Bundestagspräsident Thierse würdigt Theodor Heuss als "Vorbild für alle Demokraten"
Sperrfrist: Beginn der Rede
Es gilt das gesprochene Wort
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse erhält am Samstag,
14. Juli, in Stuttgart den "Theodor-Heuss-Preis" des Jahres 2001.
Anlässlich der Verleihung des Preises (Beginn der
Veranstaltung: 10.30 Uhr, "Alte Reithalle", Maritim-Hotel)
hält der Bundestagspräsident eine Dankesrede und
führt dabei aus:
"Der Theodor-Heuss-Stiftung und ihrem Kuratorium danke ich für
das Vertrauen, das sie mir mit der Zuerkennung des
Theodor-Heuss-Preises entgegen bringen. Mir ist bewusst: Sie nehmen
mich mit dieser Ehrung in die Pflicht, Sie verbinden mit dieser
Ehrung bestimmte Erwartungen an den Preisträger, an sein
politisch-moralisches Handeln.
Dieses Handeln muss sich messen lassen am wirkungsmächtigen
politischen Lebenswerk von Theodor Heuss - am Lebenswerk eines
Politikers, der mit Leidenschaft für demokratische Ziele und
Werte stritt und den antidemokratischen Bestrebungen seiner Zeit
das eigene Engagement für die Grund- und Freiheitsrechte,
für Menschenwürde, für Toleranz entgegen
setzte.
Theodor Heuss war nach 1945 für lernende Demokraten - wie Frau
Hamm-Brücher es einmal formulierte - "so etwas wie eine
Leitfigur, ein ‚Rocher de Bronze' im aufgewühlten Meer
der politischen und menschlichen Katastrophen". Er hat die
geistigen Grundlagen unserer Verfassung wesentlich mit geprägt
und die parlamentarische Demokratie als Staats- und Lebensform
beispielgebend verteidigt. Das Wissen um die Verdienste von Theodor
Heuss bei der Ausgestaltung der politischen Kultur in Deutschland
nimmt uns nachkommende Demokraten, Politiker wie Bürger, in
die Pflicht.
Theodor Heuss, unser erster Bundespräsident, war schon zu
Zeiten der Weimarer Republik davon überzeugt, dass die
"Demokratie keine Glücksversicherung ist, sondern das Ergebnis
politischer Bildung und demokratischer Gesinnung". Dies ist ein
Satz, der immer wieder gerne zitiert, doch allzu selten
hinterfragt, allzu selten auf seine Tauglichkeit für heute
untersucht wird.
Der von Theodor Heuss verwendete Begriff der demokra-tischen
Gesinnung klingt im Zeitalter der ethischen Diskurse zunächst
ein wenig altmodisch, ein wenig verbraucht, ein wenig nach letztem
Jahrhundert. Doch ist er das wirklich? Ist die Rede von
"demokratischer Gesinnung" ein alter Hut, ein Verlegenheitswort,
ein Unwort gar - wo wir doch mit Max Weber zwischen Gesinnungs- und
Verantwortungsethik zu unterscheiden gelernt haben? Welches sind
die Gesinnun-gen, die im Verständnis von Theodor Heuss die
Demokratie tragen? Und welcher Gesinnungen bedarf die Demokratie
heute?
Wer sich mit Theodor Heuss' Verfassungs- und
Demokratieverständnis beschäftigt hat, weiß, dass
dieses wesentlich gezeichnet war durch bittere geschichtliche
Erfahrungen - durch das erlebte Scheitern der Weimarer Republik und
durch das Wissen um die Verbrechen des Nationalsozialismus. Dieses
historische Wissen und das Wissen um die eigene Mitverantwortung
für den Lauf der Dinge prägten das politische Ethos des
Bundespräsidenten. Ich zitiere aus einer Rede von 1949: "Wir
dürfen nicht vergessen, dürfen auch nicht Dinge
vergessen, die die Menschen gerne vergessen möchten, weil das
so angenehm ist. Wir dürfen nicht vergessen die
Nürnberger Gesetze, den Judenstern, die Synagogenbrände,
die Abtransporte von jüdischen Menschen in die Fremde und das
Unglück, in den Tod. Das sind Tatbestände, die wir nicht
vergessen dürfen, weil wir es uns nicht bequem machen
dürfen."
Dieses "es sich nicht bequem machen dürfen" galt in besonderem
Maße auch für Heuss selbst, daran ließ er keinen
Zweifel. Am 23. März 1933 hatte Theodor Heuss als Mitglied des
Reichstags jenem Ermächtigungsgesetz zugestimmt, welches dann
Reichstag und Reichsrat von der Gesetzgebung ausschloss und die
nationalsozialistische Gewaltherrschaft erst
ermöglichte.
Heuss trug bis zu seinem Lebensende schwer an diesem politischen
Irrtum. Dass er ihn später öffentlich und selbstkritisch
reflektierte, ihn durch tätige Reue, durch vorbildliches
politisches Tun praktisch zu revidieren suchte, fundierte seine
Glaubwürdigkeit und Integrität im höchsten Amte
unserer Republik. Auch dadurch ist er ein Vorbild für alle
Demokraten geworden und geblieben.
Demokratische Gesinnung im Heuss'schen Verständnis setzt auf
die Veränderungsfähigkeit und
Veränderungsbereitschaft von Menschen. Egal wie wir uns
definieren, ob als Demokraten, als Liberale, als Christen: Wir
haben nicht das Recht, Menschen dauerhaft auf ihre Vergangenheit zu
fixieren, sie in das Gefängnis ihrer Geschichte einzusperren.
Ganz im Gegenteil: Wir haben die Pflicht, den Menschen
Veränderungen zuzutrauen, ihnen Umkehr und Läuterung zu
ermöglichen. Umkehr und Läuterung sind urchristliche
Motive, und diese Motive sind, so meine ich, auch in einer
Demokratie gut aufgehoben.
Für biographische Wandlungsprozesse haben wir in der
Geschichte unserer Demokratie viele Beispiele von Herbert Wehner
bis Werner Höfer. Für mich lautet die entscheidende
Frage, ob jemand Konsequenzen aus früheren Fehlern gezogen hat
und ob er in der Lage ist, sich glaubwürdig für die
Demokratie zu engagieren. Dazu gehört dann auch das Bekenntnis
zum Rechtsstaat und zur Gewaltfreiheit.
Dass es in der Diskussion um die Wandlungsfähigkeit von
Menschen um aktuelle Fragen geht, hat sich gerade erst in der
geschichtspolitischen Debatte um den 68er Aufbruch in der alten
Bundesrepublik gezeigt. Und es zeigt sich auch heute wieder, wo
innerhalb der PDS kontrovers bis unversöhnlich über die
historische Verantwortung der Partei und ihrer Mitglieder
gestritten wird - über den Mauerbau und seine Folgen.
Wer von der Lernfähigkeit der Demokratie überzeugt ist,
sollte auch den Menschen in der Demokratie Lernfähigkeit
zugestehen.
Ein System, das auf die bessere Einsicht der Menschen setzt, das
seine Gegner und Feinde integrieren kann, ist jedem System
unendlich überlegen, das seine Gegner und Feinde verfolgen,
inhaftieren, ausbürgern muss, um überhaupt überleben
zu können. Diese Offenheit gehört zur Demokratie, sie
begründet ihre Attraktivität, stellt aber in Krisenzeiten
zugleich auch ihren Angriffspunkt dar.
Und hier ist wieder, durchaus im Heuss'schen Verständnis,
über demokratische Gesinnung als reflektierte Handlungsoption
zu reden: Demokratie bedarf - und dies ist eine historische
Grundeinsicht - der verbreiteten Bereitschaft, sich an den
demokratischen Verfahren, am demokratischen Geschehen zu
beteiligen, und zwar dauerhaft zu beteiligen, auch im Interesse
anderer. Sie bedarf des selbstbestimmten Engagements möglichst
vieler Bürgerinnen und Bürger. Denn diese sind die
Akteure der Demokratie. Sie halten deren Lauf, deren Schicksal in
ihrer Hand.
(Theodor Heuss hat immer wieder darauf hingewiesen, dass Demokratie
als Lebensform die Demokratie als Staatsform ergänzen
müsse. Denn die Weimarer Republik war ja gerade an diesem
nichtvermittelten Widerspruch zugrunde gegangen. Der
ausgeprägte Mangel an überzeugten,
verantwortungsbereiten, couragierten Demokraten wurde ihr zum
Verhängnis).
Dass die Demokratie keine "Glücksversicherung", kein
Garantieschein, kein Selbstläufer ist, haben wir in den
vergangenen zehn Jahren wieder zur Kenntnis nehmen müssen - in
bestürzender Weise: Intoleranz, Fremdenhass, Antisemitismus,
Rechtsextremismus schlagen sich in brutalen Gewalttaten nieder.
Ausländerfeindliche Einstellungen sind heute wieder Teil des
Alltagsbewusstseins vieler Menschen. Sie sind kein
Randphänomen in unserer Gesellschaft, sondern sie reichen
hinein in deren Mitte, werden dort reproduziert.
Wir Parlamentarier, Lehrer, Journalisten, Eltern müssen uns
fragen: Was haben wir falsch gemacht bei der Vermittlung
demokratischer Werte, demokratischer Gesinnung, was haben wir
versäumt, dem Selbstlauf überlassen? Wo wurzeln diese
fürchterlichen Defizite in der Wertevermittlung? Und wie
können wir diese Defizite beheben?
Eine Selbstvergewisserung über unsere demokratischen Werte
findet offenbar bei uns in nicht ausreichender Weise statt. Viel zu
lange haben wir übersehen, dass sich die von Theodor Heuss und
anderen formulierten demokratischen Grundeinsichten, die 1949
Verfassungsrang erhielten und sich allmählich zum
gesellschaftlichen Konsens entwickelten, nicht von alleine in die
nächste Generation weiter vermitteln. Auf sie kann nicht immer
voraussetzungslos verwiesen werden. Vielmehr müssen sie wieder
viel mehr erläutert, begründet und vor allem von uns
Älteren vorgelebt werden.
Gleichheit von Ungleichheit, Recht von Unrecht unterscheiden zu
können, setzt einen Lernprozess voraus. Die Demokratie und die
rechtsstaatlichen Prinzipien als kostbares Angebot für
Freiheit, Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu
erkennen, bedarf der Mitwirkung, des Ausprobierens, der echten
Teilhabe an politischen Gestaltungsaufgaben. Dafür müssen
wir die Wege ebnen, dafür müssen wir Gelegenheiten
schaffen. Und dazu müssen wir vor allem die Jugendlichen immer
wieder neu ermutigen - innerhalb wie außerhalb der
klassischen Parteienlandschaft, in neuen, unkonventionellen
Bündnissen.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es sich lohnt, vor Ort - in
Schulen, Klubs, Initiativen - das Gespräch zu suchen mit jenen
Menschen, die sich öffentlich für die Demokratie
engagieren, die der schleichenden Verbreitung von Angst entgegen
treten, die ihre ausländischen Mitbürger gegen
Pöbeleien, gegen drohende psychische und physische Gewalt
verteidigen. Wir Politiker müssen diesen demokratisch
gesinnten Menschen den Rücken stärken - in der
unmittelbaren Begegnung und nicht nur über die Medien. Wir
dürfen die Mutigen, die Aufrechten, die Engagierten um keinen
Preis alleine lassen.
Die Theodor-Heuss-Stiftung zeigt auf ihre Weise, wie das gehen
kann: Ich bin froh und dankbar, dass sie heute neben zwei anderen,
sehr würdigen Initiativen dem Wurzener "Netzwerk für
Demokratische Kultur" Öffentlichkeit und Anerkennung zuteil
werden lässt. Gerade das Wurzener Beispiel zeigt, dass
organisierter Widerstand gegen die rechtsextreme Szene
möglich, äußerst sinnvoll und Schritt für
Schritt auch erfolgreich ist. Wenn Bürger sich zusammentun,
können sie Alternativwelten zur etablierten rechtsextremen
Szene entwickeln und dafür sorgen, dass die Opfer von Hass und
Gewalt nicht alleine bleiben.
Demokratische Gesinnung ist nicht allein in krisenhaften
Situationen gefragt, sondern auch im ganz normalen
gesellschaftlichen Alltag, im politischen Amt ebenso wie im
Ehrenamt. Sie erfordert ein gerütteltes Maß an
individueller Enttäuschungsbereitschaft. Wer etwas in Gang
setzen, bewegen, verändern will, der muss auch
zurückstecken können. Eine ausgeprägte
Enttäuschungsbereitschaft, eine hohe Toleranzschwelle sind in
der Demokratie Voraussetzung für das Aushandeln von
Kompromissen, für die Annäherung unterschiedlicher
Interessen. Hölderlin hat das Bild von der "Versöhnung
mitten im Streit" geprägt, ein schönes und zugleich
anspruchsvolles Bild, denn Streit ist das Wesen von
Demokratie.
Demokratie nimmt die Menschen so, wie sie sind. Sie glaubt nicht an
deren Unfehlbarkeit, und sie erwartet selten Helden-tum. Die
Demokratie geht davon aus, dass auch Politiker Menschen sind in
allen Schattierungen. Sie sind keine Heiligen, die nicht
hinterfragt, nicht kritisiert werden dürfen. Und weil dem so
ist, hat sich die Demokratie Regeln zur Selbstkontrolle geschaffen.
Sie verleiht Macht nur auf Zeit. Theodor Heuss sagte sehr treffend:
"Demokratie ist Herrschaftsauftrag auf Frist", und er hat die
Befristung der eigenen Amtszeit verteidigt gegen die Idee einer
Sonder-regelung - extra für ihn. Auch in diesem Verzicht auf
Sonderrechte zeigt sich demokratische Gesinnung.
Demokratische Verfahren leben von Einmischung, Beteiligung,
öffentlicher Kritik, aber auch von der Optimierung und
Veränderung ihrer Instrumente. Derzeit diskutieren wir
parteiübergreifend, wie wir die parlamentarische Demokratie
vitalisieren können, etwa durch die Einführung von
Volksinitiativen, Volksentscheiden, Volksbegehren. Wenn die
Bürger mehr Möglichkeiten bekommen, sich auch zwischen
den Wahlen einzumischen, sich zu artikulieren, politische
Forderungen einzubringen, die Legislative mit politischen
Aufträgen zu versehen, kann das für unsere Demokratie,
für deren Stabilität und Anziehungskraft, nur von Nutzen
sein. Ich hoffe sehr, dass wir auch auf Bundesebene mehr
Möglichkeiten direkter Bürgerbeteiligung schaffen
können!
Zeitgemäße Kompetenzvermittlung, Darstellung und
Begründung der demokratischen Werte, Erziehung zu
demokratischer Gesinnung durch das eigene politische Verhalten,
Kampf gegen Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit - das sind
Aufgaben, die sich uns - der Politik, der Bildung, den Medien, den
Familien - in dieser Bündelung, in dieser Komplexität neu
stellen."
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