Ansprache des Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse zur Verleihung des Medienpreises 2001 des Deutschen Bundestages am 27. November 2001
Es gilt das gesprochene Wort
"Der Deutsche Bundestag vergibt heute nun schon zum sechsten Mal
seinen Medienpreis. Warum tut der Deutsche Bundestag das? Diese
Frage zu stellen, scheint heute mehr berechtigt zu sein als in
allen Jahren zuvor. Leben wir nicht ohnehin in einer Mediokratie,
in der die Medien die Politik und die Politiker kontrollieren oder
sogar, wie ein aktueller Buchtitel nahelegt, "kolonisieren"? Muss
es denn sein, dass der Deutsche Bundestag die Schlangen, die ihn
beißen, auch noch nährt?
Nein, dieses Bild verzerrt die Wirklichkeit. Nur ein kleinerer Teil
der Medien verwechselt investigativen Journalismus mit dem
voyeuristischen Gefallen an Streit und tatsächlichen oder
angeblichen Skandalen. Die fundierte, sachliche Berichterstattung
über die Arbeit des Parlaments und ihre Hintergründe
herrscht vor. Nicht in dem Maße, wie ich es mir wünschte
- das muss ich schon von Amts wegen sagen. Aber die
überwiegende Mehrheit von Presse, Rundfunk, Fernsehen und
Internet-Diensten ermöglicht es jeder Bürgerin, jedem
Bürger, sich ein treffendes Bild von der parlamentarischen
Wirklichkeit Deutschlands zu machen.
So sehr manche Auswüchse des "Infotainment" auch zu
kritisieren sind - natürlich müssen wir, die Politiker,
uns auch an die eigene Nase fassen. Wenn in der Öffentlichkeit
der Eindruck entsteht, das Parlament habe nichts wirklich zu
entscheiden, dann ist dies zwar ein Fehlurteil. Es wird aber
unterstützt durch den vorauseilenden Bekenntnisdrang so
manches Mitgliedes dieses Hohen Hauses. Es gibt nun einmal
Kolleginnen und Kollegen, die warten nicht bis zur nächsten
Fraktions- oder Ausschusssitzung, sondern sie gehen den Weg
über die Medien, um Parlament und Öffentlichkeit
über ihre Meinungen, Vorschläge oder Initiativen zu
unterrichten. Dann stehen diese nicht auf der Tagesordnung des
Bundestages, sondern im "Spiegel" oder "Focus", gerne vorab und
exklusiv.
Gerne auch wird der Weg über die Talk-Show gewählt. Das
ist ja auch verführerisch. Vertrauliches lancieren, frei
dementieren, Gefälliges publizieren - es wird so leicht
gemacht, in den Medien präsent und damit politisch attraktiv
zu sein, wenn man sonst, in der Fraktion, in der Partei und auch im
Wahlkreis, verbindlich bleiben und sich in Zurückhaltung
üben muss.
Die politische Debatte aber, die nicht dort geführt wird, wo
über ihren Ausgang entschieden wird, nämlich im
Parlament, schwächt das Parlament. Sie schwächt das
Parlament nicht in seiner Entscheidungsautonomie, aber doch in
seiner Außenwirkung als der zentrale Ort der demokratischen
Meinungsbildung und Entscheidungsfindung.
Wie kann man gegensteuern? Nicht durch die Zurückverlagerung
von Entscheidungen in die Hinterzimmer der Macht unter Ausschluss
der Öffentlichkeit. Das wäre weltfremd in einer Zeit, in
der sogar die Olympischen Spiele sich nach den Sendezeiten der
großen Fernsehanstalten richten. Im Gegenteil: Das Parlament
muss schneller, beweglicher und noch offener werden. Debatten
über gesellschaftlich bewegende Themen sollten
frühzeitiger geführt werden, noch bevor daran gedacht
werden kann, diese Themen in Gesetzesform zu gießen. Wir
hatten das schon, ich erinnere an die parlamentarische Sternstunde,
die uns die Bioethik-Debatte geschenkt hat. Sie hat zweifellos dazu
beigetragen, die Autorität des Parlaments zu stärken und
sein Profil als Forum der Erörterung grundlegender, ethischer
Fragen zu schärfen.
Ein weiteres, wenn auch nicht neu: Wann immer möglich, sollten
Ausschüsse öffentlich tagen. Die Medien und die
Bürgerinnen und Bürger hätten dann die ganz
unmittelbare Möglichkeit mitzuverfolgen, wie Abgeordnete
verhandeln, wie sie sich in Sach- und Fachfragen streiten und -
natürlich auch - wie sie sich aufeinander zu bewegen.
Den Abgeordneten häufiger und intensiver auf die Finger
schauen, oder besser: ihre Arbeit kritisch-konstruktiv begleiten zu
können, hierfür können und sollten beide, Parlament
und Medien, mehr tun. Nicht umsonst hat der Deutsche Bundestag im
Sommer das Pilotprojekt zur "elektronischen Demokratie" gestartet.
An diesem interaktiven Austausch kann grundsätzlich jede
Bürgerin und jeder Bürger teilnehmen und sich an der
Diskussion der Gesetzesvorhaben zur Modernisierung des
Informationsrechts beteiligen.
Voraussetzung für eine kritisch-konstruktive Begleitung des
parlamentarischen Prozesses aber ist, dass man weiß, wovon
man spricht. Hier stehen die Journalisten, gleich welchen Mediums,
vor derselben Aufgabe, wie jeder Dolmetscher oder Übersetzer:
Zum einen müssen sie die "Ursprungssprache" verstehen, also
die tatsächlichen Strukturen und Abläufe in einer
parlamentarischen Demokratie am Beginn des 21. Jahrhunderts
möglichst genau kennen. Zum anderen müssen sie die
"Zielsprache" beherrschen, sie müssen wissen, welche Begriffe
und Bilder geeignet sind, dem jeweiligen Publikum zum
Verständnis des Geschehens zu verhelfen. Ein authentisches
Bild von der Wirklichkeit des Deutschen Parlamentarismus` und der
Innenseite der Abgeordnetentätigkeit zu zeichnen, ist also
durchaus schwierig, kann aber spannend sein, und es hilft,
Vorurteile wegzuwischen und einer fatalen "Politikerverdrossenheit"
vorzubeugen.
Ich will an dieser Stelle nicht ins einzelne gehen, dies ist
ohnehin dem Vorsitzenden der Jury, Herrn Dr. Helmut Herles,
vorbehalten. Doch unsere heutigen Preisträger, Herr Steffen
Mack vom Mannheimer Morgen und Herr Dr. Christian Vogg vom WDR
Radio 5, haben mit ihren ausgezeichneten Beiträgen ein solches
authentisches Bild wiedergegeben. Wir erfahren: MdB`s sind eben
auch "nur Menschen", und diese von nahem kennen gelernt zu haben
und ihre parlamentarischen Probleme und Alltagssorgen
nachvollziehen zu können, verdanken wir den Preisträgern.
Liest man ihre Beiträge, hört man ihre Features, wird
klar: Der Bundestag ist eben keine bloße
Ratifizierungsmaschine, und im Bundestag wird Politik nicht etwa
nur inszeniert, sondern wirklich gemacht.
Nun habe ich also die Preisträger schon gelobt, als Politiker
heftige Selbstkritik geübt und auch die Medien ordentlich
gescholten. Aber ich will einlenken und nochmals hervorheben: Es
ist ja auch schwer. Berichten die Medien detailliert und
ausführlich über die Rentenproblematik, dann wird das
schnell zum vermaledeiten "Fachchinesisch", und der Zuschauer
schaltet ab oder der Leser blättert weiter zum Feuilleton.
Andererseits: Spricht ein Parlamentarier frank und frei und frisch
von der Leber weg, scheint das zwar zuhörerfreundlich. Nicht
selten ertönt dann aber der Vorwurf von der geringen
Informationstiefe, der fehlenden Analyse oder dem mangelnden
Problembewusstsein. Es scheint: Wie man es macht, man macht es
falsch. Darum mein Appell an die dritte Gruppe im Bunde, um die es
bei allem ja schließlich geht: Die Bürgerinnen und
Bürger. Haben Sie den Mut und die Ausdauer, sich auch in
kompliziertere politische Inhalte hineinzudenken!
Nicht alle Politikbereiche lassen sich mundgerecht darstellen und
in kleinen verdaulichen Häppchen konsumieren. Wir sind nicht
schon dadurch mündige Bürger, dass wir einer telegenen,
"1-30-Polit-Botschaft" zuhören. Es bedarf auch unseres aktiven
Interesses, uns mit den Hintergründen und den Ursachen
politischer Probleme und mit den Möglichkeiten ihrer
Lösung auseinander zu setzen. Wenn dieses Interesse fehlt,
lässt es sich auch nicht durch die unterhaltsamste
Parlamentsdebatte oder witzigste Glosse auf Seite Drei erzeugen,
jedenfalls nicht auf Dauer.
Interessefähigkeit ist selbstverständlich auch eine
Bildungsfrage. Sicher - und nun schelte ich erneut - ließe
sich so manches auch in der Schule verbessern. Vielleicht
würde ein verstärkter Staatsbürgerkunde-Unterricht
helfen. Jedenfalls erfahre ich leider allzu häufig, dass das
Wissen über die Grundlagen unserer parlamentarischen
Demokratie bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen nicht immer
fundiert ist. "Und wer nicht weiß", da gebe ich Dr. Wilm
Herlyn, dem dpa-Chefredakteur recht, "wie der Staat funktioniert,
kann sich auch nicht dafür interessieren oder gar
begeistern".
Warum vergeben wir den Medienpreis? Die eingangs gestellte Frage
habe ich bislang nur "zwischen den Zeilen" beantwortet. Ich will es
kurz machen: Der Medienpreis ist angewandte Medienethik. Wir
prämieren damit Journalisten, die sowohl der kritischen
Berichterstattung, als auch einem gewissenhaften Umgang mit ihrem
Thema gerecht werden, Arbeiten, die Schwächen und Mängel
im parlamentarischen System aufdecken, zugleich aber auch das
Verständnis für den Parlamentarismus fördern,
schließlich und nicht zuletzt prämieren wir eine
journalistische Werthaltung, die der Wahrhaftigkeit verpflichtet
ist und darum dasselbe von den politischen Akteuren verlangen
darf.
Würde der Deutsche Bundestag sich die lobenswerten Arbeiten
selbst heraussuchen, wäre diese "angewandte Medienethik" wenig
glaubwürdig. Der Bundestag stünde vielmehr in Gefahr,
affirmative Berichterstattung zu würdigen, letztlich also sich
selbst zu prämieren. Darum hat der Präsident des
Deutschen Bundestages eine unabhängige Fachjury einberufen.
Sie hat die Bewerbungen gesichtet, diskutiert und mit großem
Ernst bewertet. Diese Jury setzt sich aus versierten,
hochanerkannten Standeskollegen und -kolleginnen der
journalistischen Zunft zusammen. Ich stelle sie Ihnen namentlich
kurz vor, es sind:
Dr. Helmut Herles vom Bonner General-Anzeiger als der Vorsitzende,
Stephan-Andreas Casdorff vom Tagesspiegel, Dr. Henning Frank,
freier Journalist, Dr. Friedrich-Karl Fromme von der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung, Dr. Gunter Hofmann von der "Zeit", Wolf von
Lojewski vom ZDF, Dr. Ute Reichert-Flögel, früher beim
Deutschlandfunk, Martin E. Süskind, bis vor kurzem
Chefredakteur der Berliner Zeitung, und Ulrike Wöhning vom
WDR.
Ich freue mich, Ihnen heute und an dieser Stelle für das
mühevolle Kopfzerbrechen, das Ihnen die Auswahl der
Preisträger ohne Frage bereitet hat, herzlich danken zu
können. Die Politik fordert ja immer "mehr
bürgerschaftliches Engagement" - Sie leisten es mit Ihrer
ehrenamtlichen Mitwirkung als Jurymitglieder des Medienpreises des
Deutschen Bundestages."
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