Pressemitteilung
Stand: 30.09.2003
Bundestagspräsident Thierse weist Vorwürfe aus der FDP-Bundestagsfraktion zurück
Sehr geehrter Herr Kollege van Essen,
gestern wurde mir eine Pressemitteilung Ihrer Fraktionspressestelle vom vergangenen Samstag auf den Tisch gelegt, in der der Öffentlichkeit (und mir) itgeteilt wird, die FDP-Fraktion sei "fassungslos", dass ich "erneut bei einem schweren Angriff auf die Entscheidungsfreiheit und verfassungsrechtliche Stellung von Abgeordneten untätig" bleibe.
Ich muss Ihnen gestehen, dass mich diese Ihre Presseerklärung fassungslos macht. Ich habe zunächst die Presseberichte des gestrigen Tages und des Wochenendes durchgesehen, um mir ein Bild davon zu machen, welchen "schweren Angriff" Sie gemeint haben könnten. Immerhin bin ich - im Unterschied zu Ihnen - bei den Fraktionssitzungen der SPD in der vergangenen Woche anwesend gewesen und kann deshalb definitiv ausschließen, dass dort unzulässiger Druck auf diejenigen Abgeordneten ausgeübt wurde, die anders als die Regierungskoalition abstimmen wollten und auch abgestimmt haben .
Kritische Kommentatoren, die sich Ihrer Empörung anschließen (so Herr Gafron in der "Bild" von gestern), beziehen sich auf Äußerungen, die Herr Müntefering in einer ARD-Sendung gegen 22.50 Uhr gemacht hat. Wenn ich Sie richtig verstehe, dann ist es Aufgabe des Bundestagspräsidenten, die Spätnachrichten am Freitag zu verfolgen und sich ggf. um Mitternacht vor kritisierte Abgeordnete zu stellen. Tut er dies nicht, muss er damit rechnen, am nächsten Morgen die öffentliche Empörung der FDP-Fraktion vorgehalten zu bekommen.
Ihre Presseerklärung bedarf aber vor allem in der Sache des Widerspruchs. Zunächst gilt es festzuhalten: Die von Ihrer Fraktion abweichend abstimmenden Abgeordneten wurden von niemandem daran gehindert. Umgekehrt steht es mir nicht zu, Abgeordnete der Koalitionsfraktionen auffordern zu wollen, Kritik an ihren Fraktionskollegen zu unterlassen. Die in den Medien kritisch reflektierten Äußerungen von Herrn Müntefering lauten, er finde es "ein bißchen feige und kleinkariert, dass manche sich hier so vom Acker machen". Man mag darüber streiten, ob die Wortwahl glücklich gewählt ist. Aber sie ist kein Anlass für den Bundestagspräsidenten zum Einschreiten. Ich sage dies auch deshalb, weil an gleicher Stelle nicht etwa von Druck und Zwang, sondern von Überzeugung und Einsicht die Rede ist. Ich zitiere nochmals: "Wir werden darüber zu sprechen haben, auch im Parteivorstand ... Ich hoffe, dass bei denen die Einsicht auch wächst, dass sie begreifen, wie wichtig es ist, dass man eine eigene Mehrheit hat und ... zu überzeugen dabei."
Ich möchte dieses Schreiben nicht ohne einige grundsätzliche Bemerkungen schließen. Zunächst: Die Freiheit des Abgeordneten ist in diesem Fall nicht eingeschränkt worden, die Kollegen haben ihr Votum abgegeben, wie sie es für richtig hielten. Da dieses Votum aber implizit eine Kritik an Regierung und Mehrheit der eigenen Fraktion enthält, ist wiederum die Kritik aus der Fraktion an dem Votum nicht überraschend. Zur Freiheit des Abgeordneten gehört sowohl das Recht zur Kritik wie die Fähigkeit, Kritik entgegennehmen und ertragen zu können. Das war noch nie anders in der Geschichte des Bundestages. Zum anderen: Mir ist verständlich, dass ein Geschäftsführer einer Oppositionsfraktion in Zeiten knapper Mehrheiten ein Interesse an möglichst vielen abweichenden Voten im Regierungslager hat. Als Geschäftsführer der FDP als Regierungsfraktion wären Sie - wie viele Ihrer Vorgänger - gewiß mit dem Gegenteil beschäftigt: der Organisation einer verlässlichen Mehrheit für die eigene Regierung im Parlament, die die Zahl der "Abweichler" möglichst gering hält. Sie kennen den Unterschied zwischen verfassungsrechtlich zulässiger Fraktionsdisziplin und unzulässigem Fraktionszwang ebenso gut wie ich. Die juristische Literatur dazu füllt viele Regale. Deshalb bitte ich Sie, künftig auf den kurzfristigen Effekt der öffentlichen Präsidentenschelte möglichst doch zu verzichten. Hätten Sie ein ernst gemeintes Anliegen gehabt, so zumindest mein wertschätzender Eindruck Ihrer sonstigen parlamentarischen Umgangsformen auch mit dem Präsidenten, hätten Sie ihn brieflich in Kenntnis gesetzt und ihm Gelegenheit zur Reaktion vor öffentlicher Schelte für angebliches Nichtstun gegeben.
Da Sie den Weg der Öffentlichkeit gewählt haben, werden Sie Verständnis dafür haben, dass ich dies im vorliegenden Ausnahmefall ebenfalls tue.
Mit freundlichen Grüßen
Wolfgang Thierse
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Quelle:
http://www.bundestag.de/bic/presse/2003/pz_0309303