Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, anlässlich der Verleihung des "Friedenspreises der Deutsch-Israelischen-Gesellschaft" an die Friedensschule in Neve Shalom / Wahat al Salam (Israel) 02.04.2003, in Berlin
"Ein Friedenspreis ist zu verleihen und zugleich herrscht Krieg.
Den Stiftern des Preises geht es um den Frieden im Nahen Osten, um
den Frieden zwischen Israel und Palästina; und in
unmittelbarer Nachbarschaft zu Israel und Palästina fallen
Bomben. Die israelische Regierung befürwortet diesen Krieg,
offensichtlich in der Hoffnung, die regionale Bedrohung, die von
Saddam Hussein ausgeht, das Potential an Destabilisierung, das
dieser Diktator darstellt, werden nach einer militärischen
Niederlage verschwinden.
Deutschland und eine große Mehrheit der Menschen in ganz
Europa lehnen diesen Krieg ab, weil sie weitaus größere,
globale Destabilisierungen als Folgen dieses Krieges
befürchten, weil sie das Völkerrecht an entscheidender
Stelle verletzt sehen und damit auch ihre Hoffnungen auf eine
Ordnung des Rechts für die ganze Welt. Ein Krieg der Kulturen
wird befürchtet, der keine Grenzen mehr kennen wird und sich
den herkömmlichen Vorstellungen von Kriegen zwischen Staaten
entzieht. Während die Einen also fürchten, selbst
erfahren zu müssen, worunter Israel während der Intifada
leidet, hoffen die Anderen, dieses terroristische Morden mit einer
letzten großen Gewaltanstrengung endlich los werden zu
können.
Wenn man weiß, dass der irakische Diktator trotz der
Sanktionen gegen sein Land, trotz der Versorgungsprobleme und der
wachsenden Armut der irakischen Bevölkerung erhebliche
finanzielle Mittel aufwendet, um die grausamen und
heimtückischen Selbstmordattentate gegen die israelische
Zivilbevölkerung zu belohnen und zu solchen Attentaten
aufzustacheln, wird sich hüten, die israelischen Hoffnungen
auf die Entmachtung dieses Mannes zu verurteilen.
Wenn Gewalt zum Alltag gehört, der Tod von an den Ursachen
eines Konfliktes völlig unbeteiligten Menschen jederzeit an
jeder Straßenecke lauert, bleiben Frieden und Freiheit von
Gewalt zweifellos moralische Ziele, aber da sie konkrete politische
Handlungsanweisungen für den Tag, für den nächsten
Schritt hin zu größerer Sicherheit in der Gefahr nicht
bereit halten, fühlt man sich gezwungen, sie allenfalls noch
langfristig für erreichbar zu halten.
Die Spirale von Gewalt, Gegengewalt und wieder neuer Gewalt, die
Europa fürchtet, ist in Israel und Palästina scheinbar
endlose, nicht enden wollende grausame Realität. Jede Hoffnung
auf Linderung dieses Zustands ist zutiefst menschlich, jeder
Strohhalm, der Rettung auch nur ahnen lässt, wird dann
ergriffen. Und die Entmachtung Saddams könnte ein solcher
Strohhalm sein. Moralurteile von der Art, dass Gegner dieses
Krieges die "Guten" und seine Befürworter die "Bösen"
wären, verbieten sich also offensichtlich.
Vor diesem Hintergrund will ich aber auch sagen: Bei denjenigen,
die diesen Krieg ablehnen, antisemitische Motive zu vermuten, ist
genau so abwegig, wie es abwegig ist, die israelischen Hoffnungen
auf weniger Gewalt als Folge dieses Krieges moralisch zu
verurteilen.
Für Frieden und Verständigung einzutreten, ist im
Allgemeinen eine offenbar schwierige und nicht so
selbstverständliche Haltung. Dem Zorn, der Wut, dem
Bedürfnis nach Rache und Genugtuung nachzugeben und Macht
durchsetzen zu wollen, erscheinen oft nahe zu liegen. Zu den
Mühen, das umzukehren, zählen auch die Stiftung und die
Verleihung von Friedenspreisen. Sie ziehen die Konsequenz aus der
Beobachtung, dass Gewaltverzicht eine nicht
selbstverständliche Leistung ist, in dem sie Menschen
belohnen, die sich gewaltfreien Konfliktlösungen widmen und
auf einen Weg des Friedens setzen, der tatsächlich oft
langwieriger ist, größere Beharrlichkeit verlangt und
uns zumutet, der Gewaltfreiheit zu liebe Spannungen und
Unentschiedenheit auszuhalten, was - wer will das bestreiten -
nicht einfach ist. Wenn Frieden stiften und bewahren, wenn
Verständigung befördern ohnehin schon besondere Mühe
kostet, wie aufwändig und bewundernswert ist das dann erst,
wenn es in einer Umwelt unternommen wird, die von der Spirale der
Gewalt geprägt ist?
Die Friedensschule Neve Shalom/Wahat al Salam unternimmt konkrete
Verständigungsarbeit in gewaltgeprägter Umgebung. Das
Gemeinschaftsdorf NeveShalom/Wahat al Salam erbringt seit 25 Jahren
den konkreten Beweis, dass friedliches Zusammenleben von Israelis
und Palästinensern auf der Grundlage von Toleranz und
gegenseitiger Achtung möglich ist. Seit 1979 trägt die
Schule diese Botschaft, diese Erfahrung über die Dorfgrenzen
hinaus, fördert die persönliche Begegnung zwischen Juden
und Arabern, lehrt den zivilen Umgang mit Konflikten, historischen
Lasten und kulturellen Unterschieden. Die Arbeit der Friedensschule
zeigt: die Vision einer humanen, egalitären, pluralen und
gerechten Gesellschaft ist keine Illusion sondern sie ist
realistisch, sie ist Menschen möglich.
Wer also hätte den Friedenspreis der deutsch-israelischen
Gesellschaft verdient, wenn nicht dieses herausragende, Hoffnung
begründende Projekt!
Über 25.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben bislang die
Seminare, Kurse und Begegnungen der Schule besucht, wurden zu
Wortführern der Verständigung ausgebildet. In anderen
Konfliktregionen wird der Rat der Schule gesucht; Ihre Dozenten
haben schon in Nordirland und auf Zypern gewirkt.
Mit der Friedensschule macht Frieden Schule.
Frieden macht Arbeit, kostet Mühe, bedarf konkreten
Engagements und auch kluger Politik. Europa hat eine kriegerische
Geschichte, Jahrhunderte waren von Krieg und Gewalt geprägt,
in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kulminierte diese
Geschichte der Kriege in die beiden Weltkriege, beide von
Deutschland ausgegangen, beide schrecklicher, zerstörerischer,
blutiger, opferreicher als alle Kriege zuvor. Europa hat keinen
Grund, sich mit dieser Geschichte moralisch über andere zu
erheben, die heute Kriege führen. Der letzte dieser Kriege
endete vor noch nicht ganz 60 Jahren. Seither erst ist es gelungen,
in Europa eine Ordnung zu etablieren, die Frieden stiften und
bewahren kann. Seit nicht einmal 60 Jahren ziehen wir Europäer
Konsequenzen aus unserer leidvollen Erfahrung mit dem Krieg als
Mittel der Politik. Wo Krieg als Mittel der Politik akzeptiert ist,
wird Krieg stattfinden. Erst wenn Politik gemacht wird, um Krieg zu
vermeiden, können wir Frieden erreichen. In diesem Sinne haben
diejenigen Recht, die mit dem Papst sagen, dass Krieg immer eine
Niederlage der Politik, eine Niederlage für die Menschheit
ist. Aus dieser praktisch-pragmatischen Lebenserfahrung heraus
denken die meisten Europäer, dass man Frieden und gute
Nachbarschaft nicht - oder jedenfalls nicht ausschließlich -
auf Bajonette gründen kann. Eine höhere moralische
Einsicht, die bessere Menschen macht, ist das nicht. Ich warne
jedenfalls vor solchem Pharisäerglauben.
Aus Israel und Palästina habe ich den bedrückenden
Eindruck mitgenommen, dass Ohnmacht und Ratlosigkeit Wurzeln von
Gewalt sind. Die noch immer andauernde zweite Intifada verursacht
Gefühle der Ohnmacht und Sehnsucht nach rascher Sicherheit in
Israel. Die israelische Siedlungspolitik und viele andere, als
schikanös empfundene und tatsächlich ja auch opferreiche
Maßnahmen gegenüber den Palästinensern verursachen
dieselben Gefühle auf deren Seite. Im Ergebnis ist auf beiden
Seiten die Unfähigkeit zum Frieden gewachsen.
Tragisch ist daran auch, dass ich weder in Israel noch in
Palästina Menschen angetroffen habe, die diesen Zustand
wollen. Im Gegenteil, alle hoffen auf Frieden, alle können
sagen, was benötigt wird, um Frieden zu erreichen und zu
sichern. Die Gemeinsamkeiten dieser Ansichten ist so groß,
dass der Frieden immer zum Greifen nahe erscheint. Aber die
Ängste und die Verletzungen, das gegenseitige
Unverständnis und Misstrauen sind so groß, dass bisher
jede Chance oft im letzten Moment verpasst wurde. Die israelische
Regierung hat bekräftigt, dass es einen unabhängigen
Staat Palästina geben wird. Es ist unübersehbar, dass die
Nachbarschaft zwischen Israel und Palästina nicht nur gut,
sondern auf vielen Gebieten besser und enger wird sein müssen,
als es sonst üblich ist. Die Palästinenser haben sich
einen Ministerpräsidenten ausgesucht, der selbstkritisch die
Intifada als zerstörerisches Unternehmen bezeichnet. Das sind
Ansätze, die dem "Fahrplan" zum Frieden, den die USA, die EU,
Russland und die UN bis 2005 erreicht haben möchten, neue
Erfolgsaussichten bescheren. Ohne internationale Unterstützung
wäre der Erfolg des Fahrplans - zumal in seiner relativ kurzen
Frist - sicher fraglich. Deshalb dürfen wir nicht zulassen,
dass er durch die derzeitigen internationalen
Meinungsverschiedenheiten oder durch die Kriegsfolgen im Irak
gefährdet wird. Aber ohne dieselben Menschen, die bisher die
Verständigungschancen verpasst haben, wird der Konflikt auch
nicht beendet werden können. Dazu brauchen sie den Mut und das
Wissen, wie sie aus der Spirale von Gewalt und verpassten Chancen
heraustreten und Vertrauen bilden, Zusammenarbeit verwirklichen
können.
In diesem Zusammenhang sind Projekte wie die Friedensschule
unverzichtbar. Neve Shalom/Wahat al Salam zeigt, das Frieden und
Verständigung möglich sind. Die Schule kann nicht nur auf
die eigene Dorfgemeinschaft sondern auch auf viele Beispiele
außerhalb der eigenen Region zurückgreifen.
Auf die friedliche Überwindung des Kalten Krieges und der
kommunistischen Diktaturen auf der Grundlage eines Vertragssystems
mit dem Kern des Gewaltverzichts etwa, oder auf die Aussöhnung
zwischen den europäischen "Erbfeinden" Frankreich und
Deutschland. Diese Aussöhnung erschien noch vor 50 Jahren als
utopisch. Zu groß waren die Lasten und Demütigungen der
Vergangenheit. Genau so zu groß erscheinen heute die Lasten
und Demütigungen im Verhältnis zwischen Israel und
Palästina. Schon dieser Vergleich begründet Hoffnung.
Hoffnung allein genügt aber nicht. Konkrete Anstrengungen sind
nötig, damit sie sich erfüllt.
In den Bereich der Entwicklungen, denen man nur dankbar
gegenüberstehen kann, gehört auch das rege jüdische
Leben, wie es heute in Deutschland wieder exisitiert. Nach der Shoa
schien es undenkbar, dass jüdische Kultur, jüdisches
Leben, jüdische Mitgestaltung der Gesellschaft in Deutschland
jemals wieder möglich sein würden. Niemand hätte
sich gewundert, wenn Juden Deutsche und Deutschland fortan gemieden
hätten wie die sprichwörtliche Pest. Inzwischen aber gibt
es wieder über 80 jüdische Gemeinden in Deutschland und
über 100.000 Deutsche jüdischen Glaubens können wir
zählen. Wir können auf sie zählen, denn ihr Wirken
ist kulturell und wirtschaftlich unschätzbar, ihre Stimme ist
in der Öffentlichkeit unüberhörbar.
Unübersehbar ist auch der Wille der Deutschen, Normalität
in dieses Zusammenleben zu bringen. Diese Normalität haben wir
noch nicht erreicht. Solange jüdische Einrichtungen besonderen
Schutzes bedürfen, wird man davon nicht sprechen
können.
Diese wunderbaren Erfahrungen nach dem Krieg und nach den deutschen
Verbrechen an den europäischen Juden machen Mut zum Frieden.
Frieden wird gelingen, wenn Gemeinsamkeiten, Interessenausgleich,
Respekt und Toleranz in eine Ordnung des Rechts münden, die
von den Menschen als gerecht und fair akzeptiert wird. Nur dann
wird für Gewalt, Terrorismus, Krieg kein Platz mehr sein.
Hinter dem politischen Streit über den Krieg gegen den Irak
ist die Gemeinsamkeit dieser Vorstellung erkennbar. Sie handelt von
einer Zivilisation, in der alle Menschen ohne Angst verschieden
sein können. Diese Vision wird nicht sterben, solange es
Initiativen wie die Friedensschule gibt. Es ist deren große
Leistung, lastende Erinnerungen, konkrete Gegensätze und
daraus entstandene Emotionen in ein ziviles, gewaltfreies Projekt
der Verständigung münden zu lassen. Die Friedensschule
Neve Shalom/Wahal al Salam arbeitet an diesem Projekt, jeden Tag.
Das ist vorbildlich, das nötigt uns Respekt und Hochachtung
ab, dafür sind wir dankbar. In diesen Tagen des Krieges erst
Recht."
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