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Jutta Witte
PCB-Problematik verschlafen?
Hessen I: Hiobsbotschaften aus der Gießener
Uniklinik
Die Universitätsklinik in Gießen kommt aus den
Schlagzeilen nicht mehr heraus. Seit Frühjahr dieses Jahres
häufen sich die Hiobsbotschaften aus dem Klinikum. Es geht um
mutmaßlichen Abrechnungsbetrug, angebliche Patientenversuche
ohne Einwilligung, Hygienemängel in den Operationssälen
und eine durch polychloriertes Biphenylen (PCB) verseuchte
Kinderklinik. "Wir sind ins Gerede gekommen", gibt der scheidende
ärztliche Direktor, Klaus Knorpp, zu. Die Kritik an den nach
Ansicht von SPD und Grünen "unhaltbaren Zuständen" zielt
mittlerweile jedoch auch auf die hessische Landesregierung.
"Das Land Hessen hat seine eigene PCB-Richtlinie, aufgrund derer
viele Einrichtungen anderer Träger saniert wurden, nicht ernst
genommen", moniert der gesundheitspolitische Sprecher der
SPD-Landtagsfraktion Thomas Spies. Wie der hessische
Wissenschaftsstaatssekretär Joachim-Felix Leonhard in einer
Sondersitzung des Wissenschaftsausschusses einräumen musste,
ist die PCB-Belastung der Kinderklinik zwar bereits seit Januar
1999 bekannt. Bis heute jedoch, erklärt der
Staatssekretär, seien nur 1.600 von 4.000 Quadratmetern so
saniert, dass eine langfristig akzeptable PCB-Konzentration von
weniger als 300 Nanogramm erreicht wurde.
"Eine Grenzwertüberschreitung, die eine Sofortmaßnahme
erforderlich machen würde", betont Leonhard dennoch, "liegt
nicht vor". Die hessische PCB-Richtlinie sieht nach Auskunft der
Experten aus dem Wissenschaftsministerium vor, dass die betroffenen
Räume bei Überschreiten des kritischen Grenzwertes von
3.000 Nanogramm binnen drei Monaten saniert werden müssen,
binnen zwei Jahren jedoch eine dauerhafte Senkung auf unter 300
Nanogramm erreicht werden muss. "Seit Januar 2001 befindet sich die
Kinderklinik in Gießen in einem rechtswidrigen Zustand",
folgert der Parlamentarische Geschäftsführer der
Grünen, Frank Kaufmann. Die Verantwortung für das
"Verschlafen der PCB-Problematik", trägt nach Ansicht von
Spies die damalige Hausspitze unter FDP-Hochschulministerin Ruth
Wagner. Aber auch die jetzige Landesregierung habe sich des Themas
erst aufgrund des öffentlichen Drucks angenommen.
Die komplette PCB-Sanierung soll laut Leonhard erst 2006
vorgenommen werden, wenn die "wegen weiterer erheblicher
Mängel" - unter anderem in der Entlüftung, im Brandschutz
und in der Wärmedämmung - ohnehin marode Kinderklinik
komplett renoviert werden soll. Auch die hygienisch-technischen
Verhältnisse in anderen Klinikbereichen lassen offenbar zu
wünschen übrig. Im vergangenen halben Jahr wurden sechs
Operationssäle - vier in der Chirurgie und zwei im
Hals-Nasen-Ohrenbereich - aus Hygienegründen geschlossen. Zwei
OP in der Neurochirurgie sind nach Auskunft des hessischen
Wissenschaftsministeriums ebenfalls sanierungsbedürftig. Der
schon lange geplante Neubau der Hals-Nasen-Ohrenklinik wurde nach
Auskunft Wissenschaftsstaatssekretärs wegen "des begrenzten
Finanzrahmens" bis heute nicht realisiert.
"Das ist einfach ein Investitionsdefizit", fasst Klaus Knorpp
das Problem zusammen. So wurde die Uniklinik in Gießen vom
Land eher stiefmütterlich behandelt. Während nach Angaben
Leonhards in den vergangenen 30 Jahren je rund 300 Millionen Euro
in die Universitätsklinika Frankfurt und Marburg flossen,
investierte das Land in Gießen nur rund 127 Millionen Euro.
Immer wieder habe man im Aufsichtsrat auf den kritischen Zustand
der Klinik hingewiesen und um finanzielle Mittel "für
Mindestmaßnahmen" gebeten, sagt der Klinikdirektor. Neben der
mageren Haushaltslage sieht Knorpp auch in der ab 2006 geplanten
Fusion der Unikliniken Gießen und Marburg einen
Verzögerungsfaktor. Noch immer lässt das
Wissenschaftsministerium offen, wie die Aufgaben zwischen beiden
Kliniken verteilt werden sollen, nach Einschätzung von Thomas
Spies ein Grund mehr, der zur Verunsicherung unter den Mitarbeitern
beiträgt. "Das dilettantische Vorgehen der Landesregierung
beim Thema Fusion hat in Gießen ein Klima der Angst erzeugt",
glaubt der gesundheitspolitische Sprecher der SPD.
Verschärft wird die angespannte Atmosphäre durch zwei
Ermittlungsverfahren, die sich um den Leiter des Zentrums für
Chirurgie, Anästhesiologie und Urologie drehen. Der
64-Jährige soll mit falschen Abrechnungen private
Krankenkassen um mehrere Millionen Euro betrogen haben: "Wir
prüfen, ob er abrechnen durfte, wie er es getan hat, obwohl er
bei den Operationen nicht zugegen war", erklärt der Leitende
Oberstaatsanwalt in Gießen, Volker Kramer. Doch nicht nur der
mutmaßliche Betrug beschäftigt Kramer und seine
mittlerweile siebenköpfige Ermittlungsgruppe. Ein weiteres
Verfahren soll klären, ob der Chefanästhesist und einige
seiner ehemaligen Mitarbeiter im Rahmen von wissenschaftlichen
Versuchen Patienten ohne deren Wissen Medikamente - zum Beispiel
eine größere Menge des Blutverdünnungsmittels
Heparin als notwendig - verabreicht und körperliche Eingriffe
wie das Legen eines Lungenkatheters ohne medizinische Indikation
vorgenommen haben.
Wie beim mutmaßlichen Abrechnungsbetrug stammt die Anzeige,
die zu bundesweiten Durchsuchungen in Kliniken, Arztpraxen und
Wohnhäusern geführt hat, aus der Ärzteschaft. Doch
die Ermittlungen, die sich laut Kramer in zwei Fällen sogar um
den Verdacht auf Körperverletzung mit Todesfolge drehen, sind
äußerst kompliziert. "Wir müßten an die
Patienten selbst herankommen", sagt Kramer. Möglicherweise
ende das Ganze als medizinischer Streit. Denn der Nachweis, ob es
wirklich zu unnötigen Eingriffen gekommen ist oder der Vorwurf
vielleicht nur Folge von Grabenkämpfen unter verfeindeten
Medizinern ist, bleibt schwierig. Die Suspendierung des Mediziners
wurde vom Verwaltungsgericht Gießen in der Zwischenzeit
aufgehoben mit dem Hinweis, es gebe keinen "begründeten
Verdacht".
Wie lange die Ermittlungen dauern werden, kann die
Staatsanwaltschaft derzeit nicht prognostizieren. Die anderen
Probleme hat das hessische Wissenschaftsministerium nun auf seiner
Prioritätenliste nach oben geschoben. Über einen Kredit
soll die Uniklinik zunächst die Renovierung der betroffenen
Operationssäle zwischenfinanzieren. Das Geld soll nach
Einstellung der Mittel in den Haushalt 2005 vom Land zurück
gezahlt werden. Auf eine verbindliche Zusage für den Beginn
und die Finanzierung der vor einem Jahr beantragten Sanierung der
Kinderklinik jedoch wartet die Gießener Uniklinik noch immer.
"Was an Argumenten erforderlich ist", sagt Knorpp, "liegt dem Land
vor." Das Klinikum habe offenbar noch eine "lange Leidenszeit" vor
sich.
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