Oliver Heilwagen
Beim Formulieren einer Kleinen Fraktionsanfrage
wird Politik konkret
Der soziale Tag: "Schüler helfen Leben" und
spenden ihren Arbeitslohn für Altersgenossen auf dem
Balkan
Guten Tag, darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Mit Milch und
Zucker?", fragt Felix Wille die Vorbeieilenden. Der 16-Jährige
steht zwar erst wenige Minuten vor dem SPD-Bürgerbüro in
Berlin-Charlottenburg, doch er spricht die Passanten schon so
souverän an wie ein Routinier. Kaum haben sie ihre Tasse in
Empfang genommen, legt Felix los: "Sie trinken Kaffee, der fair
gehandelt wurde. Wir wollen damit das Prinzip Fair Trade
vorstellen. Dabei werden Bauern in Entwicklungsländern
anständige Erzeugerpreise gezahlt, die ihnen erlauben, ihre
Familien zu ernähren und ihre Kinder zur Schule zu schicken.
Bei uns finden sie einige fair gehandelte Produkte: Kaffee, Tee,
Kakao, Schokolade und Honig. Möchten Sie etwas probieren?"
Viele Kaffeetrinker sind von seinem Vortrag beeindruckt und werfen
einen prüfenden Blick auf die feilgebotenen Waren.
Das wortgewandte Auftreten des Zehntklässlers ist kein
Zufall: Er ist Mitglied der AG Internationale Politik an der
Berliner Georg-Christoph-Lichtenberg-Schule. Die AG beteiligt sich
am "Model United Nations", einer Simulation der Vereinten Nationen
für Schüler. Sie spielen Sitzungen nach, etwa des UN-
Sicherheitsrats oder der Generalversammlung. Alle Debatten
werden auf Englisch geführt, berichtet Felix: "Ich vertrete
meist Kenia, beim Thema Gentechnologie war es Kanada." Auf diese
Weise bereitet er sich auf seinen Wunschberuf vor: Später
würde er gerne für eine internationale Organisation
arbeiten - am liebsten bei der UNO.
Doch Felix ist weder Parteimitglied noch Dritte-Welt-Aktivist.
Sein vierstündiges Gastspiel vor dem Wahlkreisbüro der
SPD-Bundestagsabgeordneten Petra Merkel hat einen anderen Grund: Er
nimmt am "Sozialen Tag" teil, der in diesem Jahr auf den 22. Juni
fiel. Bei dieser Aktion, die alle zwei Jahre von der Initiative
"Schüler Helfen Leben" organisiert wird, jobben Schüler
einen Tag lang und spenden den Erlös für einen guten
Zweck. Wie Lisa Konrad, die neben Felix Kaffee ausschenkt und Kekse
reicht. Die 16-Jährige vom Erich-Fried-Gymnasium hat diesen
Halbtagsjob über die Website der Initiative gefunden und ist
begeistert: "Ich habe mir zwar etwas anderes vorgestellt, aber das
hier ist interessanter, als Handzettel zu verteilen oder
Büroarbeit zu machen."
Das Abräumen und Spülen leerer Tassen übernimmt
Nico Nothnagel. Da er erst 13 Jahre alt ist, darf der
Siebtklässler nur zwei Stunden lang arbeiten, doch er ist mit
großem Elan bei der Sache: "Das macht mir Spaß, obwohl
ich sonst nicht so fürs Abwaschen bin. Ich wollte einmal
praktisch arbeiten, anstatt zur Schule zu gehen, und finde es gut,
dass mein Lohn gespendet wird." Ihre Arbeitgeberin für einen
Tag, Petra Merkel, ist voller Lob für so viel Engagement: "Wie
die Schüler das machen, ist einfach super!" Sieben
Halbtagsjobs hat die Kultur- und Medienexpertin ihrer Fraktion im
Haushaltsausschuss angeboten: "Ich wollte mehreren Jugendlichen
ermöglichen, in die Politik hineinzuschnuppern. Dafür
reichen vier Stunden aus."
Den Sprung in die Arbeitswelt macht sie ihren Schützlingen
so angenehm wie möglich: Zum Auftakt gibt es ein zweites
Frühstück mit belegten Brötchen. Mittags dürfen
sie sich an Kaffee und Kuchen gütlich tun. Zum Abschied
erhalten alle ein kleines Dankeschön samt Teilnehmerurkunde
und der Einladung, Merkel in ihrem Bundestagsbüro zu besuchen.
Für das Erinnerungsfoto zeigt sie einen Scheck vor: 260 Euro
Arbeitslohn wird sie an "Schüler Helfen Leben"
überweisen. "Ich glaube, dass es Jugendlichen in diesem Alter
schwer fällt, zu einem Unbekannten zu gehen und für ihn
zu arbeiten", erläutert sie ihre liebevolle Betreuung: "Dieses
Wagnis muss man ihnen leicht machen."
Ein Wagnis, dem sich in diesem Jahr 220.000 Schüler aus
1.300 Schulen in fünf norddeutschen Bundesländern
unterzogen haben. Sie alle wechseln am "Sozialen Tag" von den
Schulbänken auf einen normalen Arbeitsplatz, um ihren
Altersgenossen auf dem Balkan Gutes zu tun. Viele erledigen
einfache Bürotätigkeiten; manche helfen aber auch in
einem Laden aus oder schuften in einer Gärtnerei.
In jedem Fall legt der Arbeitgeber das Entgelt fest und
lässt es "Schüler Helfen Leben" zukommen. Mit dem
geschätzten Erlös von 3,5 Millionen Euro will der Verein
Sommerschulen für benachteiligte Roma-Kinder in Bosnien
aufbauen. Außerdem soll ein Bauernhof im rumänischen Boiu
entstehen, auf dem arbeitslose Jugendliche in ökologischer
Landwirtschaft ausgebildet werden. Eine eigens gegründete
Stiftung, der die Hälfte des Kapitals zufließt, soll den
kontinuierlichen Betrieb dieser Einrichtungen sichern.
Anders als in etablierten Wohlfahrtsverbänden gibt es bei
"Schüler Helfen Leben" keine hauptamtlichen Funktionäre.
Alle 200 Vereinsmitglieder sind selbst Schüler oder haben ihre
Schullaufbahn vor kurzem abgeschlossen. Wie Bundeskoordinator Malte
Marwedel, der im vergangenen Jahr sein Abitur ablegte und nun ein
Freiwilliges Soziales Jahr absolviert. Entstanden sei die
Initiative 1992 während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien,
erzählt Marwedel. Damals organisierten
rheinland-pfälzische Schüler Hilfskonvois für
Kroatien und die belagerte bosnische Hauptstadt Sarajewo. Die
Region blieb ein Schwerpunkt der Vereinstätigkeit: Bislang hat
er dort und im Kosovo mehr als 70 Schulen und Kindergärten
errichtet.
Da die Mitgliederfluktuation des Vereins naturgemäß
recht hoch ist, weil jeder irgendwann die Schule verlässt,
wurde sein Sitz Ende der 90er-Jahre nach Neumünster in
Schleswig-Holstein verlegt. In diesem Bundesland fand 1998 der
erste "Soziale Tag" statt: 35.000 Schüler erarbeiteten 700.000
Euro, mit denen ein Jugendbegegnungshaus in Sarajewo finanziert
wurde. In den Jahren 2000 und 2002 haben sich die Teilnehmerzahlen
und Spendenerlöse vervielfacht.
Dennoch will "Schüler Helfen Leben" den "Sozialen Tag"
nicht alljährlich ausrichten. "Wir legen großen Wert
darauf, den Schülern zu zeigen, was aus ihrem Geld geworden
ist", begründet Marwedel den bestehenden Zwei-Jahres-Rhythmus:
Im jeweiligen Folgejahr besuche ein Informationsbus alle
teilnehmenden Schulen. Zudem verteilt der Verein Broschüren an
weitere Schulen, um sie zum Mitmachen zu ermuntern. Und das alles
ehrenamtlich: Auch die fünf Bundeskoordinatoren erhalten nur
280 Euro Taschengeld pro Monat.
Mit fünf Euro pro Stunde muss sich Markus Howe
begnügen. Dafür ist der 17-jährige Schüler des
von-Droste-Hülshoff-Gymnasiums bei der großen Politik zu
Gast. Er begleitet am "Sozialen Tag" den entwicklungspolitischen
Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Markus Löning.
Arbeitgeber und -nehmer kennen sich bereits: Markus wohnt nicht nur
im Bezirk Zehlendorf, dessen Abgeordneter Löning ist, sondern
hat bei ihm auch schon ein Praktikum absolviert. Nichtsdestoweniger
erfährt der Schüler bei seinem zweiten Besuch viel Neues:
Nach der Begrüßung schaut er dem Parlamentarier über
die Schulter, während der eine Kleine Fraktionsanfrage
formuliert. "Das ist eine gute Methode, die Bundesregierung zu
definitiven Aussagen zu zwingen, wenn man geschickt fragt",
erklärt Lönings Mitarbeiter René Brosius den
taktischen Sinn dieses politischen Manövers.
Dann steht ein Ausflug auf das diplomatische Parkett auf dem
Programm. Markus begleitet Löning zu einem
Hintergrundgespräch mit dem rumänischen Botschafter
Adrian Vierita. Dort geht es um die Verhandlungen zum EU-Beitritt,
um Städtepartnerschaften und Schüleraustausch. "Was macht
eigentlich ein Botschafter an seinem Arbeitstag?", will Markus
wissen. Vierita spricht von Presseauswertung und diplomatischer
Korrespondenz, räumt dann aber lächelnd ein: "Die
Hauptaufgabe eines Botschafters ist, zu repräsentieren."
Danach besichtigt Markus noch den Reichstag und nimmt an einer
Sitzung der FDP-Arbeitsgruppe Familie teil: Für ihn hat sein
"Sozialer Tag" Fortbildungscharakter. Das ist ganz im Sinne von
"Schüler Helfen Leben". Von "Unterricht in anderer Form"
spricht Koordinator Marwedel: "Unser Ziel ist, dass Schüler
einmal hinter die Kulissen gucken können." So fassen es auch
die meisten Arbeitgeber auf, die Schüler für einen Tag
aufnehmen.
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