Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zur Eröffnung der Ausstellung "Der Reichstag im Wandel" am 03.07.2002 in Berlin
"In diesen Tagen geht die 14. Legislaturperiode zu Ende -
begonnen hat sie mit dem Umzug von Bonn nach Berlin. Der ist
bereits wieder Geschichte, genauso wie die lange Umbauphase des
Reichstages. Die Verwandlung des Gebäudes und seiner Umgebung
hat Angelika von Stocki mit ihrer Kamera begleitet - über etwa
sieben Jahre hinweg. Dass dabei etwas anderes herauskommen
würde als eine Baustellenreportage war allen klar, die Frau
von Stockis Arbeitsweise kennen und schätzen.
Natürlich haben ihre Bilder auch dokumentarischen Charakter.
Aber sie sind geprägt durch eine sehr persönliche
Interpretation. Es sind Bilder, die mehr als Abbildungen sind. Es
sind gestalterische Kompositionen mit Licht. Wobei die motivisch
und ästhetische Verfremdung politischer Architektur Frau von
Stocki unverkennbar besonders gereizt hat. Ich freue mich, dass ihr
Bildzyklus über den "Reichstag im Wandel" in den kommenden
Wochen im Paul-Löbe-Haus zu sehen sein wird. Welcher Ort
wäre besser geeignet, uns nochmals an den Prozess der
Verwandlung des Reichstagsgebäudes erinnern zu lassen? Einen
Verwandlungsprozess von gewaltigen Dimensionen. Man muss das
restlos entkernte Reichstagsgebäude vor dem Umbau gesehen
haben, um eine Vorstellung davon zu haben. Einen Wandel, an dem der
Bundestag selbst aktiv teilgenommen hat: Er wollte in Berlin nicht
bloß eine Arbeitsstätte beziehen, sondern einen Raum der
Demokratie gestalten. Baugruben in der nächsten Umgebung des
Reichstages künden übrigens davon, dass dieser Prozess
noch immer nicht komplett abgeschlossen ist. Auch in den kommenden
Jahren wird sich das Quartier um den Reichstag weiter
verändern. Ich sehe da noch ein großes Reservoir an
Motiven für Frau von Stocki!
Die Freude über den gelungenen Wandel zu einem modernen
Parlamentsbau darf uns nicht das schwierige historische Erbe
vergessen lassen, das wir mit diesem Gebäude übernommen
haben. Der Reichstag erinnert an alle Phasen deutscher Geschichte
und fordert zur kritischen Auseinandersetzung mit jeder einzelnen
davon heraus. Dieser Ort steht für Geschichte, ja er ist
Geschichte. Er lässt keinen Austritt aus ihr, er lässt
keinen Schlussstrich zu. Auch das wird durch die gelungene Synthese
von Alt und Neu an und in diesem Gebäude unterstrichen.
Was die Arbeiten Frau von Stockis nicht abbilden, nicht abbilden
können, ist der Wandel von Politik, der ebenfalls
stattgefunden hat. Ich erinnere an die Befürchtungen, dass der
Umzug von Bonn nach Berlin uns eine "Berliner Republik" bescheren
würde - mit völlig anderen Vorzeichen der Politik. Das
habe ich nie so gesehen - und es ist auch nicht eingetreten.
Richtig ist, dass Politik in dieser Stadt anders wahrgenommen wird.
Richtig ist auch, dass sich Deutschlands weltpolitische Rolle in
den vergangenen Jahren verändert hat. Wir übernehmen
heute eine deutlich größere weltpolitische
Verantwortung. Diese Aufgaben hätten sich uns aber genauso
gestellt, hieße der Parlamentssitz noch immer Bonn. Im
Gegenteil: Auch mit der Hauptstadt Berlin ist Deutschland der
föderale, rechtsstaatliche und soziale Bundesstaat geblieben,
der sich in Bonn über Jahrzehnte hinweg bewährt hat.
Daran hat sich nichts geändert und daran darf sich auch nichts
ändern.
Meine Damen und Herren,
in der vergangenen Woche war in der ZEIT zu lesen, dass der
Reichstag das populärste Parlamentshaus der Welt sei. Die
Besucherströme, die uns Abgeordneten im wahrsten Sinne
täglich "auf's Dach steigen", bestätigen diese
Einschätzung. Der Reichstag ist - nicht zuletzt Dank Norman
Fosters schwungvoller Kuppelkonstruktion - zum Signet für
Berlin geworden und zum Sinnbild für das demokratische
Deutschland: Dieses Gebäude - das bauliche Herz unserer
Republik - ist ein Glücksfall moderner Parlamentsarchitektur.
Lassen wir den Prozess des Wachsens und Werdens nochmals an uns
vorüberziehen - in den fotokünstlerischen
Interpretationen von Frau von Stocki. Ich heiße Sie alle
willkommen und darf Sie, sehr geehrte Frau Pitzen, um
einführende Worte in die Ausstellung bitten. "
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