Bundestagspräsident Thierse: "Ohne Wählerinnen und Wähler gibt es keine Demokratie"
In einem Beitrag für die aktuelle Ausgabe der
Zeitschrift "Blickpunkt Bundestag" wirbt Bundestagspräsident
Wolfgang Thierse dafür, im Interesse der Demokratie an Wahlen
teilzunehmen. Der Beitrag mit der Überschrift "WÄHLEN -
Warum eigentlich?" hat folgenden Wortlaut:
"Politik interessiert mich nicht" - die Antwort hört man oft,
wenn man für die Teilnahme an Wahlen wirbt. Es ist erlaubt,
ist eine in der Demokratie mögliche Haltung, sich von den
öffentlichen Angelegenheiten fern zu halten, sich um anderes
als um Politik zu bemühen.
"Die da oben machen sowieso, was sie wollen" - dieser Satz
symbolisiert dagegen eine Abwendung von Politik, die offenbar einer
Gefühlslage von Resignation und Protest entspringt.
"Die taugen alle nichts" - dahinter steckt oft ein bekennender
Nichtwähler. Er ist oft politisch gut informiert und meint,
dass keine der Parteien und keiner der Kandidatinnen und Kandidaten
neben seiner eigenen Haltung bestehen könne.
"Was hat das denn mit mir zu tun?" fragen manche Jugendliche, wenn
sie begründen sollen, dass sie nicht zur Wahl gehen.
Das sind, vermute ich, die vier Hauptmotive der Nichtwähler,
die eine zahlenmäßig immer größere Rolle
spielen. Da hilft es nicht, zu erklären, dass Wahlenthaltung
zu merkwürdigen Ergebnissen führen kann: oft genug haben
Parteien an tatsächlichen Wählerstimmen verloren und
trotzdem ihren Anteil an den Stimmen und die Anzahl ihrer
Parlamentssitze - damit möglicherweise ihre Macht -
gesteigert. Wem es ohnehin gleichgültig ist, wer die Regeln
des Zusammenlebens gestaltet, wer sich nicht der Mühe
unterziehen will, sich mit seinen Wahl -und
Einflussmöglichkeiten zu beschäftigen, wem keines der
politischen Angebote gut genug ist und wer nicht versteht, wo seine
eigenen Interessen an den öffentlichen Angelegenheiten liegen,
dem wird es gleichgültig sein, wer in den Stadträten,
Parlamenten und Regierungen das Sagen hat.
Man muss also die verschiedenen Motive der Nichtwählerinnen
und Nichtwähler entkräften. Am einfachsten dürfte
das bei der Frage sein, was denn etwa der Deutsche Bundestag mit
den Interessen der Einzelnen in der Gesellschaft zu tun habe. Das
beginnt mit allgemeinen aber wirksamen Werten und endet bei ganz
konkreten Alltagsproblemen. Beispielsweise die Freiheit des
Einzelnen von staatlicher Bevormundung: Nur die Demokratie will
diese Freiheit garantieren. Wählen gehen wäre eine
Unterstützung der Demokratie selbst: "Ja, diese Staatsform
will ich, weil sie die freiheitlichste von allen ist, durch meine
Stimmabgabe stärken." Es endet bei ganz konkreten Fragen wie
etwa nach der Höhe der Rente, der Qualität der
gesundheitlichen Versorgung, der persönlichen Sicherheit durch
Polizei und Justiz. Will ich, dass meine Versorgung im
Krankheitsfalle umfassend ist, oder will ich, dass ich gegen
bestimmte Krankheiten, für bestimmte medizinische Leistungen
nicht versichert bin? Das sind Alternativen, von denen jeder
Einzelne betroffen ist und sich entscheiden kann. "Politik bestimmt
in vielen Fällen über meine persönlichen
Möglichkeiten mit. Da bestimme ich lieber auch über die
politischen Alternativen mit ab"
Schwieriger wird es schon, das hartnäckige Vorurteil zu
entkräften, "die da oben" machten ohnehin, was sie wollten.
Die Einsicht in die Notwendigkeit, die Erfahrung, dass diese oder
jene Problemlösung die einzige ist, die derzeit möglich
ist, bestimmt unsere Entscheidungen im Parlament viel häufiger
als das, was der einzelne Parlamentarier für wünschbar
hält. Letztendlich ist es immer so, dass politische
Entscheidungen mehrheitsfähig sein müssen. Was aber
mehrheitsfähig ist, entscheiden die Wähler! Wer nicht
wählt, bekommt es vielleicht im Ergebnis- aus seiner
persönlichen Sicht - mit den Falschen zu tun, also mit
Mehrheiten, die er nicht gewollt hat.
Wem keine Partei gut genug ist, und wer deshalb nicht wählt,
verzichtet darauf, derjenigen zu Einfluss zu verhelfen, die seiner
eigenen Haltung vielleicht doch am Nächsten kommt. Die Rede
vom "kleineren Übel" ist so gesehen gar nicht so falsch. Denn
sie verlangt, dass wir uns als Wähler die Mühe machen,
heraus zu finden, welches Programm und welche Personen den jeweils
eigenen Vorstellungen am ehesten entsprechen. Da hat es
natürlich jemand, der die Partei seiner Wahl gar nicht
für ein Übel hält, etwas einfacher.
Wer sich hingegen gar nicht für Politik interessiert, entzieht
sich jeglicher Mühe, an den öffentlichen Angelegenheiten
teil zu haben. Er muss hinnehmen, was dann kommt, ohne seinen
eigenen Einfluss geltend gemacht zu haben. Das ist der Verzicht auf
ein Bürgerrecht. Das kann ich nur bedauern, denn dass dieses
Bürgerrecht völlig mühelos wahr genommen werden
könnte, kann ich nicht versprechen. Politik ist nicht
bloß unterhaltend, sondern kostet auch Mühe und
Anstrengung. Um diese Mühe bitte ich, denn ohne Demokraten,
ohne Wählerinnen und Wähler gibt es keine Demokratie. An
der politischen und persönlichen Freiheit, die sie bietet,
habe ich in Kenntnis der Alternative Diktatur nämlich auch ein
persönliches Interesse.
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