Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bei der Übergabe der diesjährigen Ignatz-Bubis-Gedenkstipendien
Sperrfrist: 25. Mai 2003, Beginn der Rede
Es gilt das gesprochene Wort
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hält bei
einem
Besuch in Israel anlässlich der Übergabe von
Ignatz-Bubis-Gedenkstipendien an Studenten der Universität Tel
Aviv und aus Deutschland am 25. Mai (18 Uhr Ortszeit) die Festrede.
Die nach dem 1999 verstorbenen ehemaligen Präsidenten des
Zentralrats der Juden in Deutschland benannten Stipendien sollen
wissenschaftliche Arbeiten unterstützen, die sich in
besonderer Weise mit den Berührungspunkten zwischen deutscher
und jüdischer Kultur befassen. Bundestagspräsident
Thierse führt in seiner Rede aus:
"Die letzten Worte, die Ignatz Bubis der deutschen
Öffentlichkeit hinterließ, waren bittere Worte, Worte
der Resignation. Auf die Frage von Journalisten, was er als
Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland bewirkt habe,
antwortete Bubis: "Ich habe nichts oder fast nichts bewirkt. Ich
habe immer herausgestellt, dass ich deutscher Staatsbürger
jüdischen Glaubens bin. Ich wollte diese Ausgrenzerei, hier
Deutsche, dort Juden, weghaben, ... (aber) die Mehrheit hat nicht
einmal kapiert, worum es mir ging."
Diese Worte haben viele Menschen in Deutschland irritiert und nicht
wenige auch erschüttert. Die verbreitete Auffassung, im Laufe
der Jahre und Jahrzehnte einen halbwegs angemessenen,
verantwortlichen Umgang mit der eigenen mörderischen
Vergangenheit gefunden zu haben, bekam mit Bubis' Zweifeln einen
Riss. Mehr noch: Sie stand wieder in Frage.
Die schmerzliche Bilanz, die Ignatz Bubis uns kurz vor seinem Tode
mitgeteilt hat, ist und bleibt ein Stachel in unserem Fleisch, so
sehr ihr damals in der Würdigung seines Lebens auch
widersprochen wurde und so sehr man ihr immer wieder neu
widersprechen möchte. Sind wir doch der Überzeugung, dass
unsere Demokratie gefestigt und die demokratische Wachsamkeit der
Wählerinnen und Wähler beträchtlich ist. Es gibt in
Deutschland vielfaches bürgerschaftliches Engagement gegen
Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit, für
Stärkung der Menschenrechte und für mehr Toleranz - ein
Engagement auch und gerade von jungen Menschen, das viel mehr
mediale Aufmerksamkeit verdiente.
Dennoch verstehe ich Ignatz Bubis' Worte als eindringliche Warnung.
Als Warnung vor jeder Form von Selbstgerechtigkeit und
Genügsamkeit im Umgang mit unserer Schuldgeschichte. Ich
begreife seine Worte als eine demokratische Herausforderung: Sie
erinnern uns an die kollektive Verantwortung der Deutschen,
insbesondere der Christen. Wer sich den Lehren aus der
verhängnisvollen deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts
verweigert, ihnen gleichgültig gegenüber steht, sie
verdrängt, der ist oder wird blind für aktuelle
Gefährdungen der Demokratie: für die schrecklichen
Auswüchse von Intoleranz, Fremdenhass, Antisemitismus,
Rechtsextremismus, die sich in unserer heutigen Gesellschaft immer
wieder in neuen und brutalen Gewalttaten niederschlagen. Ignatz
Bubis hat diese schlimme Entwicklung früher erkannt als andere
und heftig kritisiert. Er wusste aus biographischer Erfahrung nur
zu genau, wohin das führen kann und was auf dem Spiel
steht.
Ignatz Bubis, ein "deutscher Staatsbürger jüdischen
Glaubens", der die meisten seiner Familienmitglieder in
Konzentrationslagern verloren hatte, verfolgte ein - wie
Jürgen Habermas formulierte - "unwahrscheinliches Ziel": das
Ziel, "Deutschland, 'nachdem alles vorüber war', für
Juden wieder bewohnbar zu machen". Aus Sicht der Opfer eine
zerbrechliche Hoffnung und in Israel - aus verständlichen
Gründen - nicht unumstritten. Dennoch: Bubis war
überzeugt, dass ein tiefgreifender Wandel in den Einstellungen
der (nichtjüdischen) Deutschen, in ihrem Denken, in ihrer
Mentalität tatsächlich möglich sei. Erforderlich,
notwendig - das sowieso. Aber eben auch massenhaft individuell
möglich.
Er setzte voller Hoffnung auf die Veränderungsfähigkeit
und Veränderungsbereitschaft der nichtjüdischen Deutschen
und bewies damit sehr eindrucksvoll seine eigene, zutiefst
humanistische und demokratische Gesinnung.
Menschen Veränderung zuzutrauen, ihnen Umkehr, Läuterung
und einen verantwortlichen Neuanfang zu ermöglichen - das sah
Bubis als Voraussetzung dafür, dass Versöhnung
überhaupt gelingen kann. Umkehr und Läuterung sind
urchristliche Motive. Und es sind Denk- und Handlungsoptionen, die
ein jeder Frieden braucht. Das ist eine der Lehren, die Ignatz
Bubis uns hinterlassen hat.
Das Vermächtnis von Ignatz Bubis ist keinesfalls Resignation.
Zu seinem Vermächtnis zählen vielmehr sein Engagement
für die deutsch-jüdische und deutsch-israelische
Verständigung, sein leidenschaftlicher Protest gegen die
schleichende Gewöhnung an neue Mechanismen der
Stigmatisierung, der sozialen, religiösen und kulturellen
Ausgrenzung, seine Absage an Gewalt.
In seiner Tätigkeit als Vorsitzender der Zentralrats der Juden
in Deutschland vertrat Ignatz Bubis kämpferisch und rastlos
die Interessen der jüdischen Gemeinschaft. Er verteidigte die
Rechte der Minderheiten in der Mehrheitsgesellschaft. Er
förderte den Austausch zwischen den Generationen, Kulturen und
Religionen. Im Ausland, gerade in Israel und in den USA, warb er
immer wieder für Vertrauen in unsere parlamentarische
Demokratie. Wie kaum ein anderer hat er sich für eine
differenzierte Erinnerungsarbeit, gegen das Vergessen und
Verdrängen der Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus
eingesetzt. Seine Stimme hatte Gewicht.
Dass es in Deutschland inzwischen wieder mehr als 80 jüdische
Gemeinden mit über 100.000 Mitgliedern gibt, ist auch Ergebnis
seines unermüdlichen Einsatzes. Die Mehrzahl der Deutschen
begreift die Rückkehr von Juden nach Deutschland als ein
großes Glück für unsere Kultur, als Geschenk,
für das wir dankbar sind. Es symbolisiert Hoffnung. Als am 27.
Januar 2003, dem Tag des Gedenkens an die Befreiung des
Konzentrationslagers Auschwitz, in Berlin der Staatsvertrag mit dem
Zentralrat der Juden unterzeichnet wurde, wertete Bundeskanzler
Schröder diesen Vertrag als ein "Zeichen des Vertrauens der
jüdischen Gemeinschaft in unsere Gesellschaft". Zugleich
würdigte er die "großen Verdienste", die sich der
Zentralrat der Juden beim Aufbau eines demokratischen Staatswesens
in Deutschland erworben hat. Ich stimme dem zu und sage: Der
Zentralrat der Juden in Deutschland ist heute eine der tragenden
institutionellen Säulen unserer Zivilgesellschaft, er
zählt mit seiner wichtigen Arbeit zu den Garanten unserer
Demokratie.
Mit der Verleihung der Ignatz-Bubis-Gedenkstipendien für
Jüdische Studien bekennt sich die Universität Tel Aviv
ausdrücklich zur Pflege des Vermächtnisses von Ignatz
Bubis und zur Fortführung seines Lebenswerks.
Deutsch-jüdische Verständigung, deutsch-israelische
Freundschaft, Aussöhnung zwischen den Völkern - all dies
bedarf elementarer Voraussetzungen: Es bedarf historischen Wissens,
humanistischer Bildung und eines anregungsreichen kulturellen
Klimas. Je mehr wir voneinander wissen, um so besser können
wir uns verständlich machen, um so besser können wir die
Geschichte unserer Religionen, Kulturen, Nationen, in der es so
unendlich viele Berührungspunkte gibt, verstehen. "Verstehen"
allerdings nicht im Sinne von "Verständnis aufbringen"
für alles und jeden, sondern im Sinne von Erklären und
Begreifen. Wir haben einen erheblichen Forschungs- und
Erklärungsbedarf. Schließlich umfasst die
dramatisch-wechselvolle Geschichte des jüdischen Volkes eine
Zeitspanne, auf die kein anderes Volk zurückblicken kann. Und
jeder, der sich mit jüdischen Studien beschäftigt hat,
weiss, dass sich die jüdische Geschichte immer faszinierender
darstellt, je tiefer man in ihre alten und ältesten
Überlieferungen eindringt.
Gleichwohl: Das jüdische Volk erlitt Verfolgungen und
Heimsuchungen, die ihresgleichen nicht haben. Einer der
Begründer der Wissenschaft vom Judentum, Leopold Zuns, hat im
Jahre 1855 diese historischen Erfahrungen in eine Frage gekleidet:
"Wenn es eine Stufenleiter von Leiden gibt, dann hat Israel die
höchste Staffel erstiegen; wenn die Dauer der Schmerzen und
die Geduld, mit welcher sie ertragen wurden, adeln, so nehmen es
die Juden mit den Hochwohlgeborenen aller Länder auf. Wenn
eine Literatur reich genannt wird, die wenige klassische
Trauerspiele besitzt, welcher Platz gebührt dann einer
Tragödie, die anderthalb Jahrtausende währt, gedichtet
und dargestellt von den Helden selber?"
Noch gründlicher als bisher zu erforschen und zu erklären
ist natürlich auch die jüngere jüdische Geschichte,
etwa die Frage, warum die mit dem Judentum auf das engste
verwobenen europäischen Kulturen den radikalen Kulturbruch,
den der Völkermord im 20. Jahrhundert darstellt, nicht
verhindert haben - trotz der gemeinsamen Traditionen, die der
jüdischen und der christlichen Religion eingeschrieben sind.
Man muss kein Historiker sein, um zu wissen, dass das
europäische Judentum einer der wichtigsten Impulsgeber
für die Entstehung Europas und ein integraler Teil der
gesamteuropäischen Kultur und Tradition ist. Europäische
wie deutsche Geschichte sind ohne ihre vielfältigen
jüdischen Prägungen in allen Lebensbereichen gar nicht
denkbar, gar nicht darstellbar. Das Wissen darum müssen wir
lebendig halten.
Spannend wäre für mich aber auch zu erfahren, wie
israelische Wissenschaftler heute das Israel-Bild junger Deutscher
einschätzen, wie sie deren Umgang mit der deutschen
Geschichte, insbesondere mit der Schuld ihrer Vorfahren, bewerten
und welche Konsequenzen sie aus dieser Geschichte für ihr
eigenes Leben ziehen. Deutschland im Spiegel der anderen zu sehen,
mit einigem Abstand und ohne Dorn im Auge, ist nicht nur anregend,
sondern setzt mitunter auch heilsame Prozesse frei. Und ich
begrüße, wenn dies in aller Öffentlichkeit
geschieht - es dient der Schärfung des historischen und des
politischen Bewusstseins.
Das Ignatz-Bubis-Gedenkstipendium ist ein Gebot der Stunde. Unsere
beiden Länder vollziehen zur Zeit einen Generationenwechsel:
Die Generation der Zeitzeugen des Holocaust wird immer kleiner. Die
Enkel der Zeitzeugen übernehmen zunehmend die Verantwortung in
Politik, Forschung, Bildung und Kultur. Da ist es wichtig, dass die
Weitergabe des Wissens über die Vergangenheit von Generation
zu Generation gesichert bleibt, möglichst noch durch die
eigene Familiengeschichte gefärbt. Wenn sich junge Menschen
unserer Länder kennen lernen, miteinander studieren oder
arbeiten, dann werden sie sich auch mit der Vergangenheit
auseinandersetzen und gemeinsam Zukunft suchen. Das
Stipendienprogramm trägt dazu bei, dass dieses Lernen und
Einüben des Umgangs miteinander mehr und mehr Früchte
trägt. Ich bin überzeugt: Bei allen kulturellen und
religiösen Unterschieden wird es den Stipendiaten aus Europa
und aus Israel gelingen, die gemeinsamen Werte herauszufinden und
zu pflegen.
Ich wünsche mir von den deutschen Stipendiaten aber auch, dass
sie ihre Forschungsergebnisse im Rahmen des Stipendienprogramms und
ihre persönlichen Erfahrungen hier in Israel später zu
Hause, in Deutschland, vielen Menschen zugänglich machen. Sie
sollen im besten Sinne Multiplikatoren der deutsch-israelischen
Verständigung sein, mit ihrem Engagement die alten
traditionellen Berührungspunkte zwischen deutscher und
jüdischer Geschichte, Wissenschaft und Kultur beleben. Daraus
erwächst Verantwortung.
Ich habe Ignatz Bubis kennen gelernt als engagierten
Brückenbauer - zwischen Juden und nichtjüdischen
Deutschen, zwischen Deutschen und Israelis, zwischen den
Religionen. Bubis musste Rückschläge einstecken,
Enttäuschungen verarbeiten und immer wieder Neuanfänge
wagen. Doch seiner Vision, über Gräben hinweg
Verständigung möglich zu machen, blieb er zeitlebens
treu. Und damit ist er für viele zu einem Vorbild geworden -
und dies vielleicht nicht nur für die Menschen in
Deutschland.
Ich denke, das Lebenswerk, die visionäre Kraft von Ignatz
Bubis könnte auch Ermutigung sein für die Menschen in
Israel, die seit Jahren unter der Zuspitzung des
israelisch-palästinensischen Konfliktes leiden. Der
Vertrauensverlust zwischen beiden Völkern scheint nahezu
vollständig. Doch gerade in einer solchen Situation kommt es
darauf an, dass sich couragierte Menschen auf beiden Seiten
aufmachen, Brücken zu bauen über die Abgründe aus
Misstrauen und Hass hinweg, die ihre Völker schon so lange
trennen. Ich hoffe, dass die sogenannte Road-Map des Quartetts,
unter Führung der USA, friedliche Perspektiven eröffnet -
für Israel und Palästina und für den gesamten Nahen
Osten. Wie der Krieg, so beginnt auch der Friede in den Köpfen
der Menschen. Jemand muss den Anfang wagen - Ignatz Bubis hat uns
dafür ein Beispiel gegeben."
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