Rede von Bundestagspräsident Thierse zur Eröffnung der Ausstellung "Mannheim - Izieu - Auschwitz" des Deutsch-Französischen Jugendwerkes mit Simone Veil (26.01.2004)
"Der Name des französischen Dörfchens Izieu ist
spätestens 1987 weithin bekannt geworden. Nach einem Aufsehen
erregenden Prozess wurde Klaus Barbie, der verhasste
"Schlächter von Lyon", wegen "Verbrechen gegen die
Menschlichkeit" verurteilt. Endlich, 42 Jahre nach Kriegsende,
konnte nachgewiesen werden, dass auf Befehl Barbies auch 44 Kinder
aus Izieu deportiert und ermordet wurden, fast alle wurden im
Konzentrationslager Auschwitz vergast.
Die Ermordung der Kinder von Izieu ist ein beklemmender Beleg
für die unmenschlichen Verbrechen der Nationalsozialisten.
Nachdem der Beschluss zur Vernichtung der Juden, zur so genannten
"Endlösung", gefallen war, gab es fast überall in Europa
praktisch kein Entkommen mehr für sie. Die Nazis spürten
ihre Opfer - wie die Kinder von Izieu - selbst im entlegensten
Winkel auf, pferchten sie gnadenlos in Waggons zusammen und
schickten sie in den Tod.
Die Bilder der Ausstellung sind ein bewegender Beleg für das
Schicksal der Kinder von Izieu. Jugendliche aus Mannheim und Lyon
haben es dokumentiert. Zusammen mit dem Deutsch-französischen
Jugendwerk und dem ehemaligen Kinderheim, der Gedenkstätte
"Maison d´Izieu", haben sie sich auf die Spurensuche begeben,
sind nach Izieu und nach Auschwitz gefahren und haben gemeinsam
diese Ausstellung als Ergebnis ihrer monatelangen Arbeit konzipiert
und realisiert.
Es verdient alle Anerkennung, dass sich die Jugendlichen so
intensiv mit dem Schicksal der Kinder von Izieu auseinander gesetzt
haben, dass sie sich so tief in das dunkelste Kapitel unserer
Geschichte hinein begeben haben. Im Mittelpunkt der Spurensuche
standen vier jüdische Kinder aus Mannheim. Indem ihr
Leidensweg Schritt für Schritt rekonstruiert und nachvollzogen
wurde, ist auch das Schicksal der Juden im Nationalsozialismus
insgesamt plötzlich ganz nah gerückt und konkret
geworden. Auch in diesen Tagen begeben sich im Rahmen unserer
Jugendbegegnung junge Menschen aus Frankreich, Deutschland und
Polen auf Spurensuche nach Auschwitz und Izieu.
Wer sich auf eine solche Spurensuche begibt, für den - davon
bin ich überzeugt - verliert die ungeheure, unvorstellbare
Zahl von sechs Millionen ermordeter Juden ihre Abstraktheit,
für den ist die staatlich organisierte Vernichtung der
europäischen Juden nicht mehr nur ein Kapitel im
Geschichtsbuch. Ich bin sicher, dass das Erinnern an und die
Auseinandersetzung mit dem Holocaust für die Schülerinnen
und Schüler unweigerlich eine andere Qualität, eine
tiefere Dimension bekommen hat.
Erinnern und Gedenken sind ja nicht nur eine intellektuelle,
sondern auch eine emotionale Leistung. Die Beschäftigung mit
dem Schicksal einzelner Menschen und Familien erleichtert es gerade
auch jungen Menschen, sich in diese Zeit "hinzuversetzen" und sich
"hineinzufühlen". Dafür stehen das Tagebuch der Anne
Frank oder Viktor Klemperers Aufzeichnungen, dafür stehen aber
auch bewegende Filme wie "Schindlers Liste" oder Louis Malles "Auf
Wiedersehen Kinder", der die Verfolgung jüdischer Kinder in
Frankreich zum Thema hat.
Ich halte Empathie für ein unentbehrliches Element der
Auseinandersetzung mit der Geschichte, damit aus der zeitlichen
Distanz keine innere Distanz zu den Leiden der Opfer wird. Wer
nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen begreift, was
die Zerstörung der Freiheit und die Missachtung der
Menschenwürde zur Zeit des Nationalsozialismus bedeutet hat,
der wird auch in der Gegenwart besser erkennen, wo Freiheit und
Menschenwürde gefährdet sind.
Das Beispiel dieser Ausstellung bestärkt mich in der
Zuversicht, dass jede Generation eigene Wege und Formen des
Erinnerns finden kann und finden wird. Es gibt jedenfalls keinen
Grund anzunehmen, dass junge Menschen weniger sensibel wären
für Verletzbarkeit und Verletzungen der Menschenrechte.
Allerdings wird es mit zunehmendem Abstand immer schwieriger,
über den Nationalsozialismus und seine Verbrechen
aufzuklären. Deshalb müssen wir uns immer wieder neu
fragen: "Wie können wir historisches Wissen so vermitteln,
dass es tatsächlich ankommt und auch ein Bewusstsein für
die eigene Verantwortung auslöst?"
Die Verbrechen der Nationalsozialisten konnten geschehen, weil
niemand den Tätern in den Arm fiel. Die wenigen Helfer, die
den Mut aufgebracht haben, sich den Nationalsozialisten zu
widersetzen - sie haben es nicht vermocht. Wenn auch die 44 Kinder
von Izieu nicht gerettet werden konnten, zeigt das Kinderheim doch,
was Courage, Widerspruch und Widerstand bewirken konnten. Allein in
Frankreich wurden rund 70.000 jüdische Kinder - das waren
über 80 Prozent - vor den Nazis gerettet. Arno Lustiger, der
in den neunziger Jahren das Augenmerk der Forschung auf dieses
zuvor wenig beachtete Kapitel gelenkt hat, zählt die Rettung
jüdischer Kinder zu den größten Verdiensten des
jüdischen Widerstandes.
In Izieu steht ein Obelisk, mit dem der ermordeten Kinder gedacht
wird. Darauf findet sich der Satz: "Der Tod eines jeden Menschen
macht mich kleiner, weil ich der Menschheit angehöre". Wir
können das Schicksal der Kinder von Izieu nicht ungeschehen
machen, aber wir können daran erinnern und die richtigen
Schlüsse aus dieser Erinnerung zu ziehen versuchen: Was in
einer zivilisierten Gesellschaft getan werden muss, das ist eben
nicht allein Aufgabe des Staates. Es liegt in der Hand jedes
einzelnen, sich zu engagieren, wenn die Würde anderer Menschen
verletzt wird.
In diesem Sinne hoffe ich, dass die deutsch-französische
Spurensuche bei allen Beteiligten nachhaltige Spuren hinterlassen
hat. Und ich hoffe, dass die Geschichte der Kinder von Izieu auch
bei den Besuchern dieser Ausstellung Spuren hinterlassen wird - in
ihrem Gedächtnis und in ihren Herzen. Ich danke dem
Deutsch-Französischen Jugendwerk dafür, dass es diese
Ausstellung ermöglicht und jetzt von Mannheim nach Berlin
gebracht hat - in die Stadt, in der die Pläne zur Vernichtung
der europäischen Juden erdacht wurden, die dann in vielen
Ländern Europas Nazi-Schergen wie Klaus Barbie in die Tat
umgesetzt haben.
Grenzüberschreitende Projekte können viel dazu beitragen,
dass sich junge Menschen offen und ohne Vorurteile auch dem
entsetzlichsten Kapitel unserer Geschichte stellen. Deshalb ist es
gut, wenn Jugendliche aus Deutschland und Frankreich gemeinsam
forschen, diskutieren, erinnern. Und es ist besonders gut, dass
dieses Projekt eine so angesehene Förderin wie Simone Veil
hat. Ihr Lebensweg - sie hat gerade daran erinnert - ist so eng mit
dem der Kinder von Izieu verknüpft, dass die Fahrt nach Berlin
und die Beschäftigung mit dieser Ausstellung schmerzliche
Erinnerungen geweckt haben müssen. Um so dankbarer bin ich
dafür, dass Simone Veil heute hier ist und dass sie morgen am
Gedenktag für die Opfer des Holocaust im Deutschen Bundestag
sprechen wird.
Als Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar zum Gedenktag
für die Opfer des Nationalsozialismus erklärte, hoffte
er, dass wir Deutsche "gemeinsame Formen des Erinnerns finden, die
zuverlässig in die Zukunft wirken." Er wollte vor allem junge
Menschen anregen, über die Vergangenheit nachzudenken und die
notwendigen Konsequenzen daraus zu ziehen. Diese Ausstellung ist
ein Beispiel dafür, wie so etwas gelingen kann. Deshalb
wünsche ich dieser Ausstellung viele Besucher, und ich bedanke
mich bei allen Beteiligten für ihre gemeinsame
Erinnerungsarbeit."
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