Abschied von Richard Stücklen
Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse
"Wir nehmen heute Abschied von Richard Stücklen, einem
großen Parlamentarier, einem bedeutenden
Parlamentspräsidenten, einem unverwechselbaren Menschen.
In den Medien, in der Öffentlichkeit ist unser verstorbener
Kollege immer wieder mit dem Ehrentitel "parlamentarisches
Urgestein" bedacht worden - zu Recht; denn Richard Stücklen
verkörperte wie nur wenige den demokratischen Aufbruch nach
1945. Er stand für das Ziel, der Barbarei der NS-Diktatur eine
offene Gesellschaft entgegenzustellen, die auf Freiheit und Recht,
auf dem Respekt vor dem Andersdenkenden gründet.
Richard Stücklen war ein überzeugter Demokrat, nicht
zuletzt deshalb, weil er - am 20. August 1916 im
mittelfränkischen Heideck geboren - das Ende der Weimarer
Republik und den NS-Unrechtsstaat bewusst erlebt hat. Er stammte
aus einer katholischen Handwerkerfamilie, aus einem politischen
Elternhaus. Der Vater war Bürgermeister von Heideck, der Onkel
Reichstagsabgeordneter für die SPD. Politik war stets ein
Thema in seinem Elternhaus - aber nicht das einzige. Auch der junge
Richard hielt die Familie in Atem. Er war, wie er in seinen
Lebenserinnerungen bekannte, ein Lausbub. Zahlreiche Anekdoten
wissen davon zu berichten. Und wer ihn kannte, wie wir ihn kannten,
weiß: Diesen lausbübischen Humor hat er sich ein Leben
lang bewahrt. Unvergesslich ist jener Satz, jene Empfehlung an uns:
Wer als Politiker nicht lachen kann, bei dem hat das Volk nichts zu
lachen.
Nach der Schulzeit zog es ihn ins Elektrohandwerk. In einer
Fachschule im sächsischen Mittweida schloss der junge Franke
seine Berufsausbildung zum Elektroingenieur ab. Sein Wissen um das
Fernmeldewesen sollte ihm später in der Politik noch besonders
zugute kommen, wie wir wissen.
1945 wurde er einer der Mitbegründer der Christlich-Sozialen
Union. Seine Fähigkeiten sprachen sich schnell herum. So
reiste Richard Stücklen 1949 als Abgeordneter des Wahlkreises
Weißenburg zur konstituierenden Sitzung des Deutschen
Bundestages nach Bonn. In seinen Memoiren hat er geschildert, unter
welch schwierigen Bedingungen der Aufbau der parlamentarischen
Demokratie damals stattfand - auch für ihn selbst. Nach der
langen Fahrt im Nachtzug stellte er kurz vor Bonn fest, dass sein
einziges Paar Schuhe verschwunden, möglicherweise gestohlen
worden war. In der schweren Nachkriegszeit waren nicht nur
Lebensmittel, sondern auch Schuhe knapp. So blieb Richard
Stücklen nichts anders übrig, als auf Strümpfen aus
dem Zug zu steigen und sich auf dem Bonner Münsterplatz erst
mühevoll ein neues Paar Schuhe zu besorgen, um dann zur
konstituierenden Sitzung zu eilen.
Als jüngster Abgeordneter zog unser verstorbener Kollege in
den Deutschen Bundestag ein. Er ist ihm 41 Jahre lang, bis Ende
1990, treu geblieben, so lange wie kein anderer
Bundestagsabgeordneter in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland. Das zeigt, wie sehr die Bürger seines
fränkischen Wahlkreises ihm vertraut haben, wie gut sie ihre
Sorgen und Anliegen bei ihm aufgehoben wussten.
Der junge Abgeordnete Stücklen kümmerte sich vor allem um
die Verkehrspolitik und den Mittelstand - so erfolgreich, dass er
1957 unter Konrad Adenauer Minister wurde, auf eigenen Wunsch
für das Post- und Fernmeldewesen. Seine großen
Verdienste aus diesen Jahren sind unvergessen. Er gilt zu Recht als
Vater der Handwerksordnung und er hat die Postleitzahl sowie den
Telefonselbstwählbetrieb eingeführt. Was uns heute so
selbstverständlich geworden ist, waren damals wegweisende
technische und organisatorische Innovationen.
Richard Stücklen hat jedoch stets darauf geachtet, dass beim
Fortschritt das Menschliche nicht auf der Strecke blieb. Für
den Postminister waren die "Postbenutzer", wie es damals im
Amtsdeutsch hieß, vor allem Kunden und Menschen. Immer wieder
hat er sich inkognito an deutschen Postschaltern davon
überzeugt, dass mit den Bürgerinnen und Bürgern
höflich, freundlich, eben menschlich umgegangen wird.
Richard Stücklen war Postminister aus Leidenschaft. Er hat die
neun Amtsjahre bis 1966 als die schönste Phase seiner
politischen Laufbahn bezeichnet. Aber er hat natürlich auch in
anderen hohen politischen und parlamentarischen Ämtern
Wegweisendes geleistet. Zehn Jahre lang war er Vorsitzender der
CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag. Auch als stellvertretender
Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU war er stets ein wichtiger
Mittler zwischen den Parteien.
Seine großen Fähigkeiten als Konsensfinder kamen ihm im
Präsidium des Deutschen Bundestages zugute, dem er von 1976
bis 1990 angehörte, zwischen 1979 und 1983 als
Bundestagspräsident. In diesem Amt ist Richard Stücklen
den Menschen unseres Landes in besonderer Erinnerung geblieben. Er
war ein souveräner Präsident, dem die Fairness zwischen
den politischen Gegnern ein besonderes Anliegen war, weil er davon
überzeugt gewesen ist, dass die parlamentarische Demokratie
nicht nur die Konfrontation der unterschiedlichen Meinungen
braucht. Ihm ging es auch darum, dass der Bestand an grundlegenden
Gemeinsamkeiten nicht aus dem Blick gerät. Diesen Grundkonsens
der Demokraten wollte er sichern und erweitern. Sein
parlamentarisches Credo hat er so formuliert:
Niemals darf der Respekt vor der anderen, vor der konkurrierenden
Meinung verloren gehen. Bis zum Beweis des Gegenteils ist jedem
Abgeordneten zu unterstellen, dass er - auch - das Beste für
unser Land will.
Für diesen Konsens der Demokraten hat sich mein
Amtsvorgänger stets leidenschaftlich eingesetzt - "mit Humor
und Augenmaß", wie es der Titel seiner Lebenserinnerungen so
treffend zum Ausdruck bringt. Richard Stücklen schritt
entschieden ein, wenn er die Würde des Hauses in Frage
gestellt sah. Manches davon ist uns erst kürzlich wieder
bildlich in Erinnerung gebracht worden. Seine besondere
Fähigkeit lag darin, mit Humor spannungsgeladenen Streit und
angestrengte Nerven von Kontrahenten zu entspannen, mit
Augenmaß Konflikte zu lösen.
Am liebsten machte er augenzwinkernd deutlich, worum es ihm ging.
Einem Abgeordneten, dessen Kleidungsstil den stücklenschen
Vorstellungen von parlamentarischer Etikette fortwährend
widersprach, hat er einmal schmunzelnd eine Krawatte geschenkt. Die
zugleich Beschenkten wie zur Ordnung Gerufenen lernten Richard
Stücklen mit den Jahren kennen und schätzen.
Unser verstorbener Kollege war ein heimatverbundener Europäer,
ein bodenständiger Franke mit Sinn für ferne Länder
und ihre Probleme. Aber sein wichtigstes politisches Anliegen blieb
stets die Einheit Deutschlands. Die friedliche Revolution im Osten
Deutschlands und das Ende der Teilung haben ihn zutiefst
beglückt. Er empfand es als Krönung seiner politischen
Laufbahn, 1990 Abgeordneter des ersten gesamtdeutschen Parlaments
zu sein. Drei Monate waren wir noch Kollegen. Seine Freude
über die Einheit Deutschlands und sein Interesse an der
Situation der Menschen in den neuen Bundesländern sind mir
unvergessen. Dass ihn seine alte Fachschule im sächsischen
Mittweida zum Ehrendoktor ernannte, es nach 1990 überhaupt tun
konnte, hat ihn tief bewegt.
Richard Stücklen hat sich in seiner langen Zugehörigkeit
zum Deutschen Bundestag parteiübergreifenden Respekt erworben.
Das hing mit seinen demokratischen Grundüberzeugungen
zusammen, aber auch mit seiner Kollegialität, seiner
unverwechselbaren Persönlichkeit. Es war nie langweilig mit
ihm; denn er war mit einem bemerkenswerten Temperament gesegnet.
Wer mit ihm zu tun hatte, bekam es zu spüren: Richard
Stücklen konnte poltern und streiten. Aber er konnte auch
zuhören, nachdenklich Rat geben und auf Menschen zugehen. Wer
erst einmal seinen Respekt erworben, sein Vertrauen gewonnen hatte,
dem blieb er als Freund und Kollege treu verbunden - über
Parteigrenzen hinweg.
Der Abgeordnete Stücklen war stets ein harter und
gewissenhafter Arbeiter. Aber ihm war auch bewusst, dass die
Arbeit, die Politik nicht alles ist, nicht alles sein darf. Er
konnte Parlamentarier mit Leib und Seele sein, ohne seine
Lebensfreude der Politik zu opfern. So blieb er stets ein
leidenschaftlicher Skat- und Schafkopfspieler, blieb dem
fränkischen Fußball ebenso zugetan wie der guten
fränkischen Küche, die er gerne auch selbst zubereitete.
Warum Politiker nicht wenigstens einmal im Monat ein Wochenende zu
Hause verbringen können, das sah er nicht ein. Auch in diesem
Punkte könnten wir ein wenig von ihm lernen. Er jedenfalls
wollte auf die Zeit mit seiner Frau, seiner Familie nicht
verzichten. Mit den heranwachsenden Enkeln spielen zu können,
das bedeutete ihm viel.
Unserem Parlament blieb er auch nach seinem Ausscheiden im Dezember
1990 verbunden. Er kam immer wieder gerne nach Bonn und dann nach
Berlin, solange es seine Gesundheit zuließ. Vor wenigen
Monaten, als wir seinen 85. Geburtstag feierten, stand es schon
nicht gut um ihn. Aber keiner von uns, der ihn an diesem Abend
erlebt hat, wird seinen hellwachen Verstand, seinen Humor, seine
Wärme, seine Menschlichkeit vergessen.
Am 2. Mai ist Richard Stücklen in seiner Heimat, in
Weißenburg, einem langjährigen Herzleiden erlegen.
Seiner Frau Ruth, seinen beiden Kindern Rosemarie und Hans-Peter
und den übrigen Angehörigen gilt unser tief empfundenes
Mitgefühl.
Der Deutsche Bundestag trauert um einen großen Demokraten,
einen herausragenden Parlamentarier und einen unverwechselbaren
Menschen. Richard Stücklen gehört zu jenen Besten aus
allen politischen Parteien, die unsere Demokratie aufgebaut und
gefestigt haben. Wir werden sein Andenken bewahren, gerade dadurch,
dass wir uns immer wieder aufs Neue jener Werte vergewissern, die
ihm wichtig waren, die er uns als Politiker, als Parlamentarier,
als Mensch vorgelebt hat.
Richard Stücklen hat sich um die Menschen und die
Menschlichkeit in unserem Land verdient gemacht."
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