Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2004 im Deutschen Bundestag
"Als sowjetische Soldaten am 27. Januar 1945 das
Konzentrationslager Auschwitz befreiten, machten sie eine grausame
Entdeckung. Sie fanden nur noch 7.600 Überlebende, dafür
aber 348.820 Männeranzüge und 836.525 Frauenkleider:
Spuren der Opfer, Dokumente der Entmenschlichung und
planmäßigen Ermordung, die die SS nicht mehr rechtzeitig
hatte vernichten können. Insgesamt sechs Millionen Juden sind
von den Nationalsozialisten ermordet worden - in Auschwitz und in
vielen anderen Konzentrations- und Vernichtungslagern.
Wir kommen heute zum neunten Mal im Plenum des Deutschen Bundestags
zusammen, um dieses "größten und furchtbarsten
Verbrechens der Weltgeschichte" zu gedenken. Jenseits der
politischen Aufregungen, jenseits des parlamentarischen Streits ist
heute ein Tag der Stille, ein Tag, der dem Gedenken der Opfer
gewidmet ist: der Juden vor allem, aber auch der Sinti und Roma,
der Homosexuellen, der Kriegsgefangenen, der Deserteure, der
Behinderten, der Euthanasie-Opfer, der politischen Häftlinge
und aller anderen, die Opfer der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft geworden sind. Sie alle haben das gleiche Recht
auf Anerkennung und würdigendes Gedenken.
Auch Kinder, jüdische Kinder vor allem, sind dem Rassenwahn
der Nazis zum Opfer gefallen. Auch sie wurden in Waggons gepfercht,
nach Auschwitz deportiert und dort - zumeist sofort nach ihrer
Ankunft - vergast. Darunter waren auch 44 Kinder, die in dem
französischen Dörfchen Izieu vor den Nazis versteckt
worden waren. Doch am Morgen des 6. April 1944 holte die Gestapo
die Kinder ab. Klaus Barbie, der verhasste "Schlächter von
Lyon", hatte ihr Versteck entdeckt und die Deportation angeordnet.
Das Schicksal der Kinder von Izieu ist durch den Prozess gegen
Klaus Barbie weithin bekannt geworden. In diesen Tagen erinnert
hier in Berlin eine außergewöhnliche Ausstellung daran -
außergewöhnlich deshalb, weil sie von deutschen und
französischen Schülern gemeinsam erarbeitet wurde.
Zusammen mit Simone Veil habe ich sie gestern im
Deutsch-Französischen Jugendwerk eröffnet.
Wir haben Anlass, heute besonders der jüdischen Kinder zu
gedenken, die in Konzentrationslager deportiert und dort ermordet
wurden. Denn das Schicksal von Simone Veil ist eng mit dem der
Kinder von Izieu verknüpft: Die Nazis spürten ihre
Familie in Nizza auf und deportierten sie nach Drancy. Dort kam
Simone Veil am gleichen Tag wie die Kinder von Izieu an, am 7.
April 1944. Sechs Tage später wurde sie mit ihnen im Transport
Nr. 71 nach Auschwitz deportiert. 13 Monate lang war Simone Veil in
Auschwitz und in Bergen-Belsen inhaftiert. Sie gehört zu den
wenigen, die den Konzentrationslagern entkommen sind.
Wir sind dankbar dafür, dass sich Simone Veil bereit gefunden
hat, heute hier im Deutschen Bundestag zu uns zu sprechen. Es hat
lange gedauert, bis sie begonnen hat, über die Vergangenheit
zu reden - nicht nur, weil das Reden die Erinnerung an diese, wie
sie sagte, "permanente Entwürdigung" voraussetzte, sondern
weil sie viele Jahre lang das Gefühl hatte, dass niemand ihre
Geschichte hören wollte. Erst, nachdem sie Ministerin geworden
war, sei sie aus der Anonymität heraus getreten und habe so
die Gelegenheit bekommen, öffentlich über die Deportation
zu sprechen. Seitdem hat sie das immer wieder getan - ebenso
eindringlich wie engagiert. Damit hat sie nicht nur in Frankreich,
sondern in Europa einen unschätzbaren Beitrag dazu geleistet,
die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten wach zu
halten und weiter zu geben.
In Deutschland ist Simone Veil vor allem als Präsidentin des
Europäischen Parlaments bekannt geworden, ein Amt, das sie von
1979 bis 1982 bekleidete. Die europäische Einigung ist
für sie zur Leidenschaft und zur Lebensaufgabe geworden, und
bis heute hat ihr Engagement für diese europäische
Einigung nichts an Überzeugungskraft eingebüßt. Es
ist wohl kein Zufall, dass Simone Veil als Überlebende des
Holocaust zur überzeugten Europäerin wurde. Denn die
Europäische Union, diese konkrete Utopie des Friedens, ist die
Konsequenz aus der zivilisatorischen Katastrophe von
Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg.
Die Vision eines friedlichen und vereinten Europa hat inzwischen
ihre Wirkung entfaltet - weit schneller sogar, als das bei
Kriegsende vielen vorstellbar erschien. Wer hätte es damals
für möglich gehalten, dass Deutsche und Franzosen im Jahr
2003 auf 40 Jahre intensiver Zusammenarbeit und zuverlässiger
Freundschaft zurückblicken? Annäherung und
Versöhnung wären nicht denkbar gewesen ohne den festen
Willen, niemals wieder zuzulassen, dass Intoleranz und Rassismus,
Willkür und Gewalt unser Miteinander bestimmen. So konnte
gegen alle Wahrscheinlichkeit zwischen den europäischen
Völkern wieder Vertrauen wachsen.
Ein besonderer Vertrauensbeweis ist es, dass heute wieder Juden in
Deutschland leben. Niemand hätte bei Kriegsende für
möglich gehalten, dass die Jüdische Gemeinde in
Deutschland heute wieder die drittgrößte Europas ist.
Paul Spiegel hat es jüngst in einem Interview betont: Viele
der Juden, die sich heute entschließen, nach Deutschland zu
kommen, vertrauen darauf, dass es gerade in unserem Land, im Land
des Holocaust, keinen Nährboden für Antisemitismus mehr
gibt. Dieses Vertrauen ist eine Verpflichtung, für deren
Erfüllung wir alle einstehen müssen.
Um so bestürzender ist die Erkenntnis, dass sich wieder
Antisemitismus - manifester wie latenter - in unserer Gesellschaft
breit macht. Aus diesem Grunde haben die Abgeordneten des Deutschen
Bundestages im Dezember des letzten Jahres einmütig ihre
Entschlossenheit bekundet, den Antisemitismus in allen seinen
Erscheinungsformen entschieden zu bekämpfen.
Als Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar zum Gedenktag
für die Opfer des Nationalsozialismus erklärte, hoffte
er, dass wir Deutsche "gemeinsame Formen des Erinnerns finden, die
zuverlässig in die Zukunft wirken." Er wollte vor allem junge
Menschen anregen, über die Vergangenheit nachzudenken und die
notwendigen Konsequenzen daraus zu ziehen. Dabei steht die Frage im
Mittelpunkt, wie wir heute, mit zunehmendem zeitlichen Abstand, das
historische Wissen so vermitteln können, dass es
tatsächlich bei der jungen Generation ankommt und auch ein
Bewusstsein für die eigene Verantwortung schafft.
Ich bin zuversichtlich, dass jede Generation eigene Wege und Formen
des Erinnerns finden kann und finden wird. Die erwähnte
Ausstellung über die Kinder von Izieu ist ein hoffnungsvolles
Beispiel - auch und vor allem deshalb, weil es nationale Grenzen
überschreitet. Wenn junge Menschen aus Deutschland und
Frankreich so intensiv forschen, miteinander diskutieren und
Projekte realisieren, dann entstehen neue, gemeinsame Formen des
Erinnerns, dann bekommt die Auseinandersetzung mit dem Holocaust
eine tiefere, europäische Dimension.
Der Holocaust war eine europäische Katastrophe,
heraufbeschworen und ausgelöst von Deutschen. So kamen die
Transporte nach Auschwitz aus Frankreich, aus der Tschechoslowakei,
aus Holland, Belgien, Griechenland, aus Italien, Lettland, Ungarn,
Österreich. Auschwitz war das Zentrum einer ganz Europa
erfassenden Todesmaschinerie. Simone Veil hat zu Recht
festgestellt: "Ob wir das wollen oder nicht, der Holocaust hat alle
Länder Europas mit seinem glühenden Brandeisen
gezeichnet. Der Holocaust ist ein integraler Bestandteil unserer
nationalen und europäischen Identität. In gewisser
Hinsicht stellt er sogar das europäischste aller Ereignisse
des 20. Jahrhunderts dar." Das Entsetzen über den Holocaust
hat die Europäer wieder zusammen geführt - in der
Rückbesinnung auf die gemeinsamen Werte Europas, die von den
Nationalsozialisten mit Füßen getreten wurden, in der
Rückbesinnung auf Menschenwürde und Menschenrechte,
Freiheit und Gerechtigkeit, Respekt und Toleranz, auf die Ideale
von Humanismus und Aufklärung.
Alle Phasen unserer Geschichte - die dunklen wie die
glücklichen - haben die kulturelle Identität Europas
geprägt. Wenn im Zuge der politischen auch die kulturelle
Integration Europas vorankommen soll, dann kann das nur auf der
Grundlage einer europäischen Kultur der Erinnerung gelingen.
Zwar mag es noch länger dauern, bis überall in Europa
gleichermaßen ein offener, vorurteilsfreier und
verantwortungsvoller Umgang mit unserer wechselvollen Geschichte
möglich ist. Doch gerade ihre schwierigsten Kapitel, zu denen
auch die Vertreibung als Folge des Holocaust gehört,
können ohne europäische Perspektive nicht angemessen
erforscht und erinnert werden.
Und vor allem: Eine grenzüberschreitende Aufarbeitung des
Holocaust wird jungen Menschen um so deutlicher vor Augen
führen, dass die positiven Werte und Traditionen Europas keine
Selbstverständlichkeit sind: die Werte und Traditionen, die
bis heute das Fundament der Europäischen Union bilden und die
jetzt auch möglichst bald in einer europäischen
Verfassung niedergelegt werden sollten. Die Zukunft Europas
hängt davon ab, dass sich auch die jungen Generationen mit der
Europäischen Union als Friedenswerk und als Wertegemeinschaft
identifizieren, ihre Werte verinnerlichen und ein europäisches
Bewusstsein entwickeln. Deshalb ist es unsere Aufgabe, die
Erfahrungen der Geschichte im europäischen Gedächtnis zu
bewahren und ihre Lehren in unserem politischen Handeln lebendig
werden zu lassen."
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