Karl-Otto Sattler
Ein neuer Quantensprung bei den Rechnern
Computer auf der komplizierten Spur der
Gedanken
Die Situation in dem kleinen Zimmer des Fraunhofer-Instituts
für Rechnerarchitektur und Softwaretechnik mutet futuristisch
an. In Adlers-hof im Berliner Südosten sitzt Klaus-Robert
Müller in einem ockerfarbenen Sessel, auf dem Kopf eine Art
Badekappe mit einem dicken Bündel an Kabelsträngen. Vor
sich hat der Informatik-Professor einen Computer, auf dessen
Bildschirm ein Ball herumhüpft und sich ein Balken hin- und
herbewegt. Den manövriert der Wissenschaftler mal nach links,
mal nach rechts: Stets soll der Ball auf den Balken springen und
nicht daneben ins Leere stürzen. Meist klappt das, zuweilen
auch nicht.
Ein kleiner Geschicklichkeitstest, warum nicht. Doch dieses
Spiel hat einen ganz besonderen Kick: Müller hantiert nicht
mit einer Maus, um am Bildschirm das Hin und Her des Balkens zu
dirigieren - der Forscher steuert den Cursor vielmehr allein mit
seinen Gedanken, durch seinem Willen. Möglich macht das ein
Rechner, der mit Hilfe von über 100 Sensoren in der seltsamen
Mütze die Gehirnströme misst und deren jeweilige
Links-Rechts-Befehle in Anweisungen für den Cursor
ummünzt.
Gedanken steuern Computer, Computer lesen Gedanken: Müller
lässt es sich nicht nehmen, neben anderen Versuchspersonen
auch persönlich das Programm "Brain-Computer Interface"
voranzubringen, das die Fraunhofer-Informatiker sowie Mediziner um
den Neurologen Gabriel Curio von der Berliner Uniklinik Benjamin
Franklin mit Unterstützung des Bundesforschungsministeriums
entwickeln.
Da kommen sofort beklemmende Vorstellungen über Tendenzen
hin zum Totalitären auf. Heißt es nicht in einem alten
deutschen Freiheitslied "Die Gedanken sind frei, wer kann sie
erraten?". Soll es damit nun vorbei sein, gehört künftig
das Denken nicht mehr dem Menschen selbst, mutiert er zum
vollkommen gläsernen Objekt bis in den Kern seines Wesens?
Der Wissenschaftler Benjamin Blankertz, der zum Projektteam um
Müller gehört, bleibt gelassen: "Ich halte es für
ausgeschlossen, dass eines Tages die Gedanken selbst, die Inhalte
des Denkens von einem Computer entschüsselt werden
können." Buchstaben oder Worte in der Unmenge vertrackter
Gehirnströme über einen Rechner zu analysieren, "das ist
unvorstellbar", so Blankertz. Möglich sei es lediglich, im
Kopf über die Unterscheidung bestimmter Aktivierungsmuster
einfache Befehle wie etwa den Wunsch zum Bewegen der linken oder
rechten Hand zu registrieren.
Solche Kenntnisse könne man, wie der Informatiker
erläutert, künftig in der Medizin nutzen: um
beispielsweise Behinderten zu helfen, Prothesen zu steuern, oder um
bei Querschnittsgelähmten die Verbindung zwischen Gehirn und
Muskulatur zu überbrücken. Auch ein Einsatz dieses
Prinzips bei Videospielen sei machbar, sozusagen als
"Spaßfaktor". Noch aber befinde man sich im Stadium der
Grundlagenforschung, und da sei noch viel zu tun. Blankertz: "Echte
praktische Anwendungen sind in den nächsten Jahren noch nicht
zu erwarten."
Gedankenblitze
In Zukunft wird der Computer also selbst Gedanken lesen
können, auch wenn diese nach derzeitigem Kenntnisstand nur von
eher simplem Strickmuster sein dürften: Eine solche
Perspektive hat bislang die Vorstellungskraft der meisten Menschen
gesprengt. In einschlägigen Fachkreisen ist dies freilich
schon lange ein Debattenthema. Mit ihrer Erarbeitung einer
Schnittstelle zwischen Gehirn und Computer geben die Berliner
Wissenschaftler dieser Forschung nun einen neuen Pusch.
Mit Hilfe des sogenannten Elektroenzephalogramms (EEG) messen
Elektroden an der Kopfhaut die Gehirnströme. Worauf es
ankommt, beschreibt Gabriel Curio von der Arbeitsgruppe Neurophysik
am Benjamin-Franklin-Krankenhaus so: "Der Computer lernt die
neurophysiologischen Signale richtig zu interpretieren." Dabei
stützt man sich auf folgendes Phänomen: Will der Mensch
eine Bewegung ausführen, so ändern sich eine halbe
Sekunde zuvor die Gehirnströme - ein nur wenige Millionstel
Volt großes "Bereitschaftspotenzial".
Lernende Maschinen
Die Fraunhofer-Datenexperten haben nun eine Software entworfen,
die in die Lage ist, in dem diffusen Informationsgemisch unter der
Schädeldecke das gesuchte Signal zu erkennen. Die Methode:
Spezielle Algorithmen trennen die unterschiedlichen Gehirnquellen
voneinander. Dann gilt das Prinzip "Let the machines learn!": Der
Computer muss lernen, die registrierten Signale einer bestimmten
Bewegung zuzuordnen. Dabei tippt ein Proband zunächst mit dem
rechten oder linken Zeigefinger auf eine Tastatur. Diesen Prozess
begreift der Rechner schnell: Schon nach 20 Minuten kann die
Versuchsperson allein mit der "Kraft der Gedanken" einen Cursor
lenken.
Will der Tester den rechten Finger in Gang setzen, geht der
Cursor bereits eine Viertelsekunde vor der eigentlichen Bewegung
auf die rechte Bildschirmseite. "Bei einigen Probanden lässt
sich die geplante Bewegung mit einer Sicherheit von 97 Prozent
vorhersagen", sagt Klaus-Robert Müller. Bis zu 50
Entscheidungen können so pro Minute in technische
Steuerungssignale umgewandelt werden.
So weitreichend dieser Erkenntnisse anmuten, so steht das
Forschungsprojekt doch erst am Anfang. Beispielsweise muss die
EEG-Technologie, also die Hardware, verfeinert werden. Die heutigen
Geräte sind sehr klobig, die Elektroden müssen mit Gel
auf der Kopfhaut fixiert werden. So etwas ist im Alltag kaum zu
handhaben. Die Berliner Wissenschaftler denken an eine
Verkleinerung des EEG, um es in eine Art "Baseball-Kappe"
integrieren zu können: Sensoren sollen dann berührungslos
die Gehirnströme messen.
An Visionen für die praktische Anwendung ihres
Forscherdrangs mangelt es den Informatikern und Neurologen nicht.
Je nach der Ausgestaltung des Computerprogramms können die
Hirnströme in ganz unterschiedliche Befehle umgesetzt werden.
Eine Idee: Gelähmte Patienten schreiben Texte auf dem
Bildschirm - indem sie mit der "Kraft ihrer Gedanken" den Cursor in
einem Buchstabenfeld bewegen. Oder eben die Steuerung von
Prothesen. All das dauert noch seine Zeit.
In Kooperation mit Tübinger Kollegen haben die Berliner
indes bereits erste konkrete Hilfen für
Querschnittsgelähmte oder Muskelschwund-Kranke entwickelt.
Benjamin Blankertz: "Das ist noch nicht optimal, da ist noch
manches verbesserungsbedürftig." Solche Fortschritte belegen
für den Informatiker jedoch eines: "Was wir machen, ist keine
Spinnerei."
Karl-Otto Sattler ist freier Journalist in Berlin.
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