit Delegationen aus 45 nationalen Parlamenten bestückte
Deputiertenkammer im Willensbildungsprozess des Staatenbundes
lediglich eine beratende Funktion hat. So verlangt Schieder denn
auch die Tilgung dieser Passage und ein größeres Gewicht
für das Abgeordnetenhaus im Machtgefüge des Palais
d'Europe.
Aus Sicht des italienischen Politik-Professors Philippe
Schmitter ist "das Prestige der Parlamente generell gefallen". In
vielen Ländern verzeichneten zudem die Parteien
Mitgliederrückgänge. Die Bürger nähmen bei den
Parteien, die alle zur politischen Mitte tendierten, nur sehr
geringe Unterschiede wahr. In einem solchen Befund schwingt
unausgesprochen die Frage mit, warum man sich unter diesen
Vorzeichen für die eine und gegen die andere politische
Formation entscheiden soll. Der Wissenschaftler aus Florenz: "Die
Menschen verwenden ihre Stimme, um eine Politik zu verurteilen, und
nicht, um für ein Programm zu stimmen." Ins Gewissen redete
Borut Pahor, Präsident der slowenischen Volksvertretung, den
Abgeordneten: "Der Ruf eines Parlaments hängt nicht von
Presseberichten ab, sondern von dessen Arbeit."
Skeptisch zeigte sich Wolfgang Thierse bei seinem Auftritt vor
dem Straßburger Auditorium gegenüber Volksabstimmungen
als einem Instrument stärkerer Bürgerbeteiligung,
weswegen sich der Bundestagspräsident auch entschieden gegen
ein Plebiszit über die EU-Konstitution wandte. Es sei "kein
Demokratiedefizit" zu erkennen, wenn über diese Verfassung in
einem Parlament und nicht bei einem Referendum beschlossen werde.
Nie zuvor, sagte der SPD-Politiker, hätten frei gewählte
Parlamentarier "so unmittelbar an der Gestaltung des
europäischen Primärrechts mitwirken" können.
Entscheidend für die Identifikation der Bürger mit der EU
werde sein, "ob die Verfassung in der Praxis tatsächlich zu
mehr konkret erfahrbarer demokratischer Teilhabe führt". Und
die, so Thierse, solle man nicht allein an der Existenz
plebiszitärer Elemente messen. Dem Bundestagspräsidenten
kommt es eben vor allem darauf an, die Parlamente auf nationalem
und europäischem Niveau aufzuwerten.
Eine solche Forderung stößt bei den Abgeordneten
zwischen Atlantik und Kaukasus gewiss auf offene Ohren. Schön
klingt auch die Feststellung Peter Schieders, nationale und
internationale Volksvertretungen sollten enger kooperieren. Indes
sind mit der fortschreitenden europäischen Integration auch
zunehmende Konflikte zwischen den parlamentarischen Ebenen
programmiert. Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips in
der EU-Verfassung ist für Thierse "ein außerordentlicher
Erfolg". Künftig werden die nationalen
Abgeordnetenhäuser, sofern sich 30 Prozent der 25
Volksvertretungen in der EU auf einen solchen Schritt
verständigen, Verstöße gegen die Subsidiarität
geltend machen können - ein Aufbegehren, das sich dann nicht
nur gegen die Brüsseler Kommission, sondern auch gegen das
EU-Parlament als Teil der EU-Entscheidungsstruktur richtet.
Philippe Schmitter schlug bei der Straßburger Konferenz das
Modell der "Gelben Karte" vor: Parlamente vom lokalen über das
regionale bis zum nationalen Niveau sollten der jeweils
nächsthöheren Instanz eine "Gelbe Karte"
präsentieren können, um so im Falle einer
unzulässigen Einmischung in das basisnähere Gremium eine
Rechtfertigung für diesen Eingriff erzwingen zu können.
Der italienische Forscher will dieses System nicht als juristisches
Instrumentarium, sondern als verbindlich vereinbarten politischen
Mechanismus verstanden wissen. Joao Bosco Mota Amaral,
Präsident des portugiesischen Abgeordnetenhauses, mahnte
internationale Deputiertenkammern und "besonders das EU-Parlament",
die nationalen Volksvertretungen nicht zu missachten.
Mit Blick auf mehr Bürgerbeteiligung und auch auf eine
Aufwertung der Parlamente werden große Hoffnungen auf moderne
Technologien, auf das Internet und auf das E-Voting als
elektronische Abstimmung vom heimischen Computer aus gesetzt. All
das läuft unter dem Oberbegriff "E-Governance". Ene Ergma,
Präsidentin des estnischen Abgeordnetenhauses, gerät
schon fast ins Schwärmen über diese neuen Perspektiven:
Die Arbeit in den Volksvertretungen werde vereinfacht und billiger,
man könne die Parlamente der Bevölkerung
näherbringen, die Demokratie werde transparenter, die
Bürger könnten sich intensiver in den politischen
Meinungsbildungsprozess einbringen. Max Binder, Vorsteher des
Schweizer Abgeordnetenhauses, gab sich in Straßburg
überzeugt, dass sich in seinem Land die Volksabstimmung via
Internet in den nächsten zehn Jahren durchsetzen werde. Einige
lokale Referenden seien bereits mit Hilfe auch des E-Votings
abgewickelt worden. So könne man, hofft der
eidgenössische Politiker, auch die Wahlbeteiligung
steigern.
E-Governance noch unterentwickelt
Allerdings ist die "E-Governance" in Europa noch nicht weit
gediehen, wie der Genfer Wissenschaftler Alexander Trechsel bei
Untersuchungen ermittelte. Zwar seien inzwischen alle Regierungen
im Internet vertreten, doch richteten sich diese Dienste oft mehr
an die Wirtschaft und weniger an die Bürger. Die Qualität
der Internetpräsentationen sei in den einzelnen Staaten recht
unterschiedlich. Die Regierungen böten der Bevölkerung in
erster Linie Informationen an, unterentwickelt hingegen seien die
"interaktiven Kommunikationsformen". Trechsel: "Die
Diskussionsforen, in denen sich die Bürger zu politischen
Themen äußern können, werden derzeit kaum
besucht."
Mit einem unkonventionellen Vorschlag zur Erhöhung der
Wahlbeteiligung überraschte Philippe Schmitter die in
Straßburg versammelten Parlamentspräsidenten,
nämlich mit der Idee einer "Lotterie für Wähler":
Jeder, der bei Urnengängen seine Stimme abgibt, erhält
ein Los und hat so die Chance, einen Preis zu gewinnen. Worin
dieser Preis bestehen soll, ließ der italienische Professor
offen
Zurück zur
Übersicht
|