Bundestagspräsident Thierse bei der Eröffnung des "International Dialogue for Young Elites"
Es gilt das gesprochene Wort
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat heute zur
Eröffnung des "International Dialogue for Young Elites" der
Firma Daimler-Chrysler und der Deutschen Gesellschaft für die
Vereinten Nationen in Berlin nachstehende Rede gehalten:
"Es ist eine ebenso gängige wie irrige Auffassung, daß
Geld die Welt regieren könne. Zwar wird niemand den
Einfluß der Wirtschaft auf unser Leben ernsthaft in Abrede
stellen: Wir haben das Bruttosozialprodukt zur Meßlatte
für das Wohlergehen einer Gesellschaft erklärt, wir
sorgen uns um die Attraktivität von "Standorten", weil wir auf
Arbeitsplätze angewiesen sind, wir informieren uns
alltäglich, ja stündlich über die Entwicklung der
Börsenkurse - wohl wissend, daß ihre Regungen weltweite
Erschütterungen auslösen können. Doch angesichts
elementarer Krisen erweist sich immer wieder die Politik als
unverzichtbarer Ordnungsfaktor, als gefragte Vermittlungsinstanz,
als notwendige Gestaltungskraft - nach dem 11. September mehr denn
je.
Der internationale, fundamentalistisch motivierte Terror hat die
Politik nicht mit einer, sondern mit einer ganzen Reihe von
Herausforderungen konfrontiert. Als erstes geht es darum, eine
fanatische, global operierende Minderheit an weiteren Morden zu
hindern. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie das
ganz ohne Gewalt gehen sollte. Dennoch: Die Entscheidung für
Gewalt ist eine ungeheuerliche. Sie ist der unzureichende, aber
notwendige Versuch, verlorene Sicherheit wieder herzustellen.
Jeder, der bewußt Terrororganisationen beherbergt und
schützt, muß wissen, daß das Folgen haben wird.
Afghanistan hat einer Terrorbande Schutz geboten, die
Verkehrsflugzeuge und ihre unschuldigen Fluggäste in fliegende
Bomben verwandelten und einen hinterhältigen Massenmord
begingen - lediglich um ein Fanal zu setzen. Das ist durch nichts
zu rechtfertigen. Darin ist sich eine breite, zuvor utopisch
anmutende Koalition von Staaten in aller Welt einig - ungeachtet
ihrer unterschiedlichen kulturellen und religiösen
Grundlagen.
Dennoch dürfen wir uns nicht einer rein militärischen
Logik unterwerfen, die uns in eine fortwährende Eskalation von
Gewalt treibt. Terror ist die extremste, die perverseste Form eines
aggressiven Fundamentalismus, der immer mehr Anhänger findet.
Langfristig ist diesem erschreckenden Phänomen nicht mit
Militäreinsätzen allein beizukommen. In Deutschland haben
wir deshalb begonnen zu fragen, welche Maßnahmen
zusätzlich erforderlich sind. Selbstverständlich brauchen
wir eine internationale Gerichtsbarkeit, an der auch die USA
mitwirken, um Kriegsverbrecher und global agierende Verbrecher wie
Bin Laden verurteilen und einer gerechten Strafe zuführen zu
können. Selbstverständlich brauchen wir internationale
Kriminalitätsbekämpfung einschließlich der
Möglichkeit, internationalen Terroristen den Zugang zu
finanziellen und andere logistischen Mittel zu versperren. Und
selbstverständlich ist es höchste Zeit, sich des
interkulturellen Dialogs konkreter als in Sonntagsreden
zuzuwenden.
Sie alle kennen das gefährliche Schlagwort vom "Kampf der
Kulturen". Sein Urheber Samuel Huntington sagte jüngst ganz
richtig, die Terroristen wollen diesen Kampf erzwingen, aber die
Zivilisation müsse ihn vermeiden. Deshalb sehe ich die zweite
Herausforderung darin, keine falschen Feindbilder zu malen. Die
Inanspruchnahme von Religion, von Kultur zur Begründung von
Terror ist deren schlimmer Mißbrauch. Das haben wir immer
wieder deutlich zu machen. Es gibt keine feindlichen Kulturen, und
wer der Versuchung erliegt, mit den Terroristen ganze Kulturen zu
stigmatisieren, der geht ihnen auf den Leim. Die Auseinandersetzung
läßt sich auch nicht auf religiösen Streit
reduzieren - schon allein deshalb nicht, weil der islamistische
Fundamentalismus Religion vereinnahmt, politisiert und
instrumentalisiert. Den Dialog der Kulturen auf eine
Auseinandersetzung zwischen Religionen zu konzentrieren
hieße, genau in die "Islamistenfalle" zu tappen, von der der
Rechts- und Islamwissenschaftler Mathias Rohe gesprochen hat.
Die dritte, langwierigste Herausforderung ist es zu klären,
wie ein richtig, weil umfassend verstandener "Dialog der Kulturen
und Religionen" geführt werden kann. Diejenigen, die als
Antwort auf die falschen Propheten des "Kampfes" zu Recht einen
"Dialog" fordern, erwecken häufig den Eindruck, dieser Dialog
erschöpfe sich darin, daß sich Geistliche und Gelehrte
aus Islam und Christentum, aus Buddhismus und Judentum an einen
runden Tisch setzen und über Unterschiede und Gemeinsamkeiten
ihrer Religionen reden. Ich will diese gute Absicht nicht
karikieren, im Gegenteil: Ich halte den interreligiösen Dialog
für dringend notwendig, vor allem auch mit Blick auf das
friedliche Zusammenleben verschiedener Religionen innerhalb unserer
Gesellschaft. Das Unwissen über andere, fremde Religionen ist
auch deshalb erschreckend, weil es ein Nährboden ist, auf dem
die Vorurteile und Feindbilder von Extremisten jeder Art gut
gedeihen.
Die voran schreitende Globalisierung führt unweigerlich zu
einem intensiveren Austausch verschiedener Kulturen, der oft
erwünscht und fruchtbar ist, der oft aber auch erzwungen und
konfliktträchtig ist. Um das mindeste und doch wichtigste zu
erreichen - nämlich friedliche Koexistenz - müssen wir
lernen, religiöse Differenzen und interkulturelle Spannungen
auszuhalten.
Vielleicht hilft hierbei die Erinnerung an einen der positiven
Aspekte aus der Zeit des "Kalten Krieges", auf die ja der Begriff
der "friedlichen Koexistenz" zurückgeht - eine Zeit
übrigens, die glücklicherweise und als Ergebnis dieser
Politik der Koexistenz überwunden ist. Allzu schnell sind die
Stichworte vergessen, die hier eine Rolle gespielt haben:
Dauerhafter Friede ist nur zu erreichen auf der Basis des
Gewaltverzichts sowie der Idee der gemeinsamen Sicherheit. Damals
hieß die Bedrohung "nuklearer overkill", heute heißt
sie "marodierender Terrorismus". Das ist wahrlich nicht dasselbe
und kann nicht eins zu eins übersetzt werden. Aber der
Grundgedanke muß in dieser noch fragilen internationalen
Koalition gegen den Terrorismus wieder lebendig werden, daß
das gemeinsame Interesse der sonst ganz unterschiedlichen Staaten
und Kulturen die Sicherheit ist, die von international operierenden
terroristischen und mafiösen Banden bedroht wird. Auch bei der
KSZE der achtziger Jahre wurde keine Werteindifferenz oder gar
-konvergenz propagiert. Der "Menschenrechtskorb" in Helsinki stand
nicht zur Disposition und war nicht leerausverhandelbar. Das war
die unabdingbare Zumutung für den Osten, und daran werden sich
auch heute Staaten messen lassen müssen, die mit islamischem
Fundamentalismus liebäugeln.
Aber jenseits dessen galt für den KSZE-Prozeß, daß
kulturelle Differenzen ihrer ideologischen Hülle entkleidet
und somit austragbar und aushaltbar gemacht wurden.
Ist es nicht eine Stärke unserer offenen Gesellschaften,
über das Verstehen-Wollen des Anderen, Fremden,
Gegensätzlichen angemessene Antworten auf diese
Herausforderung zu finden? Sicher: Toleranz ist eine schwierige,
herbe Tugend, die so ziemlich das Gegenteil ist von bequemem
laissez-faire, von Werterelativismus, von
Überzeugungslaxheit.
Die notwendige Voraussetzung für einen Dialog der Kulturen
kann Toleranz nur dann sein, wenn sie nicht auf Indifferenz,
sondern auf gegenseitigem Respekt beruht. Eine richtig verstandene
Toleranz liegt für mich in dem Versuch, immer wieder neu die
unterschiedlichen Werthaltungen, Entscheidungsgrundlagen und
Erwartungen auszuloten, die die Ursache so vieler Konflikte sind.
Die dafür notwendigen Kommunikations-, Verständigungs-,
Übersetzungsprozesse zu organisieren, ist die eigentliche und
wichtigste Aufgabe des Dialogs der Kulturen.
Und damit ich nicht mißverstanden werde: Dieser Dialog ist
nicht nur eine abstrakte, internationale Aufgabe. Es muß hier
und heute in unserem Land beginnen. Mehrere Millionen Muslime leben
in Deutschland - ist uns diese Herausforderung schon wirklich
bewußt? Was tun wir gegen die Bildung von türkischen
Wohnghettos in unseren Städten? Wie gehen wir mit dem
komplizierten Geflecht von Religionsfreiheit und dem Schutz
Jugendlicher vor religiös-fundamentalistischer Indoktrination
um?
Haben wir wirklich schon begriffen, daß in diesen Fragen
nicht nur Bedrohliches, sondern auch Chancen stecken? Böte
nicht ein sich langsam herausbildender "Euro-Islam" bessere
Möglichkeiten, auch in den Herkunftsländern unserer
Immigranten die Debatte über eine sinnvolle Trennung von Staat
und Kirche zu entfachen? Müßten wir dazu aber nicht
selbst mehr Energie darauf verwenden, Foren zu schaffen, auf denen
in Deutschland Christen, Atheisten, Moslems und Juden miteinander
produktiv und friedlich streiten können? Müssen wir gar -
wenn unsere türkischstämmigen Mitbürgerinnen und
Mitbürger sich dazu weiterhin nicht selbständig in der
Lage sehen - selbst als Staat aus wohlverstandenem eigenen
Interesse den Rahmen für eine "muslimische Anstalt des
öffentlichen Rechts" schaffen, wie es für die
christlichen Kirchen selbstverständlich ist?
Fragen über Fragen, aus denen Sie eine Reihe meiner Antworten
unschwer ablesen können. Nochmals auf den Punkt gebracht: der
Dialog der Kulturen und Religionen muß auch hier und heute
bei uns selbst beginnen, und er darf weder praxisfern noch
folgenlos sein.
Das bedeutet aber auch, daß dieser Dialog kein Spaziergang
sein wird, bei dem Gelehrte oder Politiker unverbindlich ihre
Meinungen austauschen. Der Dialog der Kulturen ist ein Dialog der
wechselseitigen Zumutungen, der nicht nur den anderen, sondern auch
uns selbst Offenheit und Veränderungsbereitschaft abfordert.
Der Dialog der Kulturen ist weder Allheilmittel noch Placebo. Er
ist eine bittere Medizin für alle, die sich daran
beteiligen.
Für den Islam ist die wohl größte Zumutung die
Konfrontation mit der westlichen Offenheit, mit
Säkularisierung und Religionsfreiheit. Der Weg dahin, also zur
Trennung von Kirche und Staat, der deutlichen Unterscheidung von
Religion und Politik, der Prozeß der Aufklärung also,
hat in Europa einige hundert Jahre Zeit gebraucht, und nun wird er
den islamischen Gesellschaften binnen kürzester Frist
abverlangt. Dies als Zumutung zu erkennen heißt nicht, sie
den islamischen Gesellschaften zu ersparen. Doch es heißt
anzuerkennen, daß jedes Land seinen eigenen Weg in die
Moderne finden muß. Für den Westen ist es wohl die
größte Zumutung, daß wir uns damit konfrontieren
(lassen) müssen, welche im umfassenden Sinn "kulturellen"
Folgen wir mit unserer Art des Wirtschaftens, des Produzierens, des
Vermarktens hervorrufen.
Ist uns wirklich bereits bewußt, in welch unerhörtem
Ausmaß wir mit diesen uns geradezu selbstverständlich
erscheinenden Mechanismen in jahrhundertealte traditionelle
kulturelle Praxen anderer Völker eingreifen? Ist uns klar,
daß wir auf diese Weise die Auflösung von Bindungen der
verschiedensten Art forcieren - der Familie, der Stämme, der
Clans, der ruralen Marktbeziehungen und vieles mehr -, ohne die
zwar unsere westliche Gesellschaft (vielfach auch mehr schlecht als
recht), traditionellere Kulturen aber noch gar nicht auskommen und
existieren können? Hier werden Selbstversorgungsketten und
-prozesse unterbrochen, ohne daß bereits Neues an deren
Stelle treten könnte.
Auf einigen meiner Reisen gerade in Länder mit starken
islamischen Traditionen, einem Schwerpunkt meiner
Reisetätigkeit in dieser Wahlperiode, (sei es in Marokko oder
in Usbekistan) bin ich gerade auch auf diese Zusammenhänge
immer wieder aufmerksam gemacht worden. Es geht vielen islamischen
Gelehrten dieser Länder überhaupt nicht darum, uns
Christen und Westlern von ihrem Glauben überzeugen zu wollen.
Aber sie sehen mit großer Sorge auf unsere Gesellschaften und
die ja durchaus offenkundige Tatsache, daß Globalisierung und
Individualisierung als zwei Seiten einer Medaille den
religiösen wie kulturellen Zusammenhalt auch der westlichen
Welt bedrohen. Hier haben wir genügend Anlaß auch zur
selbstkritischen Reflexion und Auseinandersetzung.
Die Vermischung und Durchdringung verschiedener Kulturen - die
Ethnologie spricht von "Kreolisierung" - findet ja im übrigen
keineswegs unter gleichen Voraussetzungen, mit gleichen
Kräften statt. Was wir heute als Globalisierung verstehen, ist
eine westlich dominierte Wirtschaftsmacht, die sich über
entgrenzte Märkte ausbreitet, die in alle Kulturen eindringt
und die - wenn ich diese Schlußfolgerung wagen darf -
versucht, die Menschen auf ihre ökonomischen Funktionen als
Konsumenten und Produzenten zu reduzieren. Der bedeutendste
zeitgenössische deutsche Philosoph Jürgen Habermas hat
kürzlich formuliert: "Die Sprache des Marktes dringt heute in
alle Poren ein und preßt alle zwischenmenschlichen
Beziehungen in das Schema der selbstbezogenen Orientierung an je
eigenen Präferenzen."
In der Bundesrepublik Deutschland und in vielen anderen
europäischen Ländern ist die soziale Marktwirtschaft der
weitgehend geglückte Versuch, wirtschaftlichen Erfolg und
soziale Verpflichtung in einen Ausgleich zu bringen. Der
Sozialstaat ist in einem längeren Prozeß zu einem
stabilen gesellschaftlichen Konsens geworden, der in der Gegenwart
allerdings prekär geworden zu sein scheint. Denn die
Globalisierung bietet die Möglichkeit, daß sich
Unternehmen dem sozialen Konsens entziehen: durch
Arbeitsplatzverschiebung in Niedriglohnländer, durch
Abfluß der Gewinne in Steueroasen, durch Umgehung von
Umweltauflagen, durch das Ausnutzen politischer Ohnmacht in armen
Ländern des Südens.
Sie alle kennen die umstrittene These von Francis Fukuyama, nach
dem Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus sei das "Ende
der Geschichte" gekommen, eine Periode ohne grundlegende
Veränderungen, in der der Geist des freien Marktes zum
politikfreien Dauerzustand werde. Der Drang nach immer höheren
Profiten als oberste Maxime menschlichen, gesellschaftlichen
Handelns - diese gar nicht so fiktive Vorstellung verursacht selbst
in den westlichen Gesellschaften, die als Quellen und
Ausgangspunkte der Globalisierung dingfest gemacht werden
können, eine gute Portion Unbehagen. Wie sehr muß sie
dann die Gesellschaften irritieren, die sich als Opfer einer
Entwicklung begreifen - begreifen müssen -, die sie selber
nicht beeinflussen können?
Wirtschaftliches Handeln schafft und befördert von jeher
Kontakte zwischen Kulturen, bewirkt aber auch Übervorteilungen
und Spaltungen in Erfolgreiche und Erfolglose und begründet
dabei Konflikte, in deren Dienst kulturelle und religiöse
Gefühle und Überzeugungen geraten. Viel zu lange hat der
Westen die Augen davor verschlossen, welche Folgen die
ökonomische Globalisierung interkulturell hat, ja haben
muß - gerade für die Menschen in den Ländern der
südlichen Hemisphäre. Deren Gefühle hat die indische
Schriftstellerin Arundhati Roy in ihrem in der FAZ
veröffentlichten Essay "Wut ist der Schlüssel" in
eindrucksvolle bedrängende Bilder gefaßt.
Sie spricht von "marodierenden Multis" die sich (ich zitiere)
"gnadenlos wie ein Heuschreckenschwarm durch die Wirtschaft armer
Länder gefressen haben, die sich die Luft aneignen, die wir
einatmen, die Erde, auf der wir stehen, das Wasser, das wir
trinken, unsere Gedanken." Natürlich dürfen ihre Worte
die Terrorangriffe des 11. September nicht rechtfertigen. Das
betont die Autorin glaubhaft, sonst wäre sie auch nicht
zitierfähig. Aber, auch wenn es unbequem ist: Wir müssen
auch den Blick von außen auf uns wahrnehmen, uns dieser
Kritik stellen, uns endlich ernsthaft mit den Ursachen jener Wut,
Verzweiflung und Aggressivität befassen, auf denen der
islamistische Terrorismus seine Aggressionen gegen den Westen
gründet.
Die keineswegs neue Frage, wie der Westen auf solche Gefühle
von wirtschaftlicher und kultureller Unterdrückung politisch
sensibel reagieren kann, steht plötzlich ganz oben auf der
Agenda - wir können sie nicht mehr beiseite schieben. Zu
offensichtlich ist der Widerspruch geworden zwischen dem, was wir
wissen, um dem, welche Konsequenzen wir daraus ziehen. Die
Terroranschläge haben uns vor Augen geführt, was wir
bisher - sei es aus Egoismus, aus Bequemlichkeit oder schlicht aus
Ratlosigkeit - ignoriert haben: Fukuyama wird wohl nicht damit
Recht behalten, daß das globalisierte kapitalistische System
als der unveränderte, unbeschädigte, unangefochtene
Maßstab für diesen Globus weiter bestehen bleibt. Die
Anschläge haben uns die Illusion genommen, die
wirtschaftlichen, politischen, kulturellen Abhängigkeiten
seien einseitig, die erfolgreichen westlichen Gesellschaften
unverwundbar. Wenn wir nicht dafür sorgen, daß auch die
Menschen in den anderen, ärmeren Regionen der Welt in
materieller, sozialer und kultureller Sicherheit leben können,
ist auch unsere Sicherheit gefährdet. Angesichts der
existenziellen Bedrohung haben wir begonnen zu fragen: Wie leben
wir mit dem Bewußtsein der Verwundbarkeit der
hochtechnisierten Moderne? Was schafft "gemeinsame Sicherheit"? Wie
muß eine zivilisierte Weltordnung beschaffen sein, damit sie
als Rechtsordnung durchsetzbar ist.
Hunger, Armut, Naturzerstörung und die damit einhergehenden
Gefühle von Ohnmacht und Perspektivlosigkeit sind die
größte Bedrohung für eine friedliche Welt. Die
Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung wird
immer größer - innerhalb der westlichen Gesellschaften,
vor allem aber zwischen den reichen und den armen Ländern
dieser Welt. Zwischen 1960 und 1995 konnten die 20 reichsten
Länder der Welt ihr Bruttoinlandsprodukt verdoppeln,
während das der 20 ärmsten Länder praktisch gleich
geblieben ist. In fast allen Ländern, die das
marktwirtschaftliche System eingeführt haben, ist zwar die
Wirtschaft gewachsen, aber die Gewinne kamen nicht allen Menschen,
sondern einer jeweiligen Minderheit zugute. Immer noch hungern
über 800 Millionen Menschen, immer noch müssen über
eine Milliarde Menschen von weniger als einem Dollar leben. Solche
Zahlen belegen, daß von der Globalisierung in ihrer
gegenwärtigen Form am meisten diejenigen profitieren, die es
am wenigsten nötig haben.
Es ist beschämend, daß wir erst jetzt über die
Konsequenzen nachdenken, die unser Wissen über den - vornehm
ausgedrückt - kulturellen Wandel längst nahe gelegt hat:
Kulturelle Verletzungen sind die andere Seite der Medaille
"Globalisierung". Wenn Menschen glauben, die eigene Kultur werde
verdrängt, die Religion mißachtet, ihre Bindungen
würden aufgelöst, dann folgen ihre Reaktionen bekannten
Mechanismen - übrigens nicht nur in den islamischen
Ländern, sondern auch bei uns. Hier wie dort besteht die
Gefahr, daß Überforderungsängste und
Vereinfachungsbedürfnisse radikale Antworten suchen.
Wir müssen uns eingestehen, daß wir uns in der Situation
von Goethes Zauberlehrling befinden, der die Geister, die er rief,
nicht mehr los wird. Im Unterschied zu diesem Zauberlehrling
wollten wir nichts davon wissen, daß wir die Geister gerufen
haben. Aber wir haben im Unterschied zu ihm noch die Chance, diese
Geister loszuwerden. Was müssen, was können wir tun?
Erstens tragen wir Mitverantwortung dafür, daß die
internationalen Finanzmärkte Spekulationslawinen und
Währungskrisen auslösen, die die Menschen in den
ärmsten Ländern mit weiterer Verarmung bezahlen
müssen. Wir brauchen Regeln, Regulierungsinstrumente für
diese Märkte, etwa in der Art der derzeit so kontrovers
diskutierte Tobin-Steuer. Zweitens stehen wir in der Verantwortung,
faire Produktions- und Handelsbedingungen auf den globalen
Güter- und Dienstleistungsmärkten zu schaffen. Drittens
brauchen wir mit Blick auf die Arbeitsmärkte internationale
Standards, um weltweit menschengemäße Arbeitsbedingungen
durchzusetzen.
Und vor allem tragen wir - viertens - Mitverantwortung für den
zerstörerischen Umgang mit natürlichen Lebensgrundlagen.
Die Verseuchung des Niger-Deltas ist wohl das augenfälligste
Beispiel für die ökologische Rücksichtslosigkeit
westlichen Wirtschaftens. Allzu oft geht sie mit kultureller
Ignoranz einher, wie gegenüber dem Volk der Ogoni (Sie
erinnern sich vielleicht an die Hinrichtung des Schriftstellers Ken
Saro-Wiwa in Nigeria). Nur ein Mindestmaß ethischen
Empfindens - ganz gleich, welcher kulturellen Grundlage es auch
entspringt - hätte ausreichen sollen, nicht auf diese Weise
mit Menschen und ihren natürlichen Lebensgrundlagen umzugehen
- schon gar nicht, um auf ihre Kosten eigenen Nutzen daraus zu
ziehen. Solche Auswüchse kultureller Ignoranz sind letztlich
nichts anderes als die Missachtung elementarer zivilisatorischer
Regeln. Der Markt, der solche Entsetzlichkeiten produziert, ist
keine so abstrakte Größe, wie das Wort suggeriert. "Der
Markt" wird gestaltet von Unternehmen und den Menschen, die darin
arbeiten. Sie sind durchaus in der Lage, ihre Verantwortung
für die Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte zu erkennen
und die notwendigen Schlüsse daraus zu ziehen.
Immerhin ist seit der "Shareholder-Debatte" der neunziger Jahre das
Interesse von Unternehmern an einer gesellschaftlichen Debatte um
die Grundwerte zivilisierten Zusammenlebens deutlich gewachsen.
(Doch oft genug bleibt man noch an der "Garnitur" hängen. Der
Schutz der Umwelt oder die Unterstützung von Künstlern,
Konzerten und Ausstellungen dienen oft genug vor allem dazu, das
"Image" eines Unternehmens aufzupolieren. Würde es dabei
bleiben, wäre das bloß wieder die Ökonomisierung
der Kultur und nicht der ernsthafte Versuch, Ökonomie und
Kultur in ein neues Verhältnis zueinander zu bringen.)
Weil der Markt allein keine Rücksicht auf die Endlichkeit
natürlicher Ressourcen nimmt, weil er keine soziale
Gerechtigkeit schafft und erst recht keinen Respekt vor
unterschiedlichen Kulturen und Lebensweisen aufbringt, muß
die Globalisierung politisch gesteuert werden. Dabei müssen
die Vereinten Nationen eine glaubwürdige, effektive Rolle
spielen. Allerdings können internationale Vereinbarungen nur
so viel bewirken, wie die nationalen Regierungen zulassen, wollen,
umsetzen. Wie unzureichend ihre Bereitschaft zur
Selbstverpflichtung bisher noch ist, das haben die
Umweltkonferenzen von Rio bis Marrakesch auf dramatische Weise
deutlich gemacht. Vielleicht, hoffentlich eröffnet der Horror
des 11. September in diesem Sinne auch eine neue weltpolitische
Chance. Wenn sich die Bereitschaft zu neuen Formen internationaler
Kooperation durchsetzt, die sich in diesen Wochen nach dem
Terroranschlag abgezeichnet hat, dann könnte vielleicht auch
das früher belächelte Wort von der "Weltinnenpolitik"
konkret werden.
Erste Priorität einer "Weltinnenpolitik" muß die
Bekämpfung von Ausbeutung und Zerstörung der
natürlichen Lebensgrundlagen, von Hunger, Not und Seuchen
sein. Das erfordert auch eine "Weltsozialpolitik", die unter
Wahrung kultureller Eigenheiten menschenwürdige
Lebensbedingungen, ein Mindestmaß an materieller, sozialer
Sicherheit und bessere Bildungschancen schafft. Spätestens
seit dem 11. September kann die Forderung, der Globalisierung ein
humanes Gesicht zu geben, nicht länger als ideologische oder
gar weltfremde Pauschalkritik am Kapitalismus abgetan werden. Die
Welt läßt sich nicht regieren, indem die Wirtschaft
Gewinn aus der Globalisierung zieht und die Politik nur die
Probleme verwaltet.
Der unbestreitbare Markterfolg der westlichen Wirtschaft darf nicht
als Rechtfertigung für ihre ungehemmte, ungezügelte
Expansion dienen - schon gar nicht mit dem Ziel einer "global
homogenisierten Kultur", von der der amerikanische Philosoph
Richard Rorty schwärmt. Auch und gerade wirtschaftliches
Handeln entscheidet wesentlich darüber, wie sich das
Verhältnis von Staaten, Völkern und Kulturen gestaltet:
aggressiv und konfrontativ wie so oft in der Vergangenheit, oder -
wie zu hoffen ist - endlich kooperativer, friedlicher, menschen-
und kulturverträglicher. Erfüllen wird sich diese
Hoffnung nur, wenn der ökonomischen Globalisierung die
kulturellen, religiösen, zivilisatorischen Bedingungen
beigebracht werden, durch die die in sich vielfältige "eine
Welt" mehr sein kann als nur ein globaler Markt - und mehr als eine
globale Kultur.
Deshalb brauchen wir eine weltweit verträgliche,
zivilisatorische "corporate identity", die sich gründet auf
gleichberechtigte Zusammenarbeit, auf den Respekt vor
unterschiedlichen Kulturen und Lebensformen und auf einer
gemeinsamen Orientierung an den universalen Menschenrechten. Der
"global compact", den Kofi Annan auf dem Weltwirtschaftsgipfel in
Davos vor zwei Jahren ins Leben gerufen hat, ist eine richtige,
wichtige Konsequenz aus dieser gar nicht so neuen Einsicht. In
diesem Sinne hoffe ich sehr, daß auch dieser "international
dialogue" einen Beitrag zu einem umfassend verstandenen "Dialog der
Kulturen" leistet. Ich danke Ihnen fürs Zuhören und
wünsche Ihrer Tagung viel Erfolg."
24.682 Zeichen