Bundestagspräsident Wolfgang Thierse: "Demokratie muss sich immer wieder bewähren"
Es gilt das gesprochene Wort
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse erhält heute in
Münster die Ehrendoktorwürde der Philosophischen
Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität.
Gewürdigt werden mit dieser Auszeichnung seine besonderen
Verdienste um die Verständigung zwischen Ost- und
Westdeutschland, die Stärkung des demokratischen Bewusstseins
in den neuen Bundesländern und die Zurückweisung
radikaler Strömungen in der Gesellschaft. In seiner Dankesrede
befasst sich der Bundestagspräsident mit dem Thema "Krise der
Politik und Bewährung der Demokratie". In der Rede führt
Thierse u.a. aus:
"Dass Sie heute ausgerechnet einen Politiker würdigen, das
trägt schon Züge von Zivilcourage. Schließlich
trifft uns Politiker in diesen Tagen besonders heftig geballter
Spott und Häme und Verachtung. Die Stimmung ist mies, das Land
kommt nicht voran und schuld an allem sind, glaubt man den
Meinungsumfragen und liest man "Spiegel" oder "Stern" oder "Bild",
selbstverständlich die Politiker, wer sonst, die als
egoistische Versager die ganze diffuse oder organisierte Verachtung
des viel besseren Volkes trifft. Mich auch. Und nun dieser
Kontrapunkt, für den ich herzlich danke, wie auch für die
freundliche Würdigung, die Sie, verehrte Frau Limbach, mir
angedeihen ließen. Selbstverständlich ist das nicht
– weder grundsätzlich, noch bezogen auf mich,
Lassen Sie mich deshalb meinen Dank zunächst
biografisch-anekdotisch ausdrücken. Meine Freunde, von denen
ich einige hier im Saale herzlich begrüße, kennen die
Geschichte schon: Mein Vater pflegte regelmäßig die im
Radio übertragenen Debatten des Deutschen Bundestages zu
hören. Da die westdeutschen Sender aber von der DDR
gestört wurden und es ständig rauschte und knisterte,
bedurfte das einiger Konzentration und Anstrengung. Von meinem
Bruder und mir, beide noch kleine Jungen, verlangte der Vater
deshalb absolute Ruhe. Es blieb uns also gar nichts anderes
übrig, als selbst auch den Bundestagsrednern zuzuhören
– politische Bildung gewissermaßen von Kindesbeinen
an.
Der Eindruck des geregelten öffentlichen Streits, die
Begeisterung für die freie, öffentliche Rede wurden das
Gegenbild zur geschlossenen DDR-Gesellschaft, zur sich selbst
bespiegelnden, schönfärberischen, die Menschen
gängelnden, diktatorischen SED-Politik. Ein Gegenbild, dessen
Wirklichkeit man ersehnte. Auch dank dieser biografischen
Prägung, dieses Vaters erscheint mir meine heutige Arbeit als
die Erfüllung meiner damaligen Sehnsucht. Auch 14 Jahre nach
der deutschen Einheit habe ich immer noch ein Grundgefühl des
Glücks, Parlamentarier sein zu können, trotz aller
Ernüchterung und grassierender Übellaunigkeit! Und ich
wünsche mir überhaupt mehr trotziges parlamentarisches
Selbstbewußtsein und genügend Mitstreiterinnen und
Mitstreiter, damit die Demokratie die gegenwärtige
Bewährungsprobe besteht.
Ich soll und will über die Krise der Politik sprechen, obwohl
"Krise" mir fast als ein etwas zu großes, zu dramatisches
Wort für die zweifellos erheblichen Schwierigkeiten erscheint,
mit denen sich unsere parlamentarische Demokratie auseinander zu
setzen hat.
Bei der Übermittlung meines Vortragsthemas wäre es
beinahe zu einem Missverständnis gekommen. Mein Thema lautet
– und so steht es jetzt auch korrekt gedruckt in der
Einladung – "Krise der Politik und Bewährung der
Demokratie". Im ersten Entwurf stand aber dort statt
"Bewährung" irrtümlicher Weise noch "Bewahrung". Es waren
zwar nur zwei kleine Pünktchen, die fehlten, doch die machen
einen gravierenden Bedeutungsunterschied aus. Ich glaube, dass wir
uns um die Festigkeit unserer Demokratie keine Sorgen machen
müssen. Wir haben in Deutschland (West) seit über 50
Jahren eine stabile Demokratie. Was aber nicht heißen soll,
dass wir sie auf Dauer sicher hätten. Demokratie ist nie
einfach "da", sondern sie muss sich immer wieder
bewähren.
Damit das gelingt, sind einige elementare Einsichten präsent
und lebendig zu halten, die deswegen wichtig sind, weil sie zu den
Voraussetzungen demokratischer Politik gehören, für die
die Politiker allein nicht sorgen können.
Wir brauchen ein lebendiges Bewußtsein bei den Bürgern
von der Kostbarkeit, weil Verletzlichkeit der Demokratie als der
einzigen Staatsform, die Freiheit dauerhaft ermöglicht. Die
Demokratie ist – wie Oskar Negt so schön formulierte
– "die einzige Herrschaftsform, die in ständiger neuer
Kraftanstrengung gelernt werden muss." Sie ist wie keine andere
Staatsform auf Engagement, auf aktive uneigennützige
Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger angewiesen
– nämlich immer dann, wenn es um öffentliche
Angelegenheiten geht, die nicht unmittelbar das Eigeninteresse,
sondern das der Allgemeinheit betreffen. Sie kann nur so lange
bestehen, wie neben den vielen Einzelinteressen, die in ihr zur
Geltung gebracht werden, das gemeinsame Interesse an ihrem Bestand
vital bleibt.
Was passiert, wenn sich Unzufriedenheit mit Demokratieverachtung
paart, wenn gesellschaftliche Eliten und wirtschaftliche Verlierer
sich zu einer Abkehr vom "System" verbünden, hat die Weimarer
Republik gezeigt. Auch wenn sich die Geschichte so nicht
wiederholen wird: das Potential autoritärer,
nationalistischer, demokratiefeindlicher Haltungen ist in allen
Demokratien vorhanden – und es nimmt zu, wenn wirtschaftliche
Moderniserungsschübe den gesellschaftlichen Zusammenhalt
gefährden.
Angesichts der gesellschaftlichen Problemfülle und des
Veränderungsdrucks wächst bei nicht wenigen das
Bedürfnis nach befreiender Erlösung von der Problemlast.
Aber in den Parlamenten sitzen keine Erlöser, sondern ganz
irdische Volksvertreter, die sich um irdische Antworten auf
Streitfragen, um möglichst gute Lösungen aktueller
Probleme bemühen. Die Demokratie ist die Sphäre des
Relativen und nicht des Absoluten. Demokratie verteidigen
heißt deshalb, immer wieder ernsthaft und mühsam und
leidenschaftlich, die notwendigen Veränderungen aussprechen,
diskutieren, mehrheitsfähig machen und Schritt für
Schritt verwirklichen. Das alles sind zeitraubende,
schweißtreibende, Geduld erfordernde, durch
Enttäuschungen gezeichnete und gefährdete Vorgänge!
Aber so ist Demokratie nun einmal. Mit Befriedigung von
Erlösungsbedürfnissen hat das alles wenig zu tun, eher
schon mit deren regelmäßiger bitterer Enttäuschung!
Doch das ist allemal besser als jene schlimme Vermischung von
säkularisierter Religion und politischer Heilslehre, wie sie
für die beiden Diktaturen des 20. Jahrhunderts
charakteristisch war.
Solcherart Erfahrungen und Einsichten sollten wir uns erinnern,
dann wären wir etwas besser gewappnet gegen die grassierende
Unzufriedenheit, den überbordenden Ärger, die
organisierte Übellaunigkeit, den Ablenkungs- und
Empörungsjournalismus!
Denn die Probleme, die unser Land zu bewältigen hat, sind ja
wirklich enorm und die Politik erscheint ihnen – noch –
nicht gewachsen. Unterhalb aller Ärgerlichkeiten und Fehler
der Politiker, der Tagespolitik, nehme ich eine problematische
Grundkonstellation wahr: Das ist die Diskrepanz zwischen dem Tempo
und der Reichweite ökonomischer Prozesse und Entscheidungen,
technologischer und wissenschaftlicher Entwicklungen, sozialer
Veränderungen einerseits und der Langsamkeit und
Beschränktheit politischer (demokratischer) Prozesse,
Entscheidungen, Institutionen andererseits. Die Schlagworte sind
bekannt: Globalisierung, neuere technologische Revolution,
demografischer Wandel, Individualisierung, Konjunktur- und
Finanzkrise einerseits und nationalstaatliche Borniertheit,
föderalistische Blockaden, habituelle Feigheit von Politikern,
populistische Medienkultur andererseits. Die genannte Diskrepanz
wird von den Bürgern mehr oder minder deutlich, mehr oder
minder diffus empfunden; sie erzeugt Ängste und Ungeduld, die
durch die Ungeduld der Medien noch verstärkt bzw.
verstärkend reproduziert wird. Diese Diskrepanz macht nach
meiner Wahrnehmung die Krise der Politik aus, denn so sehr wir sie
überwinden oder jedenfalls verringern müssen und wollen,
so schwer ist es, die unausweichliche Langsamkeit demokratischer
Prozesse zu beschleunigen. Lassen Sie mich das am deutschen
Beispiel ein wenig umständlich erläutern.
Es ist noch keine sechs Jahre her, dass in der seit 1949 in
Deutschland gewachsenen und gefestigten Demokratie erstmals ein
Regierungswechsel unmittelbar durch Wahlen erfolgt ist. Vor knapp 1
½ Jahren wäre das beinahe wieder passiert. Allerdings
hätten viele, die die Wahl 1998 für einen Zugewinn an
demokratischer Reife gehalten haben, denselben Vorgang 2002 sicher
für ein Zeichen wachsender Instabilität gehalten.
Wir haben uns angewöhnt, unsere Moderniserungsprobleme in dem
Begriff "Globalisierung" zu verstecken. Tatsächlich haben wir
gesellschaftlich und politisch einen Wandel zu verkraften, der mit
dem der Industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts vergleichbar
ist. Das betrifft den Strukturwandel der Wirtschaft,
Rationalisierung und entsprechende Veränderungen der
Arbeitswelt. Insbesondere die moderne Kommunikationstechnik
beschleunigt nicht nur den internationalen Finanzverkehr, sondern
macht ganze Dienstleistungsbereiche standortunabhängiger als
es industrielle Produktionsanlagen je waren. Volkswirtschaften sind
anfälliger für Finanzspekulationen, sie sind
abhängiger von den spekulativen Vorgängen an den
großen, internationalen Börsen, sie sind verwundbarer,
sie stehen unter erheblich höherem Konkurrenzdruck – wir
haben einen Steuersenkungswettbewerb selbst unter EU-Staaten
bereits erlebt. Diese Beispiele mögen ausreichen um zu zeigen,
dass die nationalstaatlichen Möglichkeiten zur Steuerung der
Wirtschaft nachgelassen haben, nicht aber die Erwartungen der
Bürger an genau diese nationalstaatliche Steuerung.
Viele europäische Staaten haben in den 90er, manche schon in
den 80er Jahren darauf reagiert. Deutschland hatte das Glück
der Einheit und hat mindestens auch deshalb während der
letzten 15 Jahre die Umstellung auf diese Entwicklung verpasst.
Nicht zufällig waren "Reformstau" und "Politikverdrossenheit"
die Modeworte der zweiten Hälfte der 90er Jahre und
Kennzeichen der Ungeduld und Unsicherheit, die 1998 zur Abwahl der
damaligen Regierung führte.
Aber 1998 fand kein ausreichender Politikwechsel statt. Es gab
wesentliche Veränderungen: Atomausstieg, Justizreform,
Rentenreform, Steuerreform, Staatsbürgerschaftsrecht, es wurde
endlich wieder mehr in die Forschung investiert. Aber nach einem
kurzen Strohfeuer, währenddessen erstmals seit Jahren die
Nettolöhne wieder stiegen und wirtschaftliches Wachstum einen
Konsolidierungskurs für die öffentlichen Haushalte
möglich erscheinen ließ, landeten wir in Sachen
Wachstum, Arbeitslosigkeit und Notlagen der sozialen
Sicherungssysteme wieder dort, wo die abgewählte Regierung
sich bereits befunden hatte.
Notgedrungen riss die nur knapp wieder gewählte Regierung das
Steuer herum. Aber während bis dahin angesichts der
Beschleunigung durch neue Technologien und Medien, der
Globalisierung eben, für die notwendige Langsamkeit der
Demokratie geworben werden musste, sind die Reformen des letzten
Jahres vielen zu schnell und zu einschneidend vonstatten
gegangen.
Das vermutete Bewusstsein für die Reformnotwendigkeit (das die
Meinungsumfragen belegen) ist nicht groß genug, um die
universelle Geltung des St. Florian-Prinzips (Veränderungen
ja, aber bitte nur bei den anderen) und die Wirkungen eines
dominierenden "Empörungsjournalismus" mancher Medien
ausgleichen zu können.
Zur Krise der Politik gehört, so der Begriff angemessen ist,
dass die Parteien vordergründig darin wetteiferten, die
Hoffnung darauf zu bestätigen, durch Wachstum alte
Sicherheiten und Verteilungsgerechtigkeiten wiederherstellen zu
können, während diese Hoffnung sich aber als
trügerisch erwiesen hat.
Jetzt erst hat ein Prozess begonnen, die hinter den
Wachstumshoffnungen versteckten strukturellen Probleme zu entdecken
und anzugehen. Wir erleben einen schmerzhaften Paradigmenwechsel:
In der alten Bundesrepublik konnten die Verteilungskonflikte auch
deshalb im wesentlichen friedlich gelöst werden, weil am
Schluß immer Zuwächse zu verteilen waren. Das ist
vorbei, das tut weh und die Wut darüber richtet sich mit
voller Wucht gegen die jetzige Regierung. Aber dieser
Paradigmenwechsel ist unausweichlich, ihn zu exekutieren ist
gleichwohl mutig und folgenreich.
Er hat Folgen z. B. für unsere Vorstellung von sozialer
Gerechtigkeit, die (verständlicherweise) noch mit dem
vertrauten Status der Gesundheitsleistungen und ihrer Finanzierung,
des Rentenniveaus und seiner Finanzierung und einer teuren,
nachsorgenden Arbeitsmarktpolitik verbunden ist.
In dieser vertrauten Vorstellungswelt findet sich keine Antwort
darauf,
- dass Deutschland in Europa eine der teuersten
Arbeitsmarktpolitiken hat mit den geringsten Erfolgen beim Abbau
der Arbeitslosigkeit,
- dass wir mit einer demografischen Entwicklung konfrontiert
sind, die in absehbarer Zeit die bisherige Finanzierung der Renten
aus den Arbeitsplätzen abhängig Beschäftigter
unmöglich macht,
- dass wir aus denselben demografischen Gründen, nämlich einer viel höheren Lebenserwartung, länger Gesundheitsleistungen beanspruchen, bei geringeren Beiträgen.
Mit den Kompromissen zur Gesundheitspolitik im letzten Sommer und den Ergebnissen des Vermittlungsausschusses im letzten Dezember sind die strukturellen Probleme angegangen worden. Aber die vertrauten, wärmenden Gerechtigkeitsvorstellungen stehen der Akzeptanz dieser Reformen sehr deutlich im Wege.
Was wir also brauchen, sind offensichtlich nicht nur Reformen der wirklichen Verhältnisse, der Sozialsysteme, sondern auch Reformen unserer Vorstellungen, unserer Mentalitäten politisch-ideeller Art. (Ich weiß nicht, was leichter und schneller möglich ist.) Bleiben wir beim Beispiel soziale Gerechtigkeit: Die größte Ungerechtigkeit ist für mich die Massenarbeitslosigkeit. Die hauptsächlich nachsorgende und die Arbeitslosen kaum fordernde Arbeitsmarktpolitik ist gegenüber dieser Ungerechtigkeit fast folgenlos geblieben. Kann es in einer Gesellschaft, deren Durchschnittsalter steigt, gerecht sein, 50jährige weitgehend aus dem Arbeitsleben auszuschließen? In 60 % der Unternehmen gibt es keine über 50jährigen Arbeitnehmer mehr! Wir haben uns jahrzehntelang damit begnügt, ein Gefühl von Gerechtigkeit über das Verteilen von Zuwächsen zu erhalten. Das Ausbleiben dieser Zuwächse sollten wir als Chance nutzen, die Ungerechtigkeiten in den Blick zu nehmen, die wir bislang verdrängt oder hingenommen haben.
Eine andere Verteilung der Beitragslasten im Gesundheitswesen, verbunden mit Maßnahmen zur Senkung der Kosten, ist für alle, die nun mehr Lasten tragen müssen, selbstverständlich unerfreulich. Ob das ungerecht ist oder sogar "Sozialabbau", ist eine ganz andere Frage. Eine Veränderung, die das solidarische Gesundheitswesen vor dem Kollaps bewahrt, wäre eine Sicherung dieses Gesundheitswesens. Deren Unterlassung würde wirklich Sozialabbau werden.
Wenn alle Wissenschaftler seit Jahren übereinstimmen darin, dass die Arbeitskosten, insbesondere die Lohnnebenkosten, zu hoch seien, um bei noch geringeren Wachstumsraten zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen, dann ist es nicht zuletzt Gerechtigkeitspolitik, diese Lohnnebenkosten zu senken und Wachstumsimpulse zu geben.
Lassen Sie mich ein anderes Feld ansprechen: Seit PISA wissen wir, dass alle Bemühungen, Bildungserfolge und soziale Herkunft voneinander abzukoppeln, nicht erfolgreich gewesen sind. Ist das gerecht, ist das akzeptabel, wäre es nicht zuletzt ein erheblicher Beitrag zum Zusammenhalt der Gesellschaft, wenn sozialer Aufstieg über Bildung und Leistung erkennbar besser möglich würde?
Wir haben es auch mit Verletzungen des Gerechtigkeitsempfindens zu tun, an denen die vom Parlament beeinflusste und gestaltete Politik völlig unbeteiligt ist. Ich meine die obszönen Einkommenssteigerungen, die sich viele Vorstände deutscher Banken und Großunternehmen genehmigen, während sie Lohnzurückhaltung predigen, Filialen schließen, Bilanzprobleme haben, innovative Produkte nicht rechtzeitig auf den Markt bringen, Betriebsrenten verschlechtern und mangelnden Respekt vor den Gerichten demonstrieren.
Diese Überheblichkeit hat eine Entsprechung auf der anderen Seite der Skala des Erfolges und der Macht, wo sich Unzufriedenheit und Perspektivlosigkeit in der Ausgrenzung bis hin zur Gewalttätigkeit gegen Andersdenkende und vermeintlich Schwächere entlädt. Wilhelm Heitmeyer, der Bielefelder Soziologe, hat dafür den Begriff der "gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit" geprägt und eine Reihe Besorgnis erregender Befunde dazu zusammengetragen. Ich selber habe große Mühe, Gruppen und Bürgerinitiativen öffentliche Unterstützung und Aufmerksamkeit zu verschaffen, die sich gegen solche gewalttätige Ausländerfeindlichkeiten, offen zur Schau getragenen Rassismus und Antisemitismus couragiert zur Wehr setzen.
Ich halte inne: Das ist ein gewaltiger Problemhaushalt und die Schilderung ist nicht vollständig. Ich will versuchen, etwas Ordnung hinein zu bringen.
1. Deutschland hat es zwei Jahrzehnte lang versäumt, seine soziale Marktwirtschaft an die Anforderungen der Globalisierung anzupassen. Der Bundestag hat deshalb im vergangenen Jahr ein ganzes Paket nachholender Reformen beraten und beschließen müssen, die in ihrer Massierung offensichtlich die Öffentlichkeit, namentlich auch die Anhänger der Regierungsparteien, überfordert haben.
2. Die Verunsicherung angesichts des bisherigen Reformstaus weitet sich aus zu einer Verunsicherung über die Ziele, Maßstäbe und Grundwerte der Reformpolitik. Dringend nachzuholen und zu intensivieren ist deshalb die Diskussion und Vergewisserung darüber, welche Erfordernisse, welche Politik heute der Verwirklichung jener Grundwerte dient, die ja nicht nur für die Volkspartei SPD gültig sind: Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität. (Die Häme über die Krise der SPD übrigens ist billig, sie könnte aber unsere Gesellschaft noch teuer zu stehen kommen.)
3. Unübersehbar überlagert werden diese Vermittlungsprobleme von der objektiven Verringerung nationalstaatlicher Regelungskompetenz und nationalstaatlicher Handlungsspielräume angesichts der Folgen der Globalisierung. Europa muss deshalb das zentrale Thema unserer politischen Phantasie und Kraftanstrengungen werden.
4. Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird prekär. Ausdruck dafür sind sowohl Rückfälle in Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und entsprechend motivierter Gewalttätigkeit als auch – wie beschrieben – Fehlverhalten der wirtschaftlichen Eliten.
Ich bin zuversichtlich, dass diese Probleme im positiven Sinne beherrschbar, lösbar sind. Es wird viel Überzeugungsarbeit kosten, um klar zu machen, dass die reformpolitischen Einschnitte und die Neuverteilung von Lasten gerade dem Ziel dienen, den Sozialstaat zu bewahren und nicht etwa abzubauen. Nach meiner Überzeugung ist der Sozialstaat die größte europäische Kulturleistung. Ohne gesellschaftlich organisierte Solidarität ist Europa nicht vorstellbar. Einen Teil dieser Überzeugungsarbeit könnte die Erfahrung bewirken, dass die prophezeiten sozialen Katastrophen ausbleiben und auch die Praxisgebühr kein neues Armutsproblem schaffen wird.
Die zunächst abstrakte Debatte über Gerechtigkeit wird mehr Zeit benötigen, um von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Nötig ist ein erweiterter Gerechtigkeitsbegriff im Sinne gleicher Freiheit, bei der es nicht allein um die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums geht, sondern ebenso um die gerechte Teilhabe an Arbeit, an Kultur, an Bildung, an Politik und an Wohlstand. Und es geht auch darum, ein konservatives, reduziertes Sozialstaatsverständnis zu korrigieren: Sozialstaat ist nicht nur ein nachsorgendes Auffangnetz für die Fälle, in denen bestimmte Risiken eingetreten sind, sondern er verlangt vorsorgende Politik, um diese Risiken zu minimieren.
Die realistische Antwort auf den Kompetenzverlust der Nationalstaaten ist die Europäische Union. Sie bringt die Kompetenzen nicht zurück, aber mit dem Verfassungsentwurf des Konvents, seiner klareren Arbeitsteilung, seiner verbesserten Transparenz und seiner Demokratisierung europäischer Entscheidungen wird nach meiner Überzeugung Legitimität geschaffen, die bislang fehlt.
Die Kohäsionsproblematik ist dagegen von anderem Gewicht. Obwohl sich Gerechtigkeitspolitik und die noch unerledigten Reformanstrengungen der Agenda 2010 positiv auf den Zusammenhalt auswirken sollten, dürften sich manche Defizite der politischen Gestaltung entziehen. Wenig vorbildliche Eliten oder ein Mangel an familiärer Zuwendung und pädagogischer Wertevermittlung müssen auf andere Weise behoben werden als durch Gesetzgebung.
Gleichwohl: Wirtschaftliches Wachstum durch verbesserte Innovationsfähigkeit; Abbau von Arbeitslosigkeit, größere und von der sozialen Herkunft unabhängigere Bildungschancen, kinderfreundliche Familienpolitik sind auch geeignet, gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern.
Einer solchen langfristigen und beharrlichen Politik bieten sich immer noch eine Reihe von Hindernissen. Zwei davon will ich abschließend erwähnen: die Politikblockade durch gegensätzliche Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat und das Verhältnis von Politik und Medien. Die Bund-Länder-Kommission zur Reform der bundesstaatlichen Ordnung hat ihre Arbeit aufgenommen und ich hoffe darauf, dass sie mindestens teilweise die verschlungenen Kompetenzen von Bund und Ländern entwirren und eindeutiger, transparenter zuzuordnen kann. Das ist dringend notwendig und möglich.
Hinsichtlich des Verhältnisses von Medien und Politik bin ich skeptischer. Obwohl demokratische Politik auf mediale Vermittlung, nicht zuletzt auf kritische Medien und öffentliche Kontrolle angewiesen ist, funktionieren beide auf geradezu gegensätzliche Art und Weise. Politik ist eine Kette andauernder Entscheidungsprozesse, mühsamen Interessenausgleichs und an strenge Regeln gebundenen Streits. Medien tendieren unter dem Druck verschärfter Konkurrenz um Hörer, Zuschauer, Leser zur Boulevardiserung, zur "Event"-Orientierung, also weg vom Prozesshaften. Sie binden ihre Kundschaft über Sensationen, über Empörung, über populistische Pflege von Vorurteilen, durch Unterhaltung. Der Aufklärung, dem kritischen informierten Diskurs über notwendige Veränderungen dient das nicht sonderlich. Journalistische Verantwortung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wird von der Verantwortung für Quote und Auflage in den Hintergrund gedrängt. Statt der Erörterung von Ursachen und Wirkungen wird Schuld zugewiesen, Erregung produziert. Die Bildzeitung ist inzwischen das Leitmedium der Republik.
Lassen Sie mich, damit mir meine Rede nicht mißdeutet wird zur bequemen Schelte eines Politikers gegenüber den Medien, einen Journalisten zitieren:
"Die Medien haben das Nachrichtenumschlagstempo so erhöht, die Räume der Diskretion zerstört, den Unterschied zwischen Idee, Plan, Beschluß und Gesetz so verwischt, dass unablässig der Eindruck von Durcheinander entsteht. Das ist für eine Politik, die wegen ihrer Härte und ihrer unvermeidlichen Komplexität ohnehin schwer zu vermitteln ist, fatal. So entsteht eine neue Politikverdrossenheit, auf die ein Teil der Medien, die ja Tag für Tag und Woche für Woche am Kiosk Politik verkaufen müssen, mit sich ständig verschärfendem Politiker-Ekel und mit forcierter Dauerempörung reagiert, heute über das Zuwenig, morgen über das Zuviel an Reformen." So Bernd Ulrich im Berliner "Tagesspiegel". Anderes habe ich dazu nicht zu sagen.
Von Ernst-Wolfgang Böckenförde, dem früheren Verfassungsrichter, stammt das berühmte, fast schon zu Tode zitierte Diktum, der säkulare Staat, die Demokratie lebten von Voraussetzungen, für die sie selbst nicht sorgen könnten. Das meint Tugenden und Werte, Orientierungen und Grundeinstellungen, Wissen und Kompetenzen, die demokratisches Engagement ausmachen, es ermöglichen, die das Fundament von Demokratie sind. Sie zu vermitteln, zu pflegen, lebendig zu halten ist auch Aufgabe von Schule und Universität, nicht zuletzt der Erziehungs- und Sozialwissenschaften. Ob und wie Ihnen, meine Damen und Herren, das gelingt, auch darin bewährt sich Demokratie. Deshalb war ich hier am richtigen Ort. Herzlichen Dank.“