Bundestagspräsident Thierse unterbreitet den Fraktionen Vorschlag zur Abgeordnetenentschädigung
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat den Vorsitzenden
der Fraktionen des Deutschen Bundestages seinen Vorschlag zur
Anpassung der Abgeordnetenentschädigung und des
Bemessungsbetrages für die Altersentschädigung
unterbreitet. Demnach sollte die Abgeordnetenentschädigung
nicht erhöht und die Altersentschädigung im Lichte der
bevorstehenden Änderungen der Sozialsysteme
überprüft werden. Im Wortlaut heißt es:
"§ 30 des Abgeordnetengesetzes verpflichtet mich, den
Fraktionen zu Beginn einer jeden Wahlperiode einen
Gesetzesvorschlag zuzuleiten, um es dem Bundestag zu
ermöglichen, innerhalb des ersten Halbjahres nach der
konstituierenden Sitzung einen Beschluss über die Anpassung
der Abgeordnetenentschädigung und des fiktiven
Bemessungsbetrages für die Altersentschädigung zu fassen.
Mein heutiges Schreiben dient diesem Zweck.
Lassen Sie mich mit einer kurzen Bestandsaufnahme beginnen: In der
14. Wahlperiode ist die Abgeordnetenentschädigung von
(umgerechnet) 6.314 EUR auf 6.878 EUR gestiegen. Das sind 8,93 %.
Die einzelnen jährlichen Steigerungsschritte belaufen sich auf
durchschnittlich 3,26 %. Sieben Bundesländer haben weitaus
höhere Zuwächse - bis zu 20 % - zu verzeichnen, andere
liegen darunter. Der statistische Durchschnitt der
Bundesländer liegt bei 9,56 % (Anlagen 1 und 2). Die Zahlen
belegen sehr deutlich, so meine ich, dass der Bundestag entgegen
einem populären Vorurteil in eigener Sache stets maßvoll
entschieden hat. Wir müssen unter diesem Aspekt auch keinen
Vergleich mit der Entwicklung anderer Einkommen scheuen. Denn im
langjährigen Mittel liegt der durchschnittliche jährliche
Steigerungssatz der Abgeordnetenentschädigung unter dem der
Beamtenbezüge, der Tarifverdienste im öffentlichen Dienst
und der Tarifverdienste in der Gesamtwirtschaft (Anlage 3), und
zwar - seit Inkrafttreten des Abgeordnetengesetzes 1977 - bei 2,50
%. Die Beamtenbezüge stiegen in diesem Zeitraum um
durchschnittlich 2,95, die Tarifverdienste im öffentlichen
Dienst um 3,12, die in der Gesamtwirtschaft um 3,1 und die Renten
um 3,31 %.
Die Orientierungsgröße - ein Zwölftel der
Jahresbezüge in den Besoldungsgruppen R 6/B 6 -, der sich
anzunähern das Abgeordnetengesetz in § 11 Abs. 1 Satz 1
uns aufgibt, wird - wie Sie wissen - nach wie vor nicht erreicht.
Selbst unter Berücksichtigung der zum 1. Januar 2003 wirksam
gewordenen letzten Erhöhung der Abgeordnetenentschädigung
auf 7.009 EUR beträgt der Abstand immer noch 876 EUR.
Besoldungserhöhungen, wie sie für dieses Jahr schon
anstehen, werden die Distanz weiter vergrößern.
Natürlich ist der Orientierungsmaßstab eine politisch
gesetzte Größe. Andere sind mit vertretbaren Argumenten
wahrscheinlich ebenfalls vorstellbar. Ich bin jedoch weiterhin von
der Richtigkeit der seinerzeit gewählten Richtgröße
überzeugt, weil Abgeordnete in der Unabhängigkeit ihrer
Mandatsausübung tatsächlich am ehesten mit
unabhängigen Richtern zu vergleichen sind. Überlegungen
des Europäischen Parlaments zu einem Statut für seine
Mitglieder bestärken mich in dieser Einschätzung. Denn
der Entwurf eines Abgeordnetenstatuts des Europäischen
Parlaments schlägt in seinem Art. 16 als
Referenzgröße ebenfalls Richter - die des
Europäischen Gerichtshofes - vor, regelungstechnisch
allerdings in Gestalt einer unmittelbaren Ankoppelung der
Abgeordnetenentschädigung an die Richterbezüge. Die
Entschädigung für die Mitglieder des Europäischen
Parlaments soll sich auf jeweils 50 % der Grundbezüge eines
Richters am Europäischen Gerichtshof belaufen.
Obwohl die Orientierungsgröße für die
Abgeordnetenentschädigung noch verfehlt wird, bin ich der
Auffassung, dass die bevorstehenden Veränderungen in den
sozialen Sicherungssystemen derzeit keinen Anlass für eine
Erhöhung unserer Bezüge und Pensionen geben. Der
Gestaltungsspielraum, den § 11 Abs. 1 Satz 1
Abgeordnetengesetz eröffnet, erlaubt es mir, diese externen
Faktoren zu berücksichtigen und von einem
Erhöhungsvorschlag sowohl für die
Abgeordnetenentschädigung als auch für den fiktiven
Bemessungsbetrag für die Altersentschädigung
abzusehen.
In den kommenden Monaten werden die Systeme der sozialen Sicherung
in Deutschland - allen voran die Krankenversicherung und die
Rentenversicherung - in vielfacher Hinsicht neu ausgerichtet,
sobald die Expertenkommissionen ihre Vorschläge unterbreitet
haben. Dies wird voraussichtlich mit tiefgreifenden
Veränderungen für alle gesellschaftlichen Gruppen
einhergehen. Wir Parlamentarier können und dürfen uns
davon nicht ausnehmen. Im Lichte der zu erwartenden Reformen sind
auch Entschädigung und Altersversorgung der Abgeordneten
vorbehaltlos zu überprüfen.
Dabei müssen Abgeordnetenbezüge und Abgeordnetenpensionen
notwendigerweise zumeist im Kontext gesehen werden. Wollte man - um
nur ein Beispiel aufzugreifen - eine Eigenbeteiligung der
Abgeordneten an ihrer Altersversorgung einführen, wie
beispielsweise der von mir bereits erwähnte Entwurf eines
Statuts für die Abgeordneten des Europäischen Parlaments
sie vorsieht, so hätte dies zwangsläufig Auswirkungen auf
die Abgeordnetenentschädigung, weil diese bisher für eine
Eigenbeteiligung nicht ausgelegt ist. Es stellte sich also die
Frage, ob sie auch bei Einschluss einer Eigenbeteiligung noch
"angemessen" im Sinne des Art. 48 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz ist
oder nicht.
Ich möchte künftigen Überlegungen an dieser Stelle
jedoch nicht vorgreifen. Solange die Fortentwicklung der
großen gesetzlichen Sozialversicherungssysteme nicht
umgesetzt ist, fehlen verlässliche und notwendige Vorgaben, an
denen wir den finanziellen Status der Abgeordneten prüfen und
neu orientieren können. Erst wenn sie vorliegen, sind
qualifizierte Schlussfolgerungen jenseits des Bereichs des
Spekulativen möglich. Dann aber sollten sich, so meine ich,
die Fraktionen dieser Aufgabe ohne Verzug annehmen und im Konsens
nach Lösungen suchen, die sowohl dem besonderen,
verfassungsrechtlich verbürgten Status der Abgeordneten
gerecht werden als auch deutlich machen, dass wir Parlamentarier
ebenfalls bereit sind, unseren Beitrag an Einschnitten und Opfern
zu leisten. Ein Thema in diesem Zusammenhang dürfte auch das
Sterbegeld oder Überbrückungsgeld, wie es im
Abgeordnetengesetz für uns Abgeordnete heißt, sein. Denn
hier haben wir den Bürgern bereits Opfer zugemutet und
dürfen deshalb als Abgeordnete nicht zurückstehen.
Das Abgeordnetengesetz steht Änderungen zu einem späteren
Zeitpunkt - wie ich ihn vorschlage - übrigens nicht entgegen.
Ich erwähne dies, um möglichen Einwänden gleich hier
zu begegnen. Der Bundestag ist nicht gehindert, außerhalb des
in § 30 Satz 1 Abgeordnetengesetz genannten ersten Halbjahres
nach der konstituierenden Sitzung Gesetzesbeschlüsse zum
finanziellen Status der Abgeordneten zu fassen. Das in der 14.
Wahlperiode verabschiedete Zweiundzwanzigste Gesetz zur
Änderung des Abgeordnetengesetzes vom 19. Dezember 2000 ist
ein Beispiel dafür.
Abschließend möchte ich einen Gedanken zum Procedere der
Fraktionen äußern. Mit grundlegenden
Überprüfungen des Abgeordnetenstatus wurden in der
Vergangenheit gerne unabhängige Kommissionen betraut.
Das war beim Bund so wie bei den Ländern. Auch im Vorfeld
meines heutigen Vorschlags wurde der Ruf nach einer
unabhängigen Kommission wieder laut. Nach meiner
persönlichen Einschätzung erscheint die Einsetzung einer
weiteren Kommission im oben skizzierten Kontext nicht
zielführend zu sein. Die notwendigen Gesetzesbeschlüsse
müssen wir als Mitglieder des Deutschen Bundestages ohnehin
selbst fassen. Auch politisch müssen wir sie verantworten. Das
nimmt uns niemand ab, selbst eine unabhängige Kommission
nicht. Lassen Sie uns deshalb die vorbereitenden Überlegungen
im Parlament selbst und nicht außerhalb - von Dritten -
anstellen. Dabei spricht nichts dagegen, externen Sachverstand - wo
immer wir ihn für hilfreich erachten - von Fall zu Fall
einzubeziehen."
Anlagen:
Diätenerhöhungen-Bund-Länder- 14
WP-Tabelle
Diätenerhöhungen-Bund-Länder- 14
WP-Diagramm
Entwicklung der Entschädigung,
Löhne, Gehälter, Rente - Diagramm
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