Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bei der Europäischen Konferenz der Parlamentspräsidenten in Straßburg
Es gilt das gesprochene Wort
"In diesen Wochen wird überall in Europa diskutiert, ob mit
Referenden über die EU-Verfassung abgestimmt werden soll.
Manches Mal stellt sich der Verdacht ein, nicht zuletzt, wenn in
Deutschland prinzipielle Gegner von Volksabstimmungen
plötzlich als Verfechter eines EU-Referendums auftreten, dass
sie das Minderheiten zu liebe tun, die im jeweiligen Land der EU
skeptisch gegenüber stehen. Dahinter steht bei manchen u. a.
die Befürchtung, der europäischen Verfassung fehle es an
demokratischer Legitimation und Akzeptanz, falls sie "nur" von den
Parlamenten, nicht aber vom Volk gebilligt wird.
Um es gleich zu sagen: Diese Sorge teile ich nicht. Wo, wenn nicht
in den Parlamenten, fallen unmittelbar legitimierte demokratische
Entscheidungen? Auch im Entstehungsprozess der EU-Verfassung kann
ich kein Demokratiedefizit erkennen. Der Verfassungskonvent bestand
zu einem großen Teil aus frei gewählten, demokratisch
legitimierten Parlamentariern. Nie zuvor konnten Parlamentarier so
unmittelbar an der Gestaltung des europäischen
Primärrechts mitwirken. Zudem war der Konventsprozess von
einer breiten gesellschaftlichen Debatte begleitet. Ich erinnere
zum Beispiel an die intensive Diskussion um die Aufnahme des
Gottesbezugs.
Ungeachtet dessen halte ich ein komplexes Werk wie den
europäischen Verfassungsvertrag auch für denkbar
ungeeignet, Gegenstand eines Referendums zu sein. Es besteht aus
ungezählten Einzelbestimmungen, über die man jeweils
unterschiedlicher Auffassung sein kann. Gründe für ein
"Nein" im Detail gibt es also viele, der Grund für ein "Ja"
hingegen ist nur singulär: das "Ja" zum Gesamtwerk, das "Ja"
zum europäischen Einigungsprozess überhaupt. Gegenstand
von Referenden können - so meine feste Überzeugung
– nur klar definierte Einzelfragen sein, auf die auch ein
einfaches "Ja" oder "Nein" möglich ist. Ich halte es deshalb
für gefährlich, den europäischen Einigungsprozess
durch derartige - z. T. aus innenpolitischen Gründen
motivierte – Referenden zu gefährden.
Entscheidend für die Identifikation der Bürger mit der EU
wird am Ende nicht sein, ob die Verfassung mit Referenden gebilligt
wurde, sondern ob die Verfassung in der Praxis tatsächlich zu
mehr konkret erfahrbarer demokratischer Teilhabe führt. Das
heißt aber vor allem: Es muss gelingen, die Rolle des
Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente
spürbar zu stärken und die Transparenz der Entscheidungen
zu erhöhen. Es muss uns aber auch daran gelegen sein, den
Bürgern tatsächlich mehr direkte
Mitwirkungsmöglichkeiten zu geben. Ich bin deshalb gespannt,
ob und wie die in Artikel 46 Absatz 4 der EU-Verfassung vorgesehene
"Bürgerinitiative" umgesetzt wird.
Demokratische Teilhabe sollte man allerdings nicht allein an der
Existenz plebiszitärer Elemente in der Verfassung messen.
Anders als in den meisten anderen europäischen Staaten
gründet der Staatsaufbau in Deutschland auf einer
ausgeprägten föderalen Tradition. Die Länder, die
den Bund gegründet und eigene Kompetenzen an ihn abgegeben
haben, sind immer ein selbstbewusstes Gegengewicht zur Macht des
Bundes geblieben. Das Miteinander von Bund und Ländern hat
sich in den vergangenen 54 Jahren bewährt und nicht zuletzt
demokratische Teilhabe, Bürgernähe und Transparenz
gestärkt. Allerdings muss auch ein bewährtes System
gelegentlich "nachjustiert" werden. Im Laufe der Zeit hat sich die
klare Trennung der Ebenen verwischt, was es für die
Bürger schwieriger macht, Zuständigkeiten und
Entscheidungsabläufe zu durchschauen. Zur Zeit berät
daher in Deutschland eine Kommission über notwendige Reformen,
um Verantwortlichkeiten klarer, durchschaubarer zu regeln und so
demokratische Transparenz, Bürgernähe und
Subsidiarität zu stärken.
Die Erfahrungen, die wir in Deutschland gemacht haben,
bestätigen, dass Subsidiarität und dezentraler
Staatsaufbau demokratische Teilhabe befördern. Aus deutscher
Sicht ist es ein außerordentlicher Erfolg, dass es gelungen
ist, das Subsidiaritätsprinzip in der Europäischen
Verfassung zu verankern. Demokratie wächst immer von unten und
Entscheidungen sollten auf der niedrigst möglichen Ebene
getroffen werden. Deshalb brauchen wir nicht nur ein starkes
Europäisches Parlament, sondern auch starke nationale
Parlamente in der EU. Wir werden innerhalb einer sehr kurzen Frist
von 6 Wochen in unseren nationalen Parlamenten über
Subsidiarätitsverstöße der europäischen
Gremien zu entscheiden haben und dafür ein 30-Prozent-Quorum
erreichen müssen. Dafür bedarf es einer Verbesserung
unserer multilateralen Kooperation zwischen den Parlamenten, und
wir sollten gemeinsam nach Lösungen suchen, wie wir diese
gewährleisten können. Seit dem 1. Mai wirken 25 Staaten
am Aufbau Europas mit - die Erweiterung der EU ist ein
glückliches Ereignis, eine historische Chance für Europa.
Andererseits empfinden viele Bürger die neue, große
Europäische Union als unübersichtlich. Um so mehr kommt
es darauf an, den Prinzipien der Subsidiarität, der
Transparenz und der europäischen Öffentlichkeit als
Grundlagen des politischen Zusammenwirkens innerhalb der EU zur
Geltung zu verhelfen - nicht nur auf dem Papier der Verfassung,
sondern konkret erfahrbar für die Bürger. Denn der
Europäische Einigungsprozess wird nur dann gelingen, wenn wir
nicht nur ein Europa der Staaten bauen, sondern auch ein Europa der
Bürger."
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