Rolf Clement
Hilfe beim afghanischen Nationbuilding
NATO-Gipfel in der Türkei beriet über
zukünftige Aufgaben des Bündnisses
Die Bemühungen um die Stabilisierung
Afghanistans und des Irak standen in Mittelpunkt der Beratungen der
26 Staats- und Regierungschefs der NATO in Istanbul. Durch die auf
den ersten Gipfeltag vorgezogene Übertragung der
Souveränität der irakischen Übergangsregierung
über ihr Land gerieten die Bemühungen um den Irak
zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung zunächst in den
Vordergrund. Offiziell begrüßten die Gipfelteilnehmer den
Schritt.
Bundeskanzler Gerhard Schröder meinte,
man sei immer für die schnelle Übertragung der
Souveränität auf die irakischen Behörden
eingetreten, also sei der Schritt jetzt richtig, da er zwei Tage
früher als erwartet erfolgt sei. Die Übertragung der
Souveränität wurde in einer Erklärung des Gipfels
zum Irak begrüßt. Hinter den Kulissen wurde aber
kritisiert, dass die USA und Großbritannien diese Entscheidung
den Gipfelteilnehmern nicht vorab mitgeteilt hatten und dass damit
der erste Gipfeltag mit seinen Beratungen in den Hintergrund
gedrängt wurde.
Die NATO hat erwartungsgemäß
beschlossen, dem Irak eine Ausbildungshilfe für die
Sicherheitskräfte anzubieten. Darum hatte der irakische
Übergangspräsident Allawi in Kenntnis des
Beratungsstandes in der Allianz die NATO in der Woche vor dem
Gipfel gebeten. Bundeskanzler Schröder schlug in einer Rede
vor Jugendlichen aus den NATO-Staaten vor, die Ausbildung in
Einrichtungen der Bundeswehr durchzuführen. Im Gespräch
sind zum Beispiel die Führungsakademie der Bundeswehr in
Hamburg und das UN-Ausbildungszentrum in Hammelburg. Noch aber hat
die NATO noch nicht entschieden, ob diese Hilfe im Irak, in der
Region - da ist Jordanien im Gespräch - oder in den
NATO-Staaten stattfinden soll. NATO-Generalsekretär Jaap de
Hoop Scheffer will vor der Entscheidung darüber erst mit der
irakischen Regierung Kontakt aufnehmen.
Die weitere Entwicklung Afghanistans hat die
NATO zu einer ihrer zentralen Aufgaben erklärt. Dort
entscheide sich, ob die Allianz glaubwürdig die Aufgabe des
Nationbuilding meistern könne.
Zwei Maßnahmen sollen dies untermauern:
Neben den beiden bestehenden Wiederaufbauteams in der Region -
eines davon betreibt Deutschland in Kunduz - sollen drei weitere
errichtet werden. Eines davon will Deutschland übernehmen, die
anderen beiden die Niederlande und Großbritannien, das
ebenfalls bereits ein derartiges Team betreibt. Allerdings werden
zwei der drei neuen in jenen Regionen eingerichtet, in denen die
jetzigen angesiedelt sind. Es hat sich gezeigt, dass diese Regionen
zu groß für ein Team sind. So wird eine Außenstelle
des deutschen Wiederaufbauteams zum zweiten deutschen aufgestockt.
Dort allerdings gibt es noch Probleme: Da diese Teams sich aus
Soldaten, Polizisten, Entwicklungshelfern, Diplomaten und anderen
zivilen Experten zusammensetzen, bedarf es zusätzlicher
Freiwilliger, die vor allem das Entwicklungshilfeministerium noch
nicht zur Verfügung hat. In diese Wunde hat der
verteidigungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion,
Christian Schmidt, die Finger gelegt: Die Bundesregierung habe
etwas zugesagt, was sie gar nicht leisten könne.
Mit den Aufbauteams soll die Stärke der
ISAF-Truppe von 6.500 Soldaten auf 10.000 aufgestockt
werden.
Zum zweiten will die NATO mit einem mobilen
Bataillon während der Wahlen in Afghanistan für mehr
Sicherheit sorgen. Präsident Hamid Karzai, der am zweiten Tag
vor dem Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat als Gast sprach, bat
darum, diese Verstärkung möglichst schnell bereit zu
stellen. Dem entsprach die NATO jedoch nicht. Am Tag nach dem
Gipfel wurde bekannt, dass dieses Bataillon nicht im Land
stationiert wird, sondern erst bei Bedarf nach Afghanistan verlegt
wird. Unklar ist auch, wer dieses Truppenkontingent
stellt.
Karzai zeichnete ein positives Bild von der
Entwicklung in seinem Land. Die Taliban, so meinte er, seien nicht
mehr in der Lage, größere Operationen durchzuführen.
Es gelinge ihnen nur noch, Zivilisten zu bekämpfen. Allerdings
hatten die Taliban erst in der Woche von dem Gipfel einen der
Gouverneure in einer südlichen Provinz mit Gewalt
verjagt.
Die Bundesregierung hat auf dem Gipfel in
Istanbul darauf hingewiesen, dass sie zu den größten
Truppenstellern in Afghanistan, aber auch auf dem Balkan
gehört. Bundeskanzler Schröder meinte, Deutschland stehe
weit vorne, mehr gehe nicht.
Die Lage auf dem Balkan wurde ebenfalls
besprochen. Die NATO wird die Führung des SFOR-Einsatzes zur
Jahreswende an die EU abgeben. In Bosnien sei eine Lage entstanden,
die dies zulasse. Bei der Unterstützung der EU und bei der
Verfolgung der Kriegsverbrecher wird die NATO allerdings in Bosnien
präsent bleiben.
Mit einem Angebot zum Dialog will die NATO
den Staaten des Golf-Kooperationsrates die Hand zu einer vertieften
Zusammenarbeit reichen. Dahinter steht der Gedanke, dass mit der im
Frühjahr erfolgten Aufnahme von sieben neuen Mitgliedern -
deren Staats- und Regierungschefs waren in Istanbul zum ersten Mal
dabei - der Stabilitätsraum in Europa abgesichert ist. Diese
Stabilität soll nun auf die Region des Nahen und Mittleren
Ostens ausgedehnt werden. Der Plan, diesen Staaten ein
Partnerschaftsprogramm anzubieten, scheiterte unter anderem daran,
dass die Golf-Staaten wenig Interesse an einer solchen
Zusammenarbeit zeigten.
Auch der Dialog mit dem Mittelmeeranrainern,
den die NATO schon seit einigen Jahren versucht, soll intensiviert
werden. In den vergangenen Jahren scheiterte dies am geringen
Interesse der südlichen Mittelmeeranrainerstaaten. Die NATO
erwägt, die südlichen Mittelmeeranrainer in die Operation
zur Sicherung der Mittelmeers, die sie im Rahmen des
Anti-Terror-Kampfes seit 2001 durchführt, zu beteiligen.
Entsprechende Gespräche sollen nun geführt
werden.
Zur Verbesserung der Fähigkeiten der
NATO wurde eine Zwischenbilanz der Umsetzung jener Maßnahmen
gezogen, die der letzte NATO-Gipfel im November 2002 beschlossen
hatte. Zur Verbesserung der Lufttransportfähigkeit wurde in
Istanbul ein unter deutscher Federführung ausgehandeltes
Abkommen über das gemeinsame Leasen von
Großraumflugzeugen unterzeichnet. Um die Streitkräfte
besser einsetzen zu können, sollen 40 Prozent der
Landstreitkräfte schnell und für eine kurze Zeit, acht
Prozent für längere Zeit eingesetzt werden können.
Bis wann dieses Ziel erreicht werden soll, wurde nicht festgelegt.
Diese Zahlen haben die Verteidigungsminister besprochen, sie sind
nicht in den Gipfeldokumenten enthalten.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
berichtete, dass die in Deutschland beschlossene Bundeswehrreform
allgemein positiv bewertet wurde. Einige NATO-Staaten haben
ähnliche Reformen eingeleitet. In den Sitzungen wurde aber
kritisch angemerkt, dass das in Prag formulierte Ziel, zwei Prozent
des Bruttosozialprodukts für die Verteidigung auszugeben, von
den meisten NATO-Staaten nicht erreicht wurde.
Einige Staaten wurden im Kommunique
namentlich aufgefordert, ihre Reformanstrengungen fortzusetzen.
Dann könne ihnen der Weg in die Allianz offen stehen. Genannt
wurden in abgestufter Intensität Albanien, Kroatien,
Mazedonien, aber auch Bosnien-Herzegowina und die
Ukraine.
Als wichtige neue Aufgabe in den Katalog der
NATO wurde die Unterstützung bei der Absicherung bestimmter
Großveranstaltungen aufgenommen. Die Gipfelerklärung
erwähnt als Beispiel das luftgestützte Führungs- und
Überwachungssystem der Allianz. Diese Rolle übernimmt die
NATO erstmals bei den Olympischen Sommerspielen in Athen im August
dieses Jahres.
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