Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bei der Bundesdelegiertenversammlung der Türkischen Gemeinde
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat es als
"drängende Aufgabe" bezeichnet, "das Zusammenleben der
verschiedenen Kulturen auf Dauer zu regeln und zu gestalten". In
einer Rede vor der Bundesdelegiertenversammlung der Türkischen
Gemeinde in Deutschland am 28. April (Hotel Christopher-Haus,
Johannes-Stift, Berlin-Spandau) sagte er: "Wer bei uns bleiben
will, braucht seine kulturelle Herkunft nicht zu verleugnen. Er
muss aber die Grundwerte unserer Verfassung und die demokratischen
Spielregeln akzeptieren". Thierse fügte hinzu: "Wer zu uns
kommt und hier bleiben will, der kommt nicht darum herum, die
deutsche Sprache zu erlernen". In der Rede führte der
Bundestagspräsident aus:
"Erinnern Sie sich noch an den Empfang des millionsten
ausländischen Arbeitnehmers? Er kam am 27. November 1969 nach
mehr als zwei Tagen Zugfahrt aus der Türkei in Deutschland an.
Damals arbeiteten bereits 250.000 Türken in Deutschland. Der
damalige Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Josef
Stingl, beschenkte den "Jubiläumsgast" mit einem
Fernsehgerät.
Wie haben sich die Zeiten geändert!.
Aus 250.000 wurden 2,5 Millionen türkische Staatsbürger
in Deutschland, mittlerweile sprechen wir von der "dritten
Generation". Die ursprüngliche Gastfreundschaft erfuhr sehr
negative und sehr positive Prägungen: Ausländerhass und
Ausländerfeindlichkeit auf der einen Seite, lebenslange
Freundschaften und kollegiales Miteinander im Arbeitsleben zwischen
Deutschen und Türken auf der anderen Seite.
Als am 30. Oktober 1961 zwischen den Regierungen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Türkei die Vereinbarung zur
"Regelung der Vermittlung türkischer Arbeitnehmer nach der
Bundesrepublik Deutschland" getroffen wurde, kamen die meisten ohne
Familie und mit der Absicht, nur ein paar Jahre zu bleiben. Sie
wollten zurückkehren und mit den hier erworbenen Ersparnissen
in ihrer Heimat eine Existenz aufbauen. Doch für viele
türkische Arbeitnehmer, auch der ersten Generation, wurde
Deutschland zum Lebensmittelpunkt. Etwa 300.000 von ihnen haben bis
heute die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. In Berlin -
der wohl größten türkischen Stadt außerhalb
der Republik der Türkei - besitzt bereits jeder fünfte
die deutsche Staatsbürgerschaft, weitere 43 Prozent haben
einen Antrag auf Einbürgerung gestellt. Dem im Jahre 2000
beschlossenen Einbürgerungsgesetz sei Dank, dass Menschen
nicht mehr über Generationen hinweg rechtlich zu
Ausländern gemacht werden, obwohl sie schon längst zur
deutschen Gesellschaft gehören.
Als Arbeitnehmer und inzwischen längst auch als
Selbstständige und Unternehmer sind die türkischen
Bürger fester Bestandteil der deutschen Arbeitswelt geworden.
Das gilt für unser Steueraufkommen, für die
Sozialversicherungsbeiträge, aber auch für die
Arbeitslosenstatistik: Sie sind nicht mehr wegzudenken aus dem
akademischen Bereich, aus Politik, Kultur und Medien, aus Handwerk
und Handel.
Über 55.000 türkische Unternehmen haben in Deutschland
für mehr als 300.000 Arbeitsplätze und einen
durchschnittlichen Jahresumsatz von rd. 25 Milliarden EURO gesorgt.
Das hört sich im großen und ganzen nach einer
Erfolgsgeschichte an.
Aber das alltägliche Zusammenleben brachte und bringt heute
immer noch Probleme mit sich. Von den Stammtischen bis in die
Politik fällt es immer noch schwer, zwischen den
Extrem-Positionen, die Integration als bloße Anpassung der
Einwanderer missverstehen oder auf der anderen Seite so sehr an der
mitgebrachten Prägung und Identität festhalten, dass
nicht einmal die deutsche Sprache erlernt und genutzt wird, den
vernünftigen realistischen, den menschlichen
Möglichkeiten gemäßen Mittelweg zu finden.
Immerhin: Endlich besteht weitgehender Konsens darin, dass
Deutschland ein Einwanderungsland ist und dass wir daraus die
Konsequenzen ziehen müssen. Über Jahrzehnte war diese
Einsicht tabuisiert worden, obwohl die Zahl der Bürger
ausländischer Herkunft ständig zunahm.
Heute haben sich die Grenzen verwischt; Deutsche, also Menschen mit
deutscher Staatsangehörigkeit können hier geborene Kinder
von Eltern ausländischer Abstammung sein, deutschstämmige
Aussiedler aus vornehmlich osteuropäischen Ländern,
Menschen, die viele Jahre im Ausland gelebt haben. Unter den
Einwanderern gibt es wiederum viele, die hervorragend deutsch
sprechen, voll integriert am kulturellen, gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Leben teilnehmen, ohne - auch wenn ihre Familien
schon seit Generationen hier leben - die deutsche
Staatsbürgerschaft angenommen zu haben. Die politische
Gleichstellung, das allgemeine aktive und passive Wahlrecht aber
sind in aller Regel mit der Staatsbürgerschaft verbunden. Das
neue Staatsbürgerschaftsrecht, ein Kompromiss, erleichtert den
Erwerb der Staatsbürgerschaft, und das ist gut so.
Endlich haben wir ein tragfähiges Zuwanderungsgesetz, das
jetzt allerdings in eine Verfahrensauseinandersetzung abzugleiten
droht. Dabei geht es in der Sache um die Regelung von Zuwanderung
und Erleichterung der Integration, beides schieben wir schon viel
zu lange vor uns her. Das Gesetz ist ein gesellschaftlicher
Kompromiss, dem alle Parteien und gesellschaftlichen Verbände
zustimmen, nur die CDU/CSU nicht. Und begründet wird diese
Verweigerung nicht etwa mit grundlegenden sachlichen Differenzen,
sondern eher mit semantischen Spitzfindigkeiten, deren Absicht
leicht durchschaubar ist.
Grundpfeiler des Zuwanderungsgesetzes ist die Integration - ein
Begriff, über den seit Jahren leidenschaftlich und nicht
selten missverständlich debattiert wurde. Die Existenz von
miteinander unverbundenen Parallelgesellschaften ist damit ebenso
wenig gemeint, wie eine völlige Assimilation, also die Aufgabe
kultureller und religiöser Wurzeln und Traditionen. Der
Begriff der multikulturellen Gesellschaft gaukelte ein harmonisches
Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen vor und war damit genau so
blind für Reibungsverluste und Gewöhnungsprobleme, die
kulturelle Vielfalt und die damit verbundenen Konflikte wie
diejenigen, die diese Probleme völlig ignorierten.
Spätestens seit der erschreckenden Zunahme von
Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus ist allen klar
geworden, wie drängend die Aufgabe ist, das Zusammenleben der
verschiedenen Kulturen auf Dauer zu regeln und zu gestalten.
Über drei Voraussetzungen sollten wir uns im klaren sein:
Integration ist keine Aufgabe, die nur von dem einen oder anderen
zu erfüllen ist. Beide - Mehrheits- und
Minderheitsgesellschaft - müssen daran arbeiten. Integration
ist auch keine statische Aufgabe, weil die Anforderungen an
Integration sich mit den Generationen verändert. Im
Übrigen: das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen und
Lebensgewohnheiten ist doch eine große Chance: Es wächst
Neues daraus, Vielfalt ist immer ein Gewinn, auch wenn man sich
zuerst einmal streiten muss.
Aber wie viel Gemeinsamkeit und welche Grundübereinstimmung
braucht unsere Gesellschaft, damit sie möglichst viel
Verschiedenes, möglichst viel Verschiedenheit leben und
aushalten kann? Das ist die Grundfrage. Was sind die
Bindekräfte einer Gesellschaft, die schon um der eigenen
ökonomisch-sozialen Vitalität willen der Zuwanderung
bedarf, die also mit mehr ethnischen, religiösen, kulturellen
Differenzen wird rechnen und leben müssen? Wie kann
Integration gelingen, wie weit kann und soll Integration
gehen?
Über einige wesentliche Punkte sind wir uns einig: Wer bei uns
leben will, braucht seine kulturelle Herkunft nicht zu verleugnen.
Er muss aber die Grundwerte unserer Verfassung und die
demokratischen Spielregeln akzeptieren. Das ist zwischen den
demokratischen Parteien unstrittig - ganz gleich, ob man das als
Verfassungspatriotismus oder als normativen Konsens bezeichnet.
Übrigens wissen die meisten Muslime, die hier leben, den
Schutz unserer Verfassung, die Offenheit dieser Gesellschaft
durchaus zu schätzen und sie wissen auch, dass beides eng
miteinander verknüpft ist. Wir können nur dann eine
offene Gesellschaft bleiben, wenn sich keine Inseln bilden, die
außerhalb unseres gesellschaftlichen Grundkonsenses liegen.
Weder Rechtsextremismus noch islamischer Fundamentalismus
können geduldet werden. Sie wollen die geistigen, moralischen
Fundamente unserer Gesellschaft zerstören, die jedem
individuelle Freiheit- darunter die Religionsfreiheit
garantiert.
Wer zu uns kommt und hier bleiben will, der kommt nicht darum
herum, die deutsche Sprache zu erlernen. Auch darüber besteht
Konsens. Ohne gemeinsame Sprache kann Integration nicht gelingen.
Es gibt Menschen aus anderen Ländern, die seit Jahrzehnten
hier leben und unsere Sprache kaum oder gar nicht beherrschen. Nach
einer Studie des Essener Zentrums für Türkeistudien hat
sogar mehr als die Hälfte der türkischen
Mitbürgerinnen und Mitbürger Probleme, Deutsch zu
verstehen.
Dabei geht es doch bei der Forderung, die deutsche Sprache zu
lernen, nicht um Leitkultur oder deutsche Überheblichkeiten,
sondern um die konkreten Teilhabe-Chancen dieser Minderheit. Im
letzten Jahr waren Türkinnen aus Kreuzberg bei mir im
Büro, die an einem Deutschunterricht an der Volkshochschule
teilnahmen. Sie empfanden das als Befreiung, nachdem sie zum Teil
seit 20 oder 30 Jahren in Deutschland lebten. Dass sie die deutsche
Sprache nicht beherrschten, hat sie ausgeschlossen vom sozialen,
kulturellen Leben, hat sie beschränkt auf einen kleinen
Familienkreis. Es ist zweifellos notwendig, dass wir das Angebot an
Sprachkursen vergrößern und dass Einwanderer die
deutsche Sprache lernen. Wie sollen Menschen hier heimisch werden,
wenn sie nicht einmal die Sprache verstehen?
Wie zum Beispiel wollen Eltern ihren Kindern auf dem Weg zu
schulischer und beruflicher Qualifikation helfen, wenn sie selbst
die Sprache nicht verstehen, in der ihre Kinder lernen?
Welche Folgen das hat, lässt sich an den Statistiken über
den Schulerfolg, über den Ausbildungsstand und über die
Chancen auf dem Arbeitsmarkt ablesen. Obwohl der Bildungs- und
Ausbildungsstand von Migrantenkindern in den letzten Jahren leicht
gestiegen ist, liegt er immer noch weit unter dem deutscher Kinder.
Migrantenkinder sind immer noch an den Haupt- und Sonderschulen
deutlich überrepräsentiert, an den Realschulen und
Gymnasien aber unterrepräsentiert. Jedes fünfte
Migrantenkind verlässt die Hauptschule ohne Abschluss. Nicht
einmal jedes Dritte schafft die Mittlere Reife, nur jedes Elfte
schafft die Hochschulreife. Und vor allem: Etwa vierzig Prozent der
türkischen Jugendlichen bleiben ohne Berufsausbildung. Die
Arbeitslosenquote ist entsprechend hoch (hier in Berlin:
37%).
Ohne Schulabschluss, ohne Berufsausbildung, ohne Arbeitsplatz haben
diese Jugendlichen kaum eine Chance auf gesellschaftliche
Integration.
Auf der anderen Seite brauchen wir mehr interkulturelle Erziehung
und Bildung an unseren Schulen als bisher. Die interkulturelle
Erziehung wurde zwar schon 1996 von der Kultusministerkonferenz als
Schlüsselqualifikation erkannt und als wichtiges
Erziehungsziel empfohlen.
Aber der Empfehlung wird viel zu selten gefolgt, obwohl kulturelle
Vielfalt zum gesellschaftlichen Normalzustand gehört.
Bisher öffnet der Schulunterricht vermutlich zu selten den
Blick über den Tellerrand der europäischen Kultur. So
können Verständigung und Austausch über kulturelle
Grenzen hinweg kaum gelingen. In die Lehrpläne gehören
Kenntnisse über die Geschichte anderer Kontinente, anderer
Kulturen, anderer religiöser Traditionen. Wie sollen deutsche
Kinder Offenheit und Verständnis für ihre
ausländischen Mitschülerinnen und Mitschüler
entwickeln, wenn sie nichts oder kaum etwas über deren Kultur
erfahren? Der Weg von Unkenntnis zur Ignoranz und zur Abwehr,
Fremdenfeindlichkeit und im schlimmsten Fall zu Aggression und
Gewalt ist jedenfalls nicht sehr weit.
Nun wäre es zu einfach, zunehmende Gewaltbereitschaft und
Rassismus allein auf mangelnde Kenntnis zurück zu führen.
Immerhin fallen deutsche Rechtsextremisten jedenfalls nicht durch
besonders hoch entwickelte Intelligenz auf. Um so anfälliger
sind sie für Überforderungsängste und
Vereinfachungsbedürfnisse. In Zeiten der Umwälzung, der
Beschleunigung, der Entgrenzung bedürfen Menschen der
Selbstvergewisserung und des Rückhalts. Bleiben sie aus, sind
gerade junge Menschen leichter verführbar für Gruppen und
Beheimatungsangebote der einfachen Art, wie sie die rechtsextremen
oder fundamentalistischen Ideologen bieten. Zu rechtfertigen ist
das allerdings nicht. Im Gegenteil: Es ist eine Schande, wenn
ausländische Mitbürger beleidigt und sogar verfolgt
werden. Es ist eine Schande, wenn andere dabei zuschauen und wie zu
oft geschehen, es nicht einmal nötig finden, wenigstens die
Polizei zu rufen.
Gewalt und Extremismus zurückzuweisen ist vordringlich. Worum
es aber eigentlich geht, ist die Sicherung der Freiheit aller, die
in Deutschland leben.
Die türkische Gemeinde in Deutschland leistet hervorragende
Arbeit dabei. Sie vermittelt zwischen den Kulturen, sie strebt nach
wechselseitiger Gesprächsbereitschaft, Offenheit zwischen den
Kulturen. Das ist ein Beitrag zum friedlichen Zusammenleben von
deutschen und türkischen Bürgern, den man nicht oft genug
loben kann. Im Zeitalter der Migration können wir auch
weiterhin auf Ihre manchmal kritische, manchmal mahnende, aber
immer integrative Kraft nicht verzichten."
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