Bundestagspräsident Wolfgang Thierse: Erinnerung an die Mauer in Berlin wach halten
Es gilt das gesprochene Wort
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse eröffnet am Sonntag,
17. Juni, in Berlin (Friedrich-Ebert-Platz) die Veranstaltung "13.
August 1961 - 40. Jahrestag des Mauerbaus" und führt dabei
u.a. aus:
"Wer am 13. August 1961 das Radio einschaltete, dem fuhr ein
gewaltiger Schrecken in die Glieder - die Sonntagsstimmung war
dahin. Die Sender verkündeten, dass über Nacht
DDR-Kampfgruppen, Volkspolizei und militärische Einheiten die
innerstädtische Grenze zwischen der DDR und West-Berlin
abgeriegelt hatten - durch Bau von Zäunen und Barrikaden,
durch Kappung aller Verkehrswege.
Die Menschen in Deutschland, insbesondere die Berlinerinnen und
Berliner, waren schockiert, verunsichert, empört. Es gab
spontane Protestaktionen an den geschlossenen Übergängen
in der Wollankstraße, in der Warschauer Straße, am
Brandenburger Tor. Doch diese wurden von der Polizei schnell
aufgelöst.
Bereits am 13. August 1961 spielten sich dramatische Szenen an der
Grenze ab. Verzweifelte Menschen riskierten ihr Leben bei dem
Versuch, die Sperranlagen zu überwinden. Wir alle kennen die
unerträglichen Bilder von damals: Menschen, die sich
westseitig aus ihren Häusern abseilen, Menschen, die sich in
die Rettungstücher der West-Berliner Feuerwehr fallen lassen,
Menschen, die auch ohne jede Sicherung aus dem Fenster springen -
sie alle in größter Verunsicherung und Angst.
Die ersten Opfer dieser Grenze waren Rudolf Urban und Ida Siekmann.
Sie stürzten, noch im August 61, bei ihrer Flucht aus
Häusern an der Bernauer Straße in den Tod. Die
Häuser wurden später gesprengt.
Vom ersten Tag an war die Berliner Mauer ein untrügliches
Symbol für menschliches Leid, für die gewaltsame Trennung
von Familien, von Liebenden, von Freunden, von Kollegen. Vom ersten
Tag an war die Berliner Mauer steingewordene Metapher einer
menschenverachtenden Politik.
Die SED-Führung und ihre Ideologen stilisierten die
abgesperrte Grenze zum "Antifaschistischen Schutzwall". Dieser
sollte einen angeblich drohenden Präventivkrieg der
Westmächte vereiteln helfen und die politische
Handlungsfähigkeit der DDR unter Beweis stellen.
Doch in Wirklichkeit kam der brutalen Grenze eine andere Funktion
zu: Sie sollte nicht das Eindringen eines äußeren
Feindes verhindern, im Gegenteil. Sie sollte die Fluchtwelle der
Ostdeutschen stoppen - ein für alle Mal.
Über 2,5 Millionen Menschen hatten zwischen der
Staatsgründung der DDR im Oktober 1949 und dem Mauerbau das
Land verlassen - für den SED-Staat eine vernichtende
Abstimmung mit den Füßen. Jeder zweite Flüchtling
war unter 25 Jahre alt. Neben den jungen gingen vor allem die gut
ausgebildeten Menschen weg. Und das hieß damals: weg für
immer. Mit Wiedereinreise auf Besuch war nicht zu rechnen.
Die SED-Führung wusste die vermeintlich Schuldigen für
diese Fluchtwelle zu benennen: Schuld hatten "die anderen", Schuld
hatte der "Klassenfeind". Die SED machte "Kindesräuber",
"Kopfjäger" und "Menschenhändler" im Westen, in der
Bundesrepublik für den Massenexodus verantwortlich. An ein
gründliches Versagen der eigenen Politik, an den politischen
Frust der Menschen im eigenen Land mochte im SED-Apparat niemand
glauben.
Die mentalen, lebensweltlichen und politischen Folgen des Mauerbaus
für die Menschen in der DDR waren am 13. August 61 noch kaum
abzuschätzen. Viele dachten, der absurde Spuk sei bald vorbei,
die "geschlossene Gesellschaft" sei eine Fiktion. Doch sie sahen
sich getäuscht - für 28 lange Jahre.
...
Die Selbstbefreiung der Ostdeutschen, der Fall der Mauer, der
Aufbruch zur Einheit - das war eine euphorische, eine herrliche
Zeit. Heute wissen wir: Für manch einen war es auch eine Zeit
neuer Illusionen, unrealistischer Erwartungen, nicht
einlösbarer Hoffnungen. Nicht alle Träume reiften, nicht
alle Träume konnten reifen.
Dennoch: Für Millionen von Menschen, und ich bekenne mich sehr
gerne zu ihnen, zählt das Erleben des Mauerfalls zu den
schönsten, zu den wichtigsten Momenten ihrer Biographie. So
wie 28 Jahre zuvor - allerdings in genauer Umkehrung der
Gefühlslage - der Mauerbau für Millionen Deutsche einen
äußerst schmerzhaften biographischen Einschnitt
bedeutete, einen Bruch in ihrer Lebensplanung, eine schwere
Belastung für ihre familiären und freundschaftlichen
Bindungen.
Die Revolution in der DDR, die 89/90 zum Fall der Mauer und in die
Einheit führte, hatte viele Väter und Mütter, denen
unser Herzensdank gebührt - und zwar nicht nur an den
üblichen Gedenk- und Feiertagen: Dazu zählt die
westdeutsche Entspannungspolitik von Willy Brandt bis Helmut Kohl,
dazu zählen die Gewerkschaft Solidarnosc in Polen, die den
Runden Tisch erfand, Michael Gorbatschow, der dem Kalten Krieg den
Rücken kehrte, die Ungarn, die durchlässige Schneisen in
ihren Grenzzaun schnitten, die mutigen Bürgerrechtler in
Berlin, Leipzig, Jena und anderen Städten.
Doch die gebotene historische Chance ergreifen, die starren
Verhältnisse im Lande aufbrechen, politische Änderungen
herbei demonstrieren - das mussten die DDR-Bürger selbst. Ihr
eigener Protest, ihr eigenes Tun war elementare Voraussetzung
dafür, dass die Mauer fallen konnte, dass die
Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und die Nachbarn in Europa
den deutsch-deutschen Wunsch nach Herstellung der staatlichen
Einheit akzeptierten.
Der Fall der Mauer war nicht nur ein symbolisches Ereignis ersten
Ranges, das beispielhaft für Zivilcourage und für die
Macht des Volkswillens steht. Der Fall der Mauer und die
Herstellung der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990
veränderten das Nachkriegseuropa gründlich. Wir
dürfen nicht vergessen: Erst mit dem 3. Oktober 1990 ist
Deutschland in die volle völkerrechtliche Gleichberechtigung
entlassen worden. Erst mit dem 3. Oktober 1990 und dem Ende der
deutschen Teilung konnte der völkerrechtliche Schlussstrich
unter den Zweiten Weltkrieg gezogen werden. Mehr noch: alle Grenzen
um Deutschland herum sind heute wechselseitig anerkannt. Und das
gab es in der deutschen Geschichte noch nie!
Deutschland ist heute eingebunden in die europäische und
atlantische Gemeinschaft, zu denen auch unsere östlichen
Partner gehören werden. Sie haben uns 1989/90 geholfen, und
jetzt ist es an uns, ihnen zu helfen - ihnen zu helfen auf ihrem
Weg in das europäische Bündnis.
Deutschland ist heute umzingelt von Freunden - auch das ist ein
Novum in unserer Geschichte! Es wurde erst möglich, nachdem
die Mauer ihren bedrohlichen Charakter, ihre aggressive Funktion
endgültig verloren hatte. Die Mauer hat Geschichte
geprägt und ist heute selbst Teil der Geschichte, Teil
persönlicher Erinnerungen, auf immer bewahrt im kollektiven
Gedächtnis.
In den letzten zehn, elf Jahren hat sich das Erscheinungsbild
Berlins, des vereinten Berlins stark gewandelt. Die Stadt ist
zusammen gewachsen - räumlich und baulich. Sie wächst
unter Schmerzen und Widerborstigkeiten kulturell und mental
zusammen. Der brutale Schnitt durch die Stadt, der einst ihren
Alltag bestimmte - vom Verkehrsfluss bis zu den täglichen
Gewohnheiten der Menschen in Ost und in West -, ist für
Touristen und für junge Menschen nur noch schwer
rekonstruierbar, der Geist jener Jahre nur schwer
nachfühl-bar.
Die verständliche Freude über den Mauerfall hat dazu
geführt, dass heute die Spuren dieser Grenze weitgehend aus
dem Stadtbild verschwunden sind. Das Abräumen, das Einebnen
dieser DDR-Hinterlassenschaft erfolgte überaus gründlich.
Und das ist aus einem Grund auch bedauerlich: Es erschwert die
Vermittlung eines authentischen Geschichtsbildes.
Gleichwohl: Wer sich heute über die doppelte Vergangenheit der
Stadt Berlin, über die Schrecken und Folgen der
jahrzehntelangen Teilung informieren will, findet vielfältige
Anhaltspunkte, Informationsstellen, kleinere Gedenkorte. Die Narbe
im Stadtkörper ist nicht verschwunden, und sie darf nicht
verschwinden: Sie gehört zum Gesicht dieser Stadt. Sie
erinnert an menschliches Leid.
Dass diese Erinnerung wachgehalten wird, verdanken wir wesentlich
dem Engagement von Opferverbänden, freien Trägern,
öffentlichen Institutionen, Kirchen, Stiftungen und einzelnen
Persönlichkeiten. Sie alle leisten eine sehr verantwortliche,
zumeist ehrenamtliche Arbeit, die allergrößten Respekt
verdient.
Ihnen wird nichts geschenkt, oft nicht einmal die gebotene
Aufmerksamkeit. Sie haben zu kämpfen gegen mancherlei
handfeste Widerstände, gegen die Ignoranz und
Gleichgültigkeit vieler Menschen, die nichts mehr hören
wollen "von gestern", und sie haben zu kämpfen um finanzielle
Unterstützung. Um so ermutigender sind, angesichts dieser
Probleme, die Ergebnisse ihrer Sisyphus-Arbeit.
So wurde beispielsweise in den Innenstadtbezirken der Mauerverlauf
mit doppelten Pflasterreihen im Straßenboden markiert.
Illustrierte Informationstafeln weisen auf die Bedeutung der
jeweiligen Orte hin. Die "Geschichtsmeile Berliner Mauer", zu der
es endlich auch Kartenmaterial gibt, macht den ehemaligen
Grenzverlauf und die damaligen Übergänge erfahrbar,
nachvollziehbar. Dieser Lehrpfad führt zu den
Mauer-Gedenkstätten und wird in den kommenden Monaten um
zusätzliche Stationen erweitert.
Ein sehr anschaulicher und hart erkämpfter Ort der Erinnerung
ist die Gedenkstätte Bernauer Straße, die auf dem
ehemaligen Todesstreifen zwischen den Bezirken Mitte und Wedding
einen räumlichen Eindruck von den Grenzanlagen vermittelt. Die
notwendigen historischen Informationen findet der Besucher im
dazugehörigen "Dokumentationszentrum Berliner Mauer".
Spuren des Grenzregimes lassen sich an vielen Ecken Berlins
entdecken - an der Oberbaumbrücke, am ehemaligen Übergang
Bornholmer Straße, am baulich und ästhetisch
verfremdeten "Checkpoint Charly". Und auch hier, am
Friedrich-Ebert-Platz, wird die Erinnerung wach gehalten. Jeder
Besucher, der vom Brandenburger Tor kommend in den Reichstag geht,
wird durch weiße Mahnkreuze auf der Parkseite an das traurige
Schicksal der Maueropfer erinnert.
Ein anderes, ebenso kenntliches Symbol ist der Wachturm am
Potsdamer Platz. Von ehemals 302 Türmen dieser Art sind heute
nur drei erhalten, einer davon im Stadtzentrum. Ich finde, dieser
Wachturm darf nicht zerstört oder "zurückgebaut" werden,
auch wenn das Grundstück noch so attraktiv sein sollte
für Tiefgaragen und andere Bauvorhaben. Wir haben eine
politische Verantwortung nicht nur für die Stadtbebauung,
sondern auch für unsere Geschichte. Und in dieser wurde schon
gründlich genug rasiert.
Wir brauchen diese authentischen Gedenkorte. Von ihnen darf und
soll Irritation ausgehen, und sie dürfen im heute schicken
Stadtraum ruhig wie eine Deformation oder wie eine Wunde wirken.
Gedenkorte bedürfen nicht der Ästhetisierung, der
Unterordnung unter andere Zwecke, und sie lassen sich nicht nach
Geld bemessen.
Die Aufgabe von Gedenkorten und von Gedenkveran-staltungen ist es,
gedankliche Anstöße zu geben. Den Schrecken in all
seinen Dimensionen können sie nicht reproduzieren. Sie
können Denkprozesse auslösen. Sie können die
Erinnerung an Geschichte wachhalten. Sie können auf eine
subtile Weise vermitteln, welche historischen Verwerfungen das
Leben von Generationen geprägt hat, das Leben der Eltern und,
vermittelt über sie, auch das Leben der Kinder. Die Kinder
können verstehen lernen, warum ihre Vorfahren so oder so
handelten. Und sie können noch gezieltere Fragen stellen:
Warum hast Du dich so oder so verhalten? Warum hast Du dieses getan
und jenes unterlassen? Und wenn dies geschieht, dann kann
Erinnerungsarbeit auch Gründe für heutiges Verhalten
liefern. Dann ist Erinnerungsarbeit ein lebendiger, ein
kommunikativer, ein heilsamer Prozess, aus dem Verant-wortung
für die Zukunft erwachsen kann.
In diesem Sinne danke ich allen, die sich an den Veranstaltungen
zum 40. Jahrestag des Mauerbaus beteiligen. Stellvertretend danke
ich der Bundeszentrale für politische Bildung, dem
Deutschlandfunk, dem Dokumentationszentrum Berliner Mauer, der
Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur sowie dem Zentrum für
Zeithistorische Forschung Potsdam."
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