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Oliver Heilwagen
Reden wie in England
"Jugend debattiert" schlagfertig und mit
Leidenschaft
Die Kunst der freien Rede ist nicht gerade eine
deutsche Nationaltugend. Hierzulande werden Referate meist vom
Blatt abgelesen: Was auf dem Papier noch elegantes Schriftdeutsch
war, wirkt im Vortrag oft hölzern und schwer
verständlich. Auch die zahllosen Podiumsdiskussionen und
Talkshows hören sich kaum besser an. Entweder geraten sie zu
langatmigen Verhören, bei denen die Teilnehmer der Reihe nach
abgefragt werden, oder sie fallen sich gegenseitig ins Wort und
reden aneinander vorbei, um sich selbst darzustellen. Das ist kein
Wunder: Das Vermögen, in freier Rede und Gegenrede ein Thema
zu entwickeln und dabei die Regeln guter Gesprächsführung
zu beachten, wird im deutschen Bildungssystem kaum vermittelt.
Im Gegensatz zum angelsächsischen Raum:
Dort treten viele Schüler und Studenten so genannten "debating
societies" bei. In diesen Zirkeln feilen sie an ihren rhetorischen
Fähigkeiten, um dann bei öffentlichen
Streitgesprächen ihre Meinung möglichst überzeugend
zu vertreten. Dieses Vorbild muss Bundespräsident Johannes Rau
im Sinn gehabt haben, als er vor drei Jahren den Bundeswettbewerb
"Jugend debattiert" ins Leben rief, der von vier Stiftungen und den
Kultusministerien der Länder getragen wird. "Wir Deutschen
haben da ein Defizit", erklärte Rau zur Eröffnung des
Bundesfinales am 16. Mai im Berliner Haus des Rundfunks: "Bei uns
gilt die Rhetorik als Spezialdisziplin für Pfarrer,
Anwälte und Gutachter."
Das soll "Jugend debattiert" ändern. Der
Wettbewerb verschafft eloquenten Heranwachsenden ein großes
Publikum: Rund 500 Zuhörer und eine hochkarätig besetzte
Jury verfolgten die Wortwechsel der acht Finalisten. Kein Wunder,
dass sie vor dieser imposanten Kulisse mächtig aufgeregt
waren. Beim Betreten des Saals habe er sich als erstes gefragt, "wo
meine Plastiktüte ist", bekannte der 14-jährige Valentin
Jeutner aus Hamburg: "Mir war so schlecht." Seine Sorge erwies sich
aber als grundlos. Mit seiner Schlagfertigkeit hatte er nicht nur
die Lacher auf seiner Seite, sondern auch die Schiedsrichter: Sie
kürten ihn am Ende zu einem der beiden Bundessieger und
bestätigten damit unwissentlich Raus Theorie. Jeutner ist Sohn
eines Pastors: "In unserer Familie wird viel
diskutiert."
Doch der jüngste Bundeswettbewerb ist
keine elitäre Angelegenheit für hochbegabte
Quasselstrippen. Nach dem Vorbild von "Jugend forscht", "Jugend
musiziert" und "Jugend trainiert für Olympia" zielt er auf
Breitenwirkung. An dem Auswahlverfahren beteiligten sich im
laufenden Schuljahr rund 30.000 Schüler und 1.000 Lehrer an
300 Schulen bundesweit; im Vorjahr lag die Teilnehmerzahl noch bei
der Hälfte. Jeweils drei Schulen werden zu einem Verbund
zusammengefasst.
Das System setzt auf das Wechselspiel von
Training und Wettkampf: Zunächst erhalten die Lehrer eine
Fortbildung und vermitteln ihr Wissen ihren Schülern. Die
beiden Klassenbesten treten in Debatten ihres Schulverbunds an. Wer
sich hier und später auf Landesebene durchsetzt, wird mit
einem dreitägigen Rhetorik-Training durch Profis belohnt. Den
Bundessiegern winkt der Hauptpreis: ein einwöchiges
Rhetorik-Seminar mit prominenten Gästen.
Dabei ist das Reglement genau festgelegt: In
jeder Debatte diskutieren vier Schüler über eine
vorgegebene Frage, die sie bejahen oder ablehnen müssen. Nach
zweiminütigen Eingangsstatements unterhält sich das
Quartett zwölf Minuten lang, wobei sie unter sich ausmachen,
wer das Wort ergreift. Danach fasst jeder Teilnehmer in einer
Minute das Gesagte zusammen. Er darf seinen Standpunkt auch
ändern - durch den Gesprächsverlauf ausgelöste
Lernprozesse sind gestattet und erwünscht. Ein Wecker wacht
über die Einhaltung der Redezeit: Er klingelt unbarmherzig,
wenn sie vorbei ist.
Dieses schrille Geräusch gab auch der
Endausscheidung den Takt vor. Doch das irritierte die Finalisten
nicht: Sie glänzten durchweg mit kurzen Wortbeiträgen,
die sich auf das Wesentliche konzentrieren. In der ersten Runde
debattierten vier Schüler der Klassen acht bis zehn über
die Frage, ob man gegen die Unsitte des Schuleschwänzens
härter als bislang vorgehen sollte. Dabei verblüffte die
wortgewaltige Leidenschaft, mit der sie über Vor- und
Nachteile von schärferen Maßnahmen gegen Lernunwillige
stritten - offenbar schöpften sie aus eigener Erfahrung. Daher
lobte der Publizist Wolf Schneider, sonst für seine
scharfzüngige Kritik bekannt, als Juror ihre
Überzeugungskraft: "Wer gerade spricht, scheint Recht zu
haben."
Thomas Altmannshofer aus dem bayerischen
Friedberg nannte bemerkenswerte Fakten. Demnach bleiben
täglich bis zu einer halben Million Schüler
unentschuldigt dem Unterricht fern, von denen jeder dritte
während der unerlaubten Freistunden seine erste Straftat
begeht. Um das zu verhindern, befürwortete der 17-Jährige
eine harte Gangart: Schulschwänzer sollten von der Polizei in
die Lehranstalt gebracht werden. Ihren Eltern wollte er notfalls
das Erziehungsrecht entziehen. Seine Sachkenntnis belohnte die Jury
mit dem zweiten Platz.
Übertrumpft wurde er indes von Jeutner,
der die Gegenposition vertrat. Der Benjamin der Runde
plädierte für psychologische Betreuung von Schülern,
damit sie den Sinn der Schulpflicht begreifen: "Wissen kann man
Schülern nicht aufzwingen, indem man sie von der Polizei in
die Schule schleppen lässt." Bei diesem Schlagabtausch der
beiden Jungen konnten die 15-jährige Eva-Linde Geiling aus
Hechingen und die 16-jährige Lina Demirel aus Aachen nicht
punkten: Sie meldeten sich zu selten zu Wort. Ihre
Zurückhaltung bemängelte Jurorin Doris Ahnen,
Präsidentin der Kultusministerkonferenz: "So kommt man nicht
durchs Leben, wenn man wartet, dass man gefragt wird."
Die folgende Runde für Oberschüler
der Jahrgangsstufen 11 bis 13 beschäftigte sich mit einer
aktuellen politischen Streitfrage: Soll die Türkei in die EU
aufgenommen werden? Erneut überraschten die gerade
volljährigen Teilnehmer mit umfassendem Detailwissen. Das
Rennen machte Michael Seewald aus Saarbrücken: Er lehnte den
EU-Beitritt der Türkei ruhig, aber bestimmt mit der These ab,
sie sei dafür noch nicht reif. Trotz jüngster
Fortschritte hinke der kleinasiatische Staat bei der
Demokratisierung der Gesellschaft europäischen Standards noch
weit hinterher; auch als Nicht-EU-Mitglied könne die
Türkei von Brüssel gefördert werden.
Den zweiten Platz belegte Oliver Unger aus
Aachen. Er wies auf 13 Konfliktherde in der Region hin; zudem
überfordere das bevölkerungsreiche und
rückständige Land die Leistungsfähigkeit der EU.
Gegen diese Argumente drangen die Beitritts-Befürworter
Katharina Engler aus Hamburg und Christoph Pelz aus Braunschweig
mit ihrem Appell, der EU eine Brücke zur islamischen Welt zu
schlagen, nicht durch. Dass sein Sieg für ihn völlig
unerwartet kam, sah man Seewald an: Auf dem Podium bekam er sofort
rote Apfelbäckchen. Nun kann er Millionen Fernsehzuschauern
beweisen, wie redegewandt er ist. Maybritt Illner wird ihn in ihre
TV-Talkshow "Berlin Mitte" holen. Sein starkes Lampenfieber
stört den Preisträger dabei nicht: "Das ist der
nötige Adrenalinstoß, der bringt's!"
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