Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bei der Schlüsselübernahme für das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus
Es gilt das gesprochene Wort
"Dieser symbolische Schlüssel hat mindestens zweierlei
Bedeutung - im Sinne von Aufschließen und Abschließen:
Erstens: der Deutsche Bundestag bekommt heute für seinen
dritten großen Neubau das Hausrecht übertragen und damit
die Schlüsselgewalt. Und zweitens: Das Großprojekt
Parlamentsumzug findet endlich seinen Abschluss.
Der am 20. Juni 1991 von den Abgeordneten des 12. Deutschen
Bundestages nach leidenschaftlicher Debatte gefasste Beschluss, den
Sitz der Volksvertretung nach Berlin zu verlegen, ist mit
Fertigstellung des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses umgesetzt.
Jetzt können die wenigen noch in Bonn verbliebenen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundestagsverwaltung,
insbesondere der Bibliothek, nach Berlin kommen - vom Rhein direkt
an die Spree.
Mit dem Marie-Elisabeth-Lüders-Haus findet das "Band des
Bundes" - mit dem Kanzleramt und dem Paul-Löbe-Haus auf der
anderen Spree-Seite - seinen (vorläufigen?) östlichen
Abschluss. Dieser von Axel Schultes und Charlotte Frank vorgedachte
städtebauliche Brückenschlag von West nach Ost, von Ost
nach West zählt für mich inzwischen zu den schönen
und aussagestarken Symbolen der deutschen Einheit. Dort, wo
früher die Mauer stand, haben heute demokratisch gewählte
Politiker ihren Arbeitsplatz und ihre Bibliothek - eine bessere
Wendung kann Geschichte gar nicht nehmen!
Die Neubauten des Deutschen Bundestages stehen auf einem Areal, in
das sich die Geschichte des 20. Jahrhunderts auf vielfältige
Weise eingeschrieben hat. Und weil das so ist, war die vor
zwölf Jahren begonnene Debatte über die künftige
Nutzung und Bebauung dieses Areals immer auch eine historisch
geprägte Debatte. Ich erinnere daran, weil vor kurzem für
das Gelände dieser Liegenschaft Ansprüche auf
Wiedergutmachung öffentlich bekannt gemacht geworden
sind.
Während des gesamten, über zehnjährigen Prozesses
der Ausschreibung und Realisierung der Parlamentsneubauten sind an
den Deutschen Bundestag zu keinem Zeitpunkt Zweifel an der
Nutzbarkeit der betroffenen Grundstücke heran getragen worden.
Das ist insofern verständlich, als gemäß der
Rechtslage bei Restitutionsansprüchen der Bundestag nicht
Verhandlungspartner für eventuelle Ansprüche ist. Die
Grundstücke, die jetzt in Frage stehen, befinden sich im
Allgemeinen Grundvermögen des Bundes und damit im
Verantwortungsbereich des Bundesministeriums für
Finanzen.
Die Erben und Antragsteller habe ich natürlich zu unserer
heutigen Eröffnungsveranstaltung eingeladen, und ich
möchte sie begrüßen: Herzlich Willkommen! Aus Sicht
des Deutschen Bundestages bestehen keine Zweifel: Die
anhängigen Verfahren werden nach rechtsstaatlichen
Grundsätzen durchgeführt. Wenn
Wiedergutmachungsansprüche berechtigt sind, müssen sie in
angemessener Form gewürdigt und durchgesetzt werden.
Dieser wunderbare Neubau trägt den Namen einer Berliner
Politikerin und Parlamentarierin, die zweifellos zu den
bedeutendsten Sozialpolitikerinnen und wichtigsten Vertreterinnen
der Frauenbewegung in Deutschland zählt - Marie-Elisabeth
Lüders. Ich freue mich, die Schwiegertochter, Frau Waltraud
Lüders, und Enkel von Marie-Elisabeth Lüders
begrüßen zu dürfen. Auch Ihnen ein herzliches
Willkommen!
Marie-Elisabeth Lüders war eine beeindruckende
Persönlichkeit und Vorkämpferin auf vielen Gebieten. Sie
war beispielsweise die erste Frau in Deutschland, die 1912 an der
Humboldt-Universität zum Dr. rer. pol. promoviert wurde. Als
Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei rückte sie im
August 1919 für den verstorbenen Friedrich Naumann in die
Verfassungsgebende Nationalversammlung nach. In den Jahren 1920/21
und von 1924 bis 1930 war sie Mitglied des Reichstags. Sie
engagierte sich für die Gleichberechtigung der Frauen,
für die Verbesserung des Kinder- und Jugendschutzes. Sie
bekämpfte die soziale Not der Arbeitslosen. Ihr politisches
Engagement wurde von den Feinden der Demokratie mit Misstrauen
beobachtet. Als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen,
belegten sie Marie-Elisabeth Lüders mit Berufs- und
Publikationsverbot, 1937 kam sie für einige Monate ins
Zuchthaus.
Nach 1945 setzte sich Marie-Elisabeth Lüders in Berlin
für den Aufbau demokratischer Strukturen ein. 1953 wurde sie
in den 2. Deutschen Bundestag gewählt, dem sie bis 1961
angehörte. Als Alterspräsidentin leitete sie die
konstituierenden Sitzungen des 2. und des 3. Deutschen Bundestages.
Ihren Themen blieb die FDP-Politikerin auch im Alter treu:
Frauenpolitik und Jugendrecht.
Ich finde, es ist eine glückliche Entscheidung, dieses
Gebäude nach der Vollblutparlamentarierin und
Alterspräsidentin Marie-Elisabeth Lüders zu benennen.
Damit bekennt sich der Deutsche Bundestag zu jener Tradition des
deutschen Parlamentarismus, die Rita Süssmuth bei der
Grundsteinlegung für dieses Gebäude im Mai 1998 so
treffend als "wertgebundenes und vor allem sozial verpflichtendes
freiheitliches Denken und Streiten" bezeichnet hat.
Nutzer des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses werden die
professionellen Dienstleister des Parlamentes sein - die
Wissenschaftlichen Dienste, die Bibliothek, die
Pressedokumentation, das Sach- und Sprechregister, das
Parlamentsarchiv. Im Gebäude gibt es zudem einen großen
Sitzungsaal, der für öffentliche Anhörungen genutzt
werden wird.
Dass die Wissenschaftlichen Dienste und die drittgrößte
Parlamentsbibliothek der Welt künftig unter einem Dach
arbeiten, ist nicht nur gut für die interne Zusammenarbeit,
sondern auch wichtig für die Abgeordneten. Schließlich
benötigen wir Parlamentarier bei unserer Arbeit immer
stärker fachwissenschaftliche Unterstützung. Wenn in
Zeiten der Globalisierung die Komplexität unserer Arbeit
zunimmt, ist es gut zu wissen, dass wenigstens die Wege kürzer
werden.
Um dreißig Prozent, heißt es, wächst weltweit die
verfügbare Datenmenge pro Jahr - nach meinem Eindruck
übrigens auch durch die Multiplikation von
überflüssigem Wissen. Fachleute warnen schon jetzt vor
einem Übermaß an Informationen bei gleichzeitigem Mangel
an brauchbarem und tatsächlich zugänglichem Wissen. Das
kann die parlamentarische Arbeit erschweren, verzögern, sogar
blockieren. Damit die Abgeordneten in dem um sich greifenden
Informationsmüll dennoch schnell und zuverlässig an das
tatsächlich Erforderliche kommen, wird
Informationsverarbeitung, Wissensmanagement immer wichtiger. Die
Flut an verfügbaren Daten zu kanalisieren, wichtige von
unwichtigen Informationen zu trennen und die kostbare Perle Wissen
herauszufischen - das ist die Aufgabe der Wissenschaftlichen
Dienste heute und morgen.
Was wäre ein Parlamentsneubau ohne künstlerische
Anmerkungen, ohne ästhetische Kommentare und Eingriffe? Es
wäre ein Ort mangelnder Heiterkeit und verknappter
Inspiration. Was schon im Jakob-Kaiser- und im Paul-Löbe-Haus
funktioniert, scheint auch hier aufzugehen: Die Architektur des
Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses findet durch künstlerische
Installationen eine anregende oder manchmal dialogische
Entgegensetzung, die zuweilen auch den Charakter von Interventionen
annimmt. So ist das Rund der Bibliothek erfüllt vom blau
strahlenden Schriftzug des italienischen Künstlers Maurizio
Nannucci. Angeregt durch einen Text von Hannah Arendt meditiert er
über das Verhältnis von Gleichheit und Freiheit. Francois
Morellet wiederum setzt in diesem Gebäude seine Installation
aus Neon-Girlanden, die im Paul-Löbe-Haus zu sehen ist, mit
einer eleganten Über-Kreuz-Konstruktion fort. Und Julia
Mangold spielt mit einer Positiv- und Negativ-Form, die die Innen-
und Außenbereiche des Baues miteinander verbinden.
Eine einzigartige ästhetische Bereicherung in Gestalt der
beeindruckenden Bronze-Skulptur von Marino Marini verdanken wir den
hochherzigen Mäzenen Irene und Rolf Becker. Ihnen gilt unser
besonderer Dank. Marino Marinis Skulptur - auf der Freitreppe
über der Spree - setzt ein weithin sichtbares Zeichen der
Selbstbehauptung des Menschen, ein Zeichen gegen Gewalt und
Inhumanität.
Es ist mir ein tiefes Bedürfnis, allen, die an der Umsetzung
dieses anspruchsvollen Bauvorhabens beteiligt waren, herzlich zu
danken. Wahrlich Großes geleistet haben neben dem Architekten
Braunfels und seinen Mitarbeitern die Arbeitsgemeinschaft
Ingenieurgesellschaft Gronauer und HPP International sowie die gmp
Generalplanungsgesellschaft. Mein Dank gilt der
Bundesbaugesellschaft Berlin mbH mit ihren
Geschäftsführern Rettig und Volke sowie dem ehemaligen
Kollegen und langjährigen Vorsitzenden der Baukommission, Dr.
Kansy, und der Vorsitzenden der Bau- und Raumkommission, Kollegin
Schewe-Gerigk. Frau Prof. Süssmuth schließe ich in den
Kreis der zu Bedankenden natürlich gerne mit ein, sie hat an
der Ermöglichung dieses Bauvorhabens kräftig
mitgewirkt.
Alle Planung konnte jedoch nur Wirklichkeit werden durch die Arbeit
vieler qualifizierter Ingenieure und Handwerker, die ich in dieser
feierlichen Stunde zwar nicht alle namentlich nennen kann, aber
doch besonders gewürdigt wissen möchte. Vielen Dank, Sie
haben beeindruckende Arbeit geleistet!
Ich denke, die Bürger der Bundesrepublik Deutschland werden
auf das neue Parlamentsgebäude stolz sein und dieses
Stadt-Kunstwerk ebenso begeistert annehmen, wie das
Paul-Löbe-Haus auf der anderen Spreeseite. Die attraktive
Gestaltung der Außenanlagen und die transparente
Fassadengestaltung der beiden Gebäude locken viele Besucher
an. Und ich finde es wunderbar, wenn sie sehen: In den Büros
des Deutschen Bundestages wird ordentlich gearbeitet."
9.536 Zeichen