Bundestagspräsident Wolfgang Thierse dankt für Ignatz-Bubis-Preis
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse erhält heute bei
einer Feierstunde in der Paulskirche in Frankfurt/Main (Beginn 18
Uhr) den Ignatz-Bubis-Preis. Der Bundestagspräsident
führt in seiner Dankrede u.a. aus:
Es gilt das gesprochene Wort
"Dass ich es gewöhnt bin, Reden zu halten, wissen Sie. Aber
die heutige Rede fällt mir besonders schwer. Die Verleihung
dieses Preises, verbunden mit diesem Namen, macht eben nicht nur
stolz, sondern auch beklommen und verlegen. Lassen Sie mich also
zunächst Dank sagen, Dank auch für Ihre Laudatio, sehr
verehrter Bischof Lehmann. Ich bin sicher, Ignatz Bubis wäre
sehr einverstanden damit gewesen, dass der Vorsitzende der
katholischen Bischofskonferenz die Laudatio hält bei der
Verleihung eines Preises, der dem Andenken und dem Lebenswerk eines
Deutschen jüdischen Glaubens gewidmet ist.
Vor wenigen Wochen ist hier in Frankfurt auf Beschluss des Rates
eine Brücke nach Ignatz Bubis benannt worden. Dieses Symbol
könnte nicht glücklicher gewählt sein. Ignatz Bubis
war in der Tat ein Brückenbauer. Er baute Brücken -
zwischen den Juden und den nichtjüdischen Deutschen, aber auch
weit darüber hinaus. Er engagierte sich für die
Minderheiten in der Mehrheitsgesellschaft, förderte die
Verständigung zwischen den gesellschaftlichen Gruppen,
zwischen den Generationen, Kulturen und Religionen. Im Ausland,
gerade in Israel und den USA, warb er immer wieder für
Vertrauen in unsere parlamentarische Demokratie. Wie kaum ein
anderer hat er sich für die Erinnerungsarbeit, gegen das
Vergessen oder Verdrängen der Menschheitsverbrechen der
Nationalsozialisten eingesetzt. Aber der Brückenbauer legte
auch Wert darauf, dass die Brücken nicht nur in die
Vergangenheit führten. Ihm ging es ebenso um Gegenwart und
Zukunft, um die Stärkung unserer Zivilgesellschaft gegen ihre
extremistischen Feinde.
Diese Lebensleistung für die Demokratie in Deutschland hat ein
Mensch erbracht, der die Schrecken des Nationalsozialismus als Kind
und junger Mann am eigenen Leib erfahren hat, der fast seine ganze
Familie in den Konzentrationslagern verlor, dessen Vater vor seinen
Augen abgeführt und in Treblinka ermordet wurde. Und dennoch
sah Bubis das Land, aus dem die Täter stammten, als jenes
Land, in dem er nicht nur leben, sondern öffentlich wirken,
für das er sich engagieren wollte. Auf dieses Engagement, auf
diese unnachahmliche Lebensleistung verpflichtet dieser Preis, ich
weiß es.
Ignatz Bubis' bittere, ja resignative Lebensbilanz, kurz vor seinem
Tode uns mitgeteilt, ist und bleibt ein Stachel in unserem Fleisch,
so sehr ihr damals in der Würdigung seines Lebens
widersprochen wurde und so sehr man ihr immer neu widersprechen
möchte. Sind wir doch gemeinsam der Überzeugung, dass
Deutschland kein rechtsextremistisches Land, dass unsere Demokratie
gefestigt und die demokratische Wachsamkeit der Wählerinnen
und Wähler beträchtlich ist. Die Lebendigkeit der immer
noch wenigen, aber wachsenden jüdischen Gemeinden ist eine
Gnade und ein Geschenk, mit der noch vor Jahren nicht gerechnet
werden konnte. Es gibt vielfaches bürgerschaftliches
Engagement gegen Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit,
für Menschenrechte und Toleranz in unserem Land, ein
Engagement auch und gerade von jungen Menschen, das viel mehr
mediale Aufmerksamkeit verdiente. Unsere politischen, unsere
staatlichen Institutionen mögen gelegentlich Kritik
herausfordern, aber die Bundesrepublik ist weit, sehr weit entfernt
von Weimarer Verhältnissen. Dies gilt trotz und gerade
angesichts von Parteispendenaffäre, BSE-Krise,
Ministerrücktritten, Reformstreit, vielfacher Unzufriedenheit
und Ost-West-Mißhelligkeiten. Wir Deutschen sind staatlich
vereinigt und leben in Grenzen, zu denen alle unsere Nachbarn ja
gesagt haben, wir leben in Frieden mit unseren Nachbarn. Wann hat
es das alles schon einmal gegeben? Das ist ein unverdientes
historisches Glück nach diesem vor allem auch durch Deutsche
verursachten furchtbaren 20. Jahrhundert. Wir haben also die
Chance, dass deutsche Geschichte endlich einmal gut ausgehen
kann.
Und trotzdem, wenn ich es recht sehe, sind wir dieses freundlichen,
hoffnungsvollen Befindens nicht wirklich sicher. Der Stachel im
Fleisch! Haben wir doch im 10. Jahr unserer wiedergewonnenen
staatlichen Einheit mit Bestürzung wahrgenommen, was noch und
wieder in unserem Lande möglich ist: Intoleranz, Fremdenhass,
Antisemitismus, Rechtsextremismus, die sich in mehr und brutaleren
Gewalttaten niederschlagen. (Ich muss hier die schlimmen Zahlen
nicht nennen.) Haben wir doch begreifen müssen, dass
ausländerfeindliche Einstellungen ein Teil des
Alltagsbewusstseins vieler Menschen nicht nur, aber vor allen auch
im Osten Deutschlands geworden sind. Müssen wir doch
begreifen, dass der Rechtsextremismus nicht mehr ein
parteipolitisch isolierbares Randphänomen ist, sondern in die
Mitte unserer Gesellschaft hineinreicht, man gehe nur in
(ostdeutsche) Schulen, man beobachte die Skinheadszene und ihre
Musik als ein Ferment der (ostdeutschen) Jugendkultur. Mit
Bestürzung werden wir des Ausmaßes moralischer
Entwurzelung gewahr: elementarste Regeln menschlichen
Zusammenlebens gelten nicht mehr, alltägliche Gewalt nimmt zu,
Angst breitet sich aus - an manchen Schulen, in manchen Klein- und
Mittelstädten, auf dem "flachen Land". (Ich male hier nicht
schwarz, aber ich weiß, wovon ich rede, denn ich bin viel
unterwegs.) Erinnern Sie sich an die Meldung vor einigen Monaten
über ein Strafverfahren gegen Taxifahrer, die nicht einmal zu
ihrem Funktelefon griffen, um die Polizei zu holen, sondern kalt
(oder womöglich zustimmend) zusahen, wie vor ihren Augen ein
Ausländer fast zu Tode geprügelt wurde? Und - um den
Blick zu wechseln - dass wir uns nicht mehr darüber aufregen,
es scheinbar gar nicht bemerken, dass wir Gewalt zum wichtigsten
Gegenstand unserer abendlichen Fernsehunterhaltung gemacht haben,
das will mir auch nicht gerade als Beleg für die Verfeinerung
unserer Sitten erscheinen.
Lohnt es sich, in dieser Sache und bei dem Thema überhaupt, an
die Zivilgesellschaft zu appellieren? Ich hoffe es, und es ist ja
nicht ohne Echo, wie die vergangenen Monate bewiesen haben. Unser
Staat, unsere Polizei und Justiz tun jedenfalls mit gewachsenem
Problembewusstsein und wachsender Entschlossenheit ihre Pflicht.
Der NPD-Verbots-Antrag ist dafür ein Zeichen, ein
unübersehbares und notwendiges!
Vor diesem Hintergrund, einem - soll ich sagen "typisch deutschen"?
- Zwiespalt von Befund und Befinden, von Chance und
Gefährdung, vor diesem Hintergrund debattieren wir in
Deutschland seit einigen Monaten über den Begriff
"Leitkultur". Und darauf möchte ich etwas ausführlicher
eingehen (gewissermaßen in Erinnerung an meinen früheren
Beruf, den des Kulturwissenschaftlers).
Lohnt es sich, über "Leitkultur" ernsthaft zu diskutieren? Es
geht ja um ein Wort, zu dem sich bisher der rechte und präzise
Begriff nicht einstellen will! Auch nach einigen Monaten Diskussion
darüber, scheint mir das der Fall. Aber vielleicht ist das
Wort ja mit voller Absicht in seiner Ambivalenz gewählt
worden. Denn es ging vielleicht nicht nur um einen präzisen
Begriff, sondern auch um seine sehr suggestive Konnotation: "Wer zu
uns kommt, soll sich gefälligst an uns anpassen!" Das ist ein
Satz, dem vermutlich die meisten Deutschen zustimmen, weil er an
eine alltägliche Erfahrung von uns allen anknüpft: Wer
unsere Wohnung betritt, möge sich so benehmen, dass wir ihn
nicht rauswerfen müssen, aus Wut oder Verärgerung
über sein Verhalten. Ein sehr suggestiver Satz also, an den
sich aus Gründen intellektueller Redlichkeit und politischen
Anstandes allerdings eine kleine Frage anschließen
müsste: "Woran denn, bitte schön, soll sich da jemand
anpassen?" Das ist die eigentliche Frage, um die die Diskussion
kreisen müsste. Ich übersetze diese Frage in eine
allgemeinere Form: Wieviel Gemeinsamkeit und welche Art von
Grundübereinstimmung braucht unsere Gesellschaft, damit sie
(möglichst) viel Verschiedenes, (möglichst) viel
Verschiedenheit leben und aushalten kann? Als die Frage "Was
hält unsere Gesellschaft zusammen?" wird dieses Thema schon
seit Jahren heftig debattiert. Was sind die Bindekräfte in
einer Gesellschaft, die sich immer stärker differenziert, die
geprägt ist durch Individualisierung und Pluralisierung in
vielerlei Hinsicht, die - schon um der eigenen
ökonomisch-sozialen Vitalität willen - der Zuwanderung
bedarf, also mit mehr ethnischen, religiösen, kulturellen
Differenzen wird rechnen und leben müssen?
Das ist die vernünftige und eigentlich wichtige Frage, der wir
uns zu stellen haben. Davon ist die Frage danach, was wir von
denjenigen erwarten, die zu uns kommen, nur der
vordergründige, wenn auch nicht unwichtige Teil. Bei deren
Beantwortung sind wir uns offensichtlich schnell einig geworden:
Die Beherrschung der deutschen Sprache, der Respekt vor Recht und
Gesetz und die Anerkennung unserer Verfassung und der in ihr
kodifizierten Grundwerte unserer Gesellschaft, der Menschenrechte
und Bürgerpflichten in einem demokratischen Staat. Das ist,
soweit ich sehe, zwischen den demokratischen Parteien unstrittig,
egal ob man das nun Verfassungspatriotismus oder normativen Konsens
nennt. Sind wir uns aber auch darin einig, dass dieser normative
Konsens nicht in ein ethnisches Projekt, dass der
Verfassungspatriotismus nicht ethnisiert werden darf? Dies
nämlich wäre ein dramatisch gefährlicher
Rückfall in einen Grundfehler der deutschen Geschichte, den
die europäischen Juden, den unsere Nachbarn und den wir
Deutschen selber im 20. Jahrhundert blutig bezahlt haben!
Aber ist diese Grundübereinstimmung gemeint, wenn man
ausdrücklich von Kultur redet, geht Kultur in
Verfassungspatriotismus auf? Wenn wir von gesellschaftlichem
Zusammenhalt reden, meinen wir offensichtlich mehr. Übrigens
auch mehr als jene Beziehungen, die über den Markt hergestellt
werden, über Arbeit und Geld. Der gesellschaftliche
Zusammenhalt nämlich reduziert sich nicht auf
Marktbeziehungen, so wenig wir als Menschen in unseren beiden
marktgemäßen Rollen, nämlich Arbeitskraft und
Konsument zu sein, aufgehen!
Was übrigens ist an unserem notwendigen, wünschenswerten,
gerühmten Verfassungspatriotismus eigentlich deutsch? Ich kann
das nicht wirklich sehen. Der normative Konsens, der unsere
Gesellschaft politisch trägt und zusammenhält, ist eine
Errungenschaft der Verwestlichung Deutschlands nach 1945. Der
Historiker Heinrich-August Winkler hat gerade ein zweibändiges
Werk zur deutschen Geschichte der letzten 200 Jahre
veröffentlicht unter dem programmatischen Titel "Der lange Weg
nach Westen". Darin beschreibt Winkler den
hochwidersprüchlichen und für uns und unsere Nachbarn so
opferreichen Prozess der Entwicklung Deutschlands in die westliche
Demokratie hinein, den Prozess der Annahme der Grundwerte der
westlichen Zivilisation. Unser normativer Konsens also ist nicht in
irgend einer besonderen Weise deutsch, sondern westlich, und das
ist gut so!
Dieser Konsens ist gefestigt und, seien wir ehrlich, prekär
zugleich. Stachel im Fleisch: Das, mindestens, sollten wir gelernt
haben aus unserem Erschrecken über Antisemitismus, Fremdenhass
und braune Ideologie in den Köpfen und Taten von Jungen und
Alten in Deutschland. Angesichts erneuter Anschläge auf
jüdische Einrichtungen müssen wir die Einsicht gewinnen:
Die geschichtliche Lehre aus den Erfahrungen des Holocaust hat ein
Volk offensichtlich nicht ein für alle Mal gezogen und
gelernt; sie muss immer wieder neu, Generation für Generation
vermittelt, angeeignet, gelernt werden. Deshalb sind die Debatten
über angemessene und für die nachfolgenden Generationen
wirksame Formen der Erinnerung, der Vermittlung geschichtlichen
Wissens, der Holocaust-Pädagogik notwendig und sinnvoll, so
quälend sie manchmal sein mögen. Das schließt den
Streit über das Holocaust-Mahnmal, die Topografie des Terrors
und das Jüdische Museum in Berlin ein. Und das gilt auch
für die Lehren aus der geschichtlichen Erfahrung mit der
anderen, sehr anderen Diktatur in Deutschland, dem Kommunismus. Ich
habe mir nicht vorstellen wollen, nicht vorstellen können,
dass es in Deutschland jemals wieder jene unheilvolle ideologische
Kombination von Nationalismus und Sozialismus geben
würde.
Wir Demokraten wissen: Diktaturen bekämpft man am besten,
bevor sie sich etablieren können - das ist in zweifacher
geschichtlicher Lektion auf bittere Weise zu lernen gewesen. Die
Demokratie verteidigt man am erfolgreichsten, so lange sie noch
nicht in ihren Grundfesten erschüttert ist. Ich zitiere
Wilhelm Hennis, den Altmeister der Politischen Wissenschaft in
Deutschland: "Kein Regierungssystem ist so sehr von seinen
äußeren Bedingungen abhängig, wie das
parlamentarische. Es ist die Luxusausgabe der Regierungsformen, von
allen das anspruchsvollste. So wie es am leichtesten für
Krisen anfällig ist, so ist es unter günstigen
Voraussetzungen von allen das leistungsfähigste." Wilhelm
Hennis ist nicht zu widersprechen.
Die Demokraten, Politiker wie Bürger, sind deshalb dazu
aufgerufen, den demokratischen Grundkonsens immer wieder neu zu
stiften. Das Wissen über seinen ungeheuren Wert immer wieder
anzubieten, seine Gegner öffentlich zu stellen. Was haben wir
schließlich Besseres und Überzeugenderes als das gute
Argument und die positive geschichtliche Erfahrung?
Dazu gehört: Der Staat und insbesondere die demokratische
Regierungsform sind kein Selbstzweck. Sie sind Mittel zum Zweck.
Und wer Systemopposition betreiben oder das ganze System abschaffen
will, der sollte sich in dieser Gesellschaft vor der offensiv und
selbstbewusst gestellten Frage zu rechtfertigen haben, ob er
Garantie der individuellen Freiheit, ob er die Gleichheit vor dem
Gesetz, ob er die Freiheit der Meinung und der Religion, der Reise
und der Wahl des Berufs, die Koalitions- und Versammlungsfreiheit
beschneiden und beseitigen will. Man kann das alles wollen,
allerdings nicht auf dem Boden des Grundgesetzes. Und ich will,
dass auch in Zukunft die überwältigende Mehrheit der
Menschen willens und in der Lage ist, Rückfälle in
vordemokratische, deutschtümelnde, fremdenfeindliche,
antisemitische Zustände zurückzuweisen und zu verhindern.
Das wird um so eher gelingen, wenn das Grundgesetz begriffen und
angenommen ist, wenn es bewusst und absichtsvoll von den
Bürgern getragen wird.
Demokratie und Parlament und die Gewaltenteilung unseres
Grundgesetzes sind keine beliebigen Formalismen, keine
autoritären Setzungen, sondern sie sind die Instrumente dieser
Gesellschaft, um die Menschenwürde und die individuelle
Freiheit zu gewährleisten. Keine andere Staatsform kann das,
keine andere will es überhaupt. Wer diese Ziele teilt, muss
auch das Instrument bejahen. Nun ist gerade die Freiheit ein
besonders gefährdetes Gut. Man erkennt ihren Wert am
deutlichsten, sobald man sie verloren hat, sobald sie nicht mehr
selbstverständlich ist. Schlimmer noch: Es tut nicht weh, wenn
andere ihre Freiheit einbüßen, es tut erst weh, wenn die
eigene Freiheit verloren gegangen ist. Eine Gesellschaft aber
büßt ihre Freiheit scheibchenweise ein. Sobald sie dem
Mitmenschen jüdischen oder islamischen Glaubens, dem
ausländisch aussehenden Nachbarn genommen ist, sind die
Voraussetzungen geschaffen, auch noch der nächsten und
nächsten Gruppe die Freiheit zu nehmen.
Kultur ist aber offensichtlich mehr als normativer Konsens, als
Verfassungspatriotismus, als intellektuelle
Werte-Übereinstimmung, als das Bewusstsein von der Kostbarkeit
und Gefährdung der Freiheit und der Menschenwürde. Sie
ist vor allem auch ein Raum der Emotionen, der Artikulation und
Affektation unserer Sinne, ist ein Raum des Leiblichen und
Symbolischen! Deshalb ist die Frage sinnvoll, wie das, worin wir
intellektuell und politisch, also in gewisser Weise abstrakt
übereinstimmen, emotional und symbolisch und leiblich als
Bindekraft wirksam wird. Dies ist die eigentlich kulturelle Frage
bei der durch das Wort "Leitkultur" angestoßenen
Debatte.
Eine erste Antwort darauf führt zu einem nur
vordergründig konservativen Stichwort. Es geht um den
kulturellen Kanon unserer Gesellschaft: Was muss an Bildung, an
kulturellem Wissen, an geschichtlicher Erinnerung mindestens
vorhanden sein, damit überhaupt so etwas wie
Verständigungsprozesse in unserer Gesellschaft möglich
sind? Um sich zu verstehen, muss man eine gemeinsame Sprache
beherrschen, das heißt aber nicht nur über deren Worte
verfügen, sondern auch deren Bedeutungen beherrschen, und die
sind nicht gänzlich ohne Geschichte und ohne Kultur zu haben.
Die Frage also, was aus Geschichte und kultureller Herkunft wichtig
ist für gegenwärtige
Verständigungsmöglichkeiten, wird wieder
drängender.
Was sollte zum Beispiel mit welchen guten, heute überzeugenden
Gründen von den jüdischen und christlichen Traditionen
vergegenwärtigt werden, die unser Menschenbild geprägt
haben und ebenso die Aufklärung und das Projekt der Moderne?
Oder warum und wie sollte ein junger deutscher Staatsbürger
ausländischer Herkunft (und etwa islamischer Religion) den
Nationalsozialismus und den Holocaust als Teil auch seiner
geschichtlichen Herkunft begreifen? Also die Bibel und Luther und
Kant und Goethe und das "Tagebuch der Anne Frank"!?
Könnten wir solche Fragen beantworten, ohne uns allzu sehr auf
einen starren, gänzlich unbeweglichen, unveränderlichen
Kanon zu fixieren, sie vielmehr diskutieren als Fragen unserer
Identität, bei der es um ein gelassenes Selbstbewusstsein
unserer selbst geht, um eine Identität, die nicht allein und
nicht zuvörderst auf die Abgrenzung von Anderem und Anderen
angewiesen ist?
Zum Zweiten geht es um emotionale Ausdrucksmöglichkeiten, in
denen wir uns wie selbstverständlich, also ohne Zwang und ohne
Scham und ohne Zwiespalt als "Gemeinschaft" wiedererkennen
können, in denen wir unserer Gemeinsamkeit, dem uns
Verbindenden Ausdruck zu geben vermögen. Blicken wir auf
unsere Nachbarn. Was treiben z. B. die US-Amerikaner, die, kaum
erklingt ihre Nationalhymne, sich erheben und ihre Hand auf ihr
Herz legen? Warum wäre uns das (wohl) peinlich, den
Amerikanern ist es aber selbstverständlich? Oder die Briten:
Mit welcher Selbstverständlichkeit singen sie während des
jährlichen Sommerabschlusskonzerts "The Last Night Of The
Proms" durchaus imperiale Lieder mit ("Rule Britannia...")? Sie
singen leidenschaftlich und zugleich mit einer gewissen ironischen
Distanz, so dass ich als ausländischer Zuschauer keinerlei
Ängste bekommen muss. Es ließen sich vergleichbare
Beobachtungen aus Frankreich oder Italien oder Polen berichten und
mit der Frage verbinden: Warum können unsere Nachbarn ihrer
kollektiven Identität so emotional Ausdruck verleihen und wir
nicht? Warum haben sie kulturelle Traditionen und Formen dafür
und wie sollten sie bei uns Deutschen aussehen, wenn wir denn ein
Bedürfnis danach empfinden? Dass es dieses Bedürfnis auch
bei uns gibt, ist schwerlich zu bestreiten. Ihm nachzukommen
fällt uns angesichts unserer durch die Nazis verdorbenen
nationalen Geschichte verständlicherweise viel schwerer als
unseren Nachbarn. Aber unsere Geschichte lehrt auch: Unbefriedigtes
Bedürfnis sucht sich verquere, ja gefährliche Formen
seiner Befriedigung. Deshalb sollten wir uns, nachdem wir Deutschen
nun staatlich vereinigt sind, dieser Frage neu stellen. Welche
Zeichen, welche Symbole, welche Gesten haben wir für unseren
Verfassungspatriotismus? Wie können wir den uns verbindenden
normativen Konsens auch emotional und sinnlich bildhaft
ausdrücken? Von oben angeordnet und kommandiert werden kann
und darf dabei nichts. Wie sehr das schiefgehen kann, zeigt die
Geschichte der DDR.
In unserem Zusammenhang sei zum Dritten an etwas Vergessenes
erinnert: Zu Zeiten der staatlichen Spaltung der Nation war der
Begriff der Kulturnation einigermaßen
selbstverständlich. Wir Deutschen, so die Überzeugung
damals, sind zwar staatlich gespalten, politisch getrennt, aber wir
gehören dennoch zusammen und was uns verbindet, das sei die
Kultur. Gilt diese Überzeugung nun gar nichts mehr? Wo wir nun
eine Staatsnation geworden sind, in Grenzen leben, zu denen alle
unsere Nachbarn ja gesagt haben, bedürfen wir nun des Bandes
der Kultur gar nicht mehr, ist der Begriff der Kulturnation also
überflüssig, gar gefährlich geworden, wie manche in
Erinnerung an problematische deutsche Debatten aus der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts behaupten? Ich glaube nicht. Was
aber Kulturnation heute sein könnte, darüber sollten wir
diskutieren, ohne in alte deutsche Ausgrenzungsmechanismen
zurückzufallen.
Und damit bin ich viertens bei dem, was nach meiner
Überzeugung die eigentliche und besondere
Leistungsfähigkeit der deutschen Kultur ausmacht: In den
glücklichen und großen Phasen der deutschen
Kulturgeschichte hat unsere Kultur eine besondere Integrationskraft
bewiesen; in der Mitte des Kontinents hat Deutschland in immer
neuen Anstrengungen und geglückten Symbiosen Einflüsse
aus West und Ost, Süd und Nord aufgenommen und sie zu eigener
Kultur geformt. Darauf können wir kulturelles
Selbstbewusstsein gründen, genau darin, in dieser Leistung hat
unser größtes künstlerisches Genie, nämlich
Goethe, zu Recht Weltgeltung erlangt. Und diese
Integrationsleistung ist ohne das deutsche Judentum, ohne das
"jüdische Element" in der deutschen Kultur gar nicht zu denken
- Moses Mendelssohn, Heine, Meyerbeer, Liebermann, Adorno: wieviele
Namen müsste ich aufzählen. Auf diese Geschichte und
Tradition der kulturellen Integration sollten wir heute aufbauen,
sie gilt es fortzusetzen. Dies wäre ein Begriff von deutscher
Kultur, der nicht der Aus- und Abgrenzung bedarf, der nicht ein
Begriff der kulturelless-gelassenen, also europäisch-normalen
Umgangs mit der eigenen kulturellen Identität, die sich nicht
zurückdrängen und fixieren lässt auf die Ängste
des Identitätsverlusts, sondern auf Aufnahmebereitschaft und
kulturelle Bereicherungs-Neugier setzt, die Kultur begreift und
praktiziert als einen Raum der Verständigung, der Anerkennung,
der menschenverträglichen Ungleichzeitigkeit. Wir haben also
Stoff genug für eine Kultur- und Identitäts-Debatte, die
nicht mit Ängsten spekuliert und auf Vorurteile setzt!
Ich danke fürs Zuhören und ich danke für diesen
Stachel im Fleisch, diesen so verpflichtenden Preis."