Die Politik steht vor einer Weichenstellung
Ein Grundsatzkonflikt über instrumentelle
Vernunft: Darf die Gesellschaft den Menschen in technische
Konstruktion nehmen?
Stammzellen sind Erneuerer von Zellen und
Organen des menschlichen Körpers. Von unscheinbarem
mi-kroskopischem Aussehen, schwer auffindbar, halten sie sich in
allen Organen im Hintergrund, regenerieren sich selbst durch
Zellteilung und sind zudem in der Lage, bei entsprechenden
Stoffwechselsignalen wichtig Abschnitte des Genoms "in Betrieb zu
nehmen" sowie sich zu spezialisierten Körperzellen zu
entwickeln. Ohne Stammzellen könnte der Mensch nur wenige
Stunden überleben, wie die hyperakute Strahlenkrankheit nach
einem Kernkraftwerksunfall zeigt.
Solange alle "somatischen" (auch: "adulten")
Stammzellen vital sind, bleibt der Körper jung und zur
Selbsterneuerung fähig; der spätere natürliche
Alterungsprozess hat viel mit dem Verlust der Vitalität von
Stammzellen zu tun. Verhältnismäßig leicht
zugängliche Stammzellen kommen bereits der Therapie zugute,
beispielsweise Stammzellen des Knochenmarks bei der
Blutregeneration. Und es werden große Hoffnungen darauf
gesetzt, künftig auch Zellen und Gewebe zu erneuern, die sich
bisher im menschlichen Körper nur schlecht oder gar nicht zu
regenerieren vermögen, zu denken ist an Gelenkknorpelzellen,
Nervenzellen, Muskelzellen oder Inselzellen.
Kein Zweifel, dass die Stammzelltherapie ein
enormes Zukunftspotential in sich birgt - wobei jedoch über
die etablierten Verfahren hinaus noch intensive Forschungsarbeit
zur Erreichung dieses Ziels notwendig ist. Vor allem müssten
sich somatische Stammzellen leichter aufspüren, stabil in
Kultur halten und ohne Schaden weiterzüchten lassen, um sie
als immunverträgliche Transplantate auch aus dem Körper
der empfangenden Person gewinnen zu können.
Wünschenswert wäre es
überdies, dass man lernt, adulte Stammzellen künstlich
"umzuprogrammieren": Sie sollen sich dann nicht nur in die
Zelltypen umwandeln können, auf die sie spezialisiert sind
(etwa Knochenmarkstammzellen in rote und weiße
Blutkörperchen) - sondern auch in andere, bislang nicht
regenerationsfähige Zelltypen (zum Beispiel
Knochenmarkstammzellen in erneuerte Nervenzellen).
Aus all dem ergeben sich faszinierende
Visionen für die Behandlung von degenerativen Krankheiten
besonders während des höheren Lebensalters. Es sei
ausdrücklich vermerkt, dass es nicht ausgemacht ist, ob eine
solche Therapie nur als Zell- oder Gewebsverpflanzung funktionieren
wird.
In Betracht kommen könnte auch die
gentechnische Herstellung von hochwirksamen Wachstumsfaktoren wie
Hormonen - wenn man nur erst die Feinregulierung des Wachstums und
die Spezialisierung von Stammzellen verstanden hat. Für solche
Entwicklungen wäre die Stammzellforschung nur eine zu
erkundende Zwischenetappe.
Sämtliche Gewebsstammzellen stammen von
Vorläufern ab, letzten Endes in direkter Linie von einer der
etwa 100 embryonalen Stammzellen der inneren Zellmasse des Embryos
etwa am sechsten Tag beim Menschen nach der Befruchtung der Eizelle
durch eine Samenzelle. Diese embryonalen Stammzellen sind am
wenigsten festgelegt, aus ihnen kann noch jede Körperzelle
werden. Sie sind im Tierversuch leicht und mit guter Ausbeute zu
gewinnen, bequem und für lange Zeit in Kultur zu züchten,
teilen sich spontan und neigen dazu, sich ebenfalls spontan in
Körperzellen zu differenzieren. Das sind entscheidende
technische Vorteile gegenüber den somatischen
Stammzellen.
Diese lassen sich zwar zum Teil erfolgreich
transplantieren, aber nur äußerst schwer als
funktionsfähige Langzeitkultur stabilisieren. Einen
gewichtigen Nachteil von embryonalen Stammzellen sollte man indes
nicht übersehen: Sie neigen zu unkontrolliertem Wachstum und
zur Ausbildung von Krebs. Alle Anwendungen müssen die
Abstoßungsreaktion von Fremdgeweben berücksichtigen.
Immunologisch sicher verträgliche Transplantate kann man nur
aus körpereigenem Material erzeugen: aus somatischen
Stammzellen oder durch sogenanntes "therapeutisches"
Klonen.
Es lässt sich gegenwärtig nicht
zuverlässig vorhersagen, ob die Erforschung der Stammzellen
wirklich zu den phantastischen Ergebnissen führen wird, die
Optimisten erwarten. Auch ist offen, ob dabei somatische oder
embryonale Stammzellen die wesentlichen "Akteure" sein werden.
Überdies muss sich zeigen, ob überhaupt Zellen zum
Einsatz gelangen werden - und nicht vielleicht nur deren Wirkstoffe
und Wirkprinzipien, hergestellt möglicherweise aus
gentechnischer Produktion. Letzteres trifft ja auf einige
"Umsatzknüller" der Pharmaindustrie wie etwa Erythropoetin
zu.
Der Griff ins Unbekannte
Solche Fragen dürften im Zuge der
internationalen Forschungsanstrengungen in den nächsten Jahren
geklärt werden. Dazu werden weltweit alle denkbaren Strategien
eingesetzt werden, und die Lösung der Probleme hängt von
der Forschungslogik, von der Kreativität der Beteiligten und
von den Sachverhalten des Forschungsgegenstands ab. Wissenschaft
greift ins Unbekannte und deren Resultate können daher
prinzipiell nicht mit Gewissheit prognostiziert werden.
An erwünschten Ergebnissen und an
nutzbaren Mitteln orientierte politische Ratschläge ("Sollen
die Forscher sich doch auf adulte Stammzellen konzentrieren, das
sieht doch sehr erfolgversprechend aus!") sind da ein sicherer Weg
in die Mittelmäßigkeit - als Wissenschaftler mit
Erfahrung in DDR-Staatsplanforschung halte ich mich für ein
solches Urteil durchaus berufen.
Nun gibt es ein Problem: Einige
Forschungsansätze müssen auf Methoden zurückgreifen,
die ethisch umstritten sind, wenn es um Anwendungen beim Menschen
geht. Embryonale Stammzellen kann man nur aus Blastocysten
gewinnen, und diese sind eine notwendige Zwischenstufe bei der
natürlichen Entwicklung des Menschen nach der Befruchtung der
Eizellen. Die Zulassung dieser Strategie hängt mithin davon
ab, ob solche Blastocysten genutzt werden dürfen. Hier ist nun
eine politische Debatte legitim, denn ein Eingriff in die Freiheit
der Forschung ist dann geboten und nur dann gerechtfertigt, wenn es
sich um die Wahrung oder die Verletzung von Grundrechten
dreht.
Zur Anerkennung der Legitimität einer
solchen Diskussion gehört aber auch die Einsicht, dass in
diesem Fall der Eingriff in die Forschungsfreiheit (bei aller
Unsicherheit der Prognose) sehr tiefgreifend sein wird. Dies ist
nicht vergleichbar mit der Kernkraftnutzung: Dort geht es definitiv
nicht um die Einschränkung de Freiheit der
Grundlagenforschung, sondern lediglich von speziellen technischen
Anwendungen. Vergleichbar ist der jetzige Konflikt hingegen mit dem
Streit um die Erlaubnis von Leichenöffnungen als medizinischer
Forschungsmethode im 16. Jahrhundert: Damals stand die Logik der
Grundlagenforschung tatsächlich gegen eine zutiefst
überzeugte Weltanschauungsfront.
Den grundlegenden Charakter des sich
abzeichnenden Konflikts hat Bundesjustizministerin Brigitte Zypries
(SPD) bei ihrer aufsehenerregenden Berliner Rede sehr deutlich
gemacht - eben weil sie sich auf die Verfassungsdebatte
beschränkte und keine pragmatische Änderung der geltenden
Gesetze forderte. Es geht ja gar nicht um biologische Sachverhalte.
Niemand wird ernsthaft bestreiten, dass auch der Embryo zur
menschlichen Gattung zählt und ein Gebilde ist, das die
Tendenz hat, sich zu einem geborenen Menschen auszubilden. In
diesem Sinne ist der Embryo ein Mensch. Niemand wird in Abrede
stellen, dass die Verwertung dieses Gebildes eine
Instrumentalisierung zu ihm fremden Zwecken darstellt und dass die
Auswahl solcher Gebilde für die Verbringung in die
Gebärmutter eine Entscheidung über Leben oder Nichtleben
bedeutet.
Umstritten ist vielmehr, ob dieser
biologische Begriff "Mensch" mit dem "Menschen" oder dem "Jeder"
des Grundgesetzes gleichzusetzen ist. Wann und mit welcher
Begründung ist ein kategorisches moralisches (und damit
juristisches) Verbot der skizzierten Anwendungen - etwa die
Erzeugung embryonaler Stammzellen oder die genetische Diagnose vor
der Schwangerschaft - gerechtfertigt? Es handelt sich um einen
Konflikt bei der Interpretation der Grundrechtsartikel in der
Verfassung.
Dabei gibt es neben zahlreichen Facetten zwei
Hauptpositionen, deren eine von der heutigen Justizministerin und
deren andere von ihrer Vorgängerin Hertha Däubler-Gmelin
(SPD) exemplarisch vertreten werden. Hinter jeder Haltung stehen
zahlreiche differenzierte Argumente und Begründungen. Es ist
unredlich, dem einen Standpunkt allein die moralische Verantwortung
und dem anderen allein die Orientierung an Interessen zuzuordnen.
Somit stehen wir mitten in einem genuin moralischen Konflikt - und
haben es nicht mit der Verteidigung der Moral gegen partikulare
Interessen zu tun.
Das Eintreten gegen die Nutzung menschlicher
Blastocysten bei der Forschung mit Stammzellen ist eine legitime
moralische Entscheidung. Parlament und Bürgerschaft sollten
allerdings für die möglichen Konsequenzen, mit denen bei
einem Erfolg der internationalen Forschung zu rechnen ist,
einstehen und diese Hinweise nicht als Panikmache abwimmeln. Das
Parlament hat die legitime Entscheidungsmacht, jedoch darf es die
Folgen nicht kleinreden. Die Konsequenzen könnten durchaus
darin liegen, dass unser Land eine fundamentale Neuerung verpasst
und dafür bezahlen muss. Auch in moralischer Münze: Denn
wie sollen wir uns verhalten, wenn sich dereinst schlimme
Volkskrankheiten mit Methoden behandeln lassen, die aus der
Stammzellforschung am Menschen resultieren?
Dieser tiefgehende Konflikt dürfte noch
lange fortdauern. Selbst wenn sich die Forschung mit menschlichen
Embryonen als überflüssig oder als nicht ergiebig
herausstellen sollte, so zeichnen sich bereits andere Fronten ab:
Auseinandersetzungen vielleicht um die therapeutische oder
konstruktive Veränderung der Keimbahn oder eventuell um
immunverträgliches Gewebe, das aus technisch produzierten
Keimzellen stammt oder das Ergebnis von Klonen ist. Die
dahinterstehende Entscheidung wurzelt in der Frage, ob die
Gesellschaft das Recht hat, den Menschen selbst in technische
Konstruktion zu nehmen - und nicht nur seine Peripherie, wie es mit
Herzschrittmachern, Haftlinsen oder künstlichen
Hüftgelenken geschieht.
Die Antwort kann nicht zwingend aus dem
Wortlaut des Grundgesetzes abgelesen werden - weshalb dieser Streit
die deutsche Bürgerschaft ebenso konträr aufspaltet wie
die Gesellschaft anderer Länder, die solche Verfassungsartikel
nicht kennen. Betroffen von diesem Konflikt ist im Übrigen
auch weltweit die biomedizinische Community. Aufgabe der Politik
ist es, tolerante und sozialverträgliche Kompromisse zu
erarbeiten. Ein solcher Versuch ist mit dem Stammzellgesetz gemacht
worden. Ich selbst empfinde diese Lösung als nicht
befriedigend, und zwar aus Gründen, die teils von der
"konservativen", teils von der "liberalen" Position vorgebracht
werden. Ich hätte eine eindeutige Entscheidung - für oder
gegen - vorgezogen.
Verfolgung des Dr. Frankenstein
Meine persönliche Überzeugung ist,
dass man auf geschlechtliche Weise gezeugte Embryonen nicht
selektieren und auch nicht für die Forschung verwenden sollte.
Auch rein sachlich scheint mir gegenwärtig bei den meisten
Fragestellungen der Schritt vom Tierversuch zur Nutzung
menschlicher embryonaler Stammzellen noch verfrüht zu sein. In
Schwierigkeiten befinde ich mich allerdings, wenn die Regulierung
der Stammzellgewinnung durch ein Strafgesetz erfolgt. In diesem Weg
sehe ich eine absurde Bedrohung von Wissenschaftlern, die doch
nicht als Dr. Frankenstein aktiv werden wollen, sondern durchaus
vertretbare Ziele und Zwecke verfolgen. Und bei Ehepaaren, die
bereits ein Kind durch eine schwere Erbkrankheit wie Muskelschwund
verloren haben, bringe ich die moralische Kraft nicht auf, den
Wunsch nach einem durch Auslese erreichten gesunden Kind zu
verweigern.
Angesichts der klaren weltanschaulichen
Fronten vermag ich keine einleuchtende politische Alternative zum
Kompromiss beim Stammzellgesetz zu erkennen. Meine Frau und ich
hätten im Falle einer drohenden Erbkrankheit vermutlich eher
darauf verzichtet, Kinder zu bekommen, als Embryonen auszusuchen -
ob wir das tatsächlich durchgehalten hätten, kann ich
freilich nicht beschwören. In begründeten schweren
Konfliktfällen sollte man die Präimplantationsdiagnostik
nicht verbieten.
Auf den ersten Blick sehen wir uns bei der
Klon- und Stammzelldebatte lediglich mit einigen praktischen
forschungspolitischen Regelungen konfrontiert. In Wahrheit ist
diese Diskussion ein paradigmatisches Beispiel für die
grundlegende Entscheidung, ob die instrumentelle Vernunft, die seit
der Zähmung des Feuers den Menschen zum Menschen macht, auch
die Selbstkonstruktion der menschlichen Physis zum Ziel nehmen
darf, oder ob hier kategorische, metabiologische Grenzen zu ziehen
sind. Ich selbst wünsche mir klare, aber keine dogmatisch
zementierten Grenzen. Und ich gebe gleichzeitig der Erwartung der
wissenschaftlichen Community Ausdruck, dass die deutsche Politik
sich auch weiterhin des Ernstes dieser Weichenstellung und der
unvermeidlichen Konsequenzen ihres Handelns bewusst
bleibt.
Der Molekularbiologe Jens Reich forscht am
Max-Delbrück-Zentrum in Berlin.
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