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Sabine Kebir
Die Politik steht im Zugzwang, die Perspektiven
der Einwanderer möglichst bald deutlicher zu machen
Entscheidungshilfen in Konflikten der
Kulturdifferenz müssen auf verschiedenen wissenschaftlichen
Ebenen gesucht werden
Kampf der Kulturen oder multikulturelle
Gesellschaft? Diese Alternative scheint sich nicht nur für die
Weltgemeinschaft der Völker und Staaten zu stellen, sondern
auch für die innere Dynamik jener Länder, die Ziel von
Flüchtlingen und Einwanderern sind - wie etwa Deutschland. Ist
es unausweichbar, dass die Konflikte zunehmen, oder ist Gleichheit
in der Differenz doch zu verwirklichen? Die meisten Politiker
würden diese Frage bejahen ohne zu bestreiten, dass es sich um
ein Projekt, um einen Zukunftstraum handelt. Angesichts der Gefahr,
dass sich Weltkonflikte auch hierzulande auswirken, steht die
Politik im Zugzwang, die Perspektiven der Einwanderer
möglichst bald deutlicher zu machen.
Die dabei auftauchenden Probleme
bedürfen nicht nur wegen ihrer Vielschichtigkeit, sondern
allein schon wegen der keineswegs eindeutigen Begrifflichkeiten
wissenschaftlichen Beistands. Denn unter "Gleichheit in der
Differenz" wird in verschiedenen Ländern des Westens
Verschiedenes verstanden. Darauf hin befragt, würden
wahrscheinlich die meisten Amerikaner darauf verweisen, dass sich
ihr Land schon lange auf dieses Ideal zu bewegt. In der Tat muss
man den Stolz auch vieler weißer US-Bürger über die
einschneidenden Erfolge der Bürgerrechtsbewegung in den
60er-Jahren persönlich erlebt haben, um zu begreifen, dass sie
auf ihre Weise Recht haben.
Jedoch bedeutet "Gleichheit in der Differenz"
in den USA etwas anderes als in Europa: Die Formel steht für
die öffentliche und gegenseitige Anerkennung der formalen
politischen Bürgerrechte. Die verschiedenen ethnischen und
religiösen Communities üben sich trotz ihrer kulturellen
Differenzen im Alltagskontakt in gegenseitiger political
correctness, prinzipiell auch dann, wenn sie wie viele Einwanderer
noch keine vollen Bürgerrechte genießen. Erst seit dem
11. September leiden viele Muslime unter einer Art
Kollektiverdächtigung, mit den Anschlägen etwas zu tun
gehabt zu haben oder gar neue zu planen.
In den USA gilt als selbstverständlich,
dass die soziale Verantwortung für das Wohl und Wehe der
Einzelnen in erster Linie in der Verantwortung der Gemeinden, oft
aber auch - ganz privat aufgefasst - bei ethnischen oder
religiösen Communities liegt, während es eine
übergeordnete, etwa bundesstaatliche Verantwortung nur in
wenigen Bereichen gibt. In Europa mit seiner langen Geschichte sich
kontrovers gegenüberstehender Kleinstaaten, die nicht nur
einen bunten Flickenteppich von sprachlich, ethnisch und
religiös sehr alten Differenzen hervorgebracht hat, sondern
auch verschiedene Formen von Sozialstaaten, schwingt stets die
Auffassung mit, dass Bürgerrechte nur wahrgenommen werden
können, sobald die Individuen über minimale
ökonomische Autonomie und Mobilität
verfügen.
Diese Grundrechte hat notfalls der Staat zu
garantieren. Viel empfindlicher reagiert man hier deshalb auf das
Problem der sozialen Ungleichheit, das als politisches erscheint,
während es die meisten Amerikaner eher als privat oder sogar
naturgegeben ansehen.
Experimente der Toleranz
Auch in Europa wurde schon damit
experimentiert, die sozialstaatliche Verantwortung zum Teil auf die
privaten Strukturen ethnischer beziehungsweise religiöser
Gruppierungen zu verlagern. Die jahrelange Toleranz gegenüber
islamistischen Vereinen hatte auch den Grund, dass die globale
informelle Ökonomie des Islam sowie seine traditionellen
Familienverhältnisse den Staatshaushalt entlasteten. Aber
diese Politik hat in Europa wenig Chancen zur Verallgemeinerung,
weil der quantitative Anteil der Einwanderergruppen anders ist als
in den USA. Noch ist kaum vorstellbar, dass der Kopftuchstreit in
Europa nicht im Rahmen der öffentlichen Schulen gelöst
wird. Auch brächte es politische Unberechenbarkeiten mit sich,
wenn Muslime mit radikalen Tendenzen ausschließlich auf
private Schulen verwiesen würden.
Weil sich das Problem der autonomen
Verantwortung der Communities - auch aus Sicherheitsgründen -
in Europa anders stellt als in den von Ozeanen umgebenen USA,
entstehen in der Einwanderungspolitik Konfliktfelder zwischen
privaten und öffentlichen Zuständigkeiten, deren
Lösungsansätze nicht eindimensional zu finden sind.
Politik ginge fehl, wenn sie sich nur auf die Anhörung so
genannter authentischer Stimmen aus den Einwanderungsgruppen
verließe. Authentizität ist nicht automatisch
Repräsentativität.
Weil dieses Denken in den 90er-Jahren aber
sehr verbreitet war, durften bekennende oder verkappte Islamisten
in Deutschland auch im öffentlichen Raum immer wieder
behaupten, den "wahren Islam" kompetent zu vertreten. Erst in den
vergangenen Monaten ist durch Umfragen belegt worden, dass die
meisten Muslime sowohl in Deutschland als auch in Frankreich das
Tragen des Kopftuchs für Frauen keineswegs als religiöse
Pflicht ansehen. Eine Kopftuch tragende Pädagogin
empfänden viele Muslime nicht nur als Zumutung für ihre
Kinder, sondern sogar als eine Art Bedrohung, die - wie in vielen
islamischen Ländern - von den Islamisten gegenüber den
eher säkular eingestellten Muslimen ausginge.
Allein aus diesem Beispiel ist zu erkennen,
dass Politik ohne Unterstützung von Spezialisten nicht
auskommt. Natürlich liegt es nahe, sich in Fragen von Islam
und Islamismus bei Religionswissenschaftlern Rat zu holen, etwa auf
der kulturellen Ebene einen "Dialog der Religionen" zu initiieren.
Aber wie man die Eigenarten von "Europäern" keineswegs durch
das Studium einschlägiger Bibelstellen erklären kann,
wird man einen aus dem islamischen Kulturkreis stammenden Menschen,
geschweige denn eine ganze Gruppe, nicht allein durch
wissenschaftliche Analyse des Koran und seiner religiösen,
politischen oder wissenschaftlichen Ausdeutungen besser
verstehen.
Auch blieben bei dieser Art "Dialog" die
schweigenden Mehrheiten der Muslime unberücksichtigt, deren
Verhältnis zur Religion sich in eine ähnliche
laizistische Richtung bewegt, wie das der meisten Europäer. Es
bedarf auch historischer und soziologischer Fachkompetenz, um zu
klären, wieso sich so viele Menschen aus dem islamischen
Kulturkreis seit den 50er-Jahren durchaus als gläubig
definieren, ohne aber den Schleier für obligatorisch zu
halten. Wann und warum das Kopftuch und das lange Frauengewand in
muslimischen und schließlich auch in Einwanderungsländern
auftauchte und immer häufiger wurde, werden nur Historiker,
Soziologen und Politologen klären können, die neben einem
Gesamtüberblick auch eine Spezialisierung auf bestimmte
Sprachen, Regionen und Länder haben.
Ein Teil des Problems erschließt sich,
wenn man die Spuren der saudischen Entwicklungshilfe in den
islamischen Ländern seit 1967 zurückverfolgt. Sie bestand
vor allem im Bau von Moscheen, die nicht nur als mächtige
Zentren kultureller Ausstrahlung wirkten, sondern oft zugleich als
Sozialstationen tätig waren und sind. Wo staatliche
Solidarsysteme versagen oder nicht existieren, müssen sich
diejenigen, die auf die Hilfe der Moscheen angewiesen sind,
zunächst verpflichten, den weiblichen Teil der Familie zu
verschleiern. Dieser Mechanismus steckt hinter den massenhaften
Wiederverschleierungen in den ehemaligen südlichen
Sowjetrepubliken, aber auch in Bosnien und teilweise sogar in den
westlichen Ländern. Trotzdem muss auch die Möglichkeit
freiwilliger Verschleierungen anerkannt werden. Sie sind es, die
die politische Wertung für uns kompliziert machen.
Wenn der Einfluss von Geldquellen auf
bestimmte Gruppen von Muslimen ermittelt ist, bleiben immer noch
zahlreiche Gruppen unverstanden, so jene, die aus den schiitischen
Regionen, besonders aus dem Iran, zu uns stießen.
Begnügte man sich hier mit Informationen aus dem
religionswissenschaftlichen Bereich über den Unterschied von
Schia und Sunna, bliebe die weit wichtigere Tatsache
unterbelichtet, dass die iranischen Emigranten meistens den
gebildeten Schichten entstammen, die vor dem Islamismus des
Ayatollah-Regimes geflüchtet sind.
Sowohl von ihrem Bildungstsstand als auch von
ihren Überzeugungen her sind sie wesentlich leichter in das
hiesige Leben integrierbar als die meist recht ungebildeten
Algerier, die als Islamisten in ihrem eigenen Land verfolgt waren.
In beiden Fällen handelt es sich um Muslime im Exil, die sich
aber politisch kontrovers gegenüber stehen. Auf
pauschalisierte Vorurteile gegenüber Muslimen werden jedoch
beide empfindlich reagieren. Entscheidungshilfen in Konflikten der
Kulturdifferenz müssen also auf verschiedenen
wissenschaftlichen Ebenen gesucht werden.
Man muss sich nicht auf Extrembeispiele
berufen wie Samuel Huntington, den Autor des "Clash of
civilisations", um zu verdeutlichen, dass die Sozialwissenschaften
zwar viele Einzelfakten zur Verfügung stellen, deshalb aber
noch lange keine objektiven Wissenschaften sind, sondern ihre
Ergebnisse immer von einem politischen Standpunkt aus, manchmal
auch auf ein politisches Ziel hin organisieren. Hinsichtlich der
Analyse der Einwandererkulturen sind uns die amerikanischen
Universitäten voraus. Schaut man sich die einschlägigen
Publikationen an, zeigt sich, dass es keineswegs nur Arbeiten gibt
mit imperialen Zielsetzungen wie die von Huntington oder Bernard
Lewis.
Weil die amerikanischen Universitäten
auch vielen Gelehrten aus den Entwicklungsländern
Arbeitsmöglichkeiten bieten, sind wissenschaftliche
Positionen, die fremde Kulturen in ihrer Eigendynamik erfassen,
ebenso vertreten. Verwiesen sei hier auf den bekannten Kritiker des
westlichen Orientalismus, den kürzlich verstorbenenen
Palestinenser Edward Said, der an der Columbia University
lehrte.
Es versteht sich also, dass die politische
Klasse einer demokratischen Gesellschaft auf eine möglichst
vielgliedrige Wissenschaftslandschaft angewiesen ist, innerhalb
derer kontroverse Ausgangs- und Standpunkte offen zur Sprache
kommen. Doch selbst wenn die Politik sich auf so eine
vielfältige Wissenschaftslandschaft stützt, werden
Entscheidungen immer auch in Bezug zu den eigenen geschichtlichen
Traditionen und künftigen Zielen getroffen.
Trennung von Staat und Kirche
Dass der eigene Standpunkt nicht der
"natürliche", der "demokratische" oder der "europäische"
an sich ist, zeigen nicht zuletzt die Unterschiede im
Kopftuchstreit in Frankreich und Deutschland, die auch auf der
unterschiedliche Geschichte und Auffassung der Trennung von Kirche
und Staat beruhen. Frankreich, das bereits ein Jahrhundert lang den
Ausschluss des Religiösen aus der öffentlichen Schule mit
äußerster Strenge praktiziert, will das Tragen des
Kopftuchs unter Minderjährigen verbieten. Man geht davon aus,
dass sie es nicht aus freier Entscheidung tragen. Volljährige
Studentinnen an den Universitäten dürfen das Kopftuch
dagegen anlegen.
Im Gegensatz zu Frankreich konzentriert sich
der Kopftuchstreit in Deutschland nur auf das Problem, ob es
verschleierte Pädagoginnen geben dürfe. Da in den meisten
deutschen Ländern der Religionsunterricht Teil der
Schulpflicht ist, erscheint hier nicht nur das Kopftuch als
selbstverständliches Minderheitenrecht, das bislang
überhaupt nur in Ansätzen verwirklicht ist. Viele halten
es auch für notwendig, dass der islamische Religionsunterricht
in den Schulen zur Normalität wird. Dies hätte den
Vorteil, dass muslimische Schüler vor radikalisierten Formen
des Islam geschützt wären, würde aber diejenigen
stören, die sich nach dem Vorbild Frankreichs eine konsequent
laizistische Schule wünschen. Eine Berliner Initiative, die
freiwilligen Arabisch-Unterricht in öffentlichen Schulen
anbot, wurde sofort von vielen Eltern genutzt, die ihre Kinder
sonst in private Koranschulen geschickt hätten. Leider wurde
das Projekt aus Geldmangel eingestellt.
Wie solche Probleme letztlich gelöst
werden, steht im Zusammenhang mit den Fragen, welche allgemeinen
Leitbilder der Staat mittels seiner Beamten und Angestellten
vorzugeben wünscht, welche Rolle die Kirchen in Zukunft
spielen sollen, aber auch in Bezug zu unserer eigenen Geschichte im
Umgang mit Minderheiten. Denn natürlich definieren die Muslime
ihre Unterprivilegierung in Deutschland in Bezug zur
Gleichberechtigung, die jüdische Einwanderer in Anbetracht der
untilgbaren deutschen Schuld an der Shoa selbstverständlich
genießen. Will es die Reste des rassistischen Paradigmas
grundsätzlich überwinden, hat Deutschland nicht nur eine
Bringeschuld gegenüber den Juden, sondern gegenüber jeder
hier lebenden Minderheit.
Das Problem muss auch deshalb bald
gelöst werden, weil in wenigen Jahren den in der EU heute noch
unterprivilegierten muslimischen Einwanderen bald viele nicht mehr
unterprivilegierte Osteuropäer als Konkurrenten
gegenüberstehen werden. Erst wenn allen in der EU Geborenen
die gleichen kulturellen, religiösen und ökonomischen
Rechte zustehen, wird die demokratische Perspektive für alle
vertrauenswürdig. Das bedeutet aber auch Förderung
für die, die durch ihre Herkunft benachteiligt sind. Wenn sich
die Politik entschlösse, die schulischen Schwächen der
Kinder der ungebildeten Einwanderer gezielt auszugleichen,
würde der deutschen Wirtschaft auch jener große Pool an
kreativen Talenten zur Verfügung stehen, den sie so dringend
benötigt. Wer das moderne dynamische Leben der Städte in
der Westtürkei kennt, kann sich vorstellen, dass die
Gleichberechtigung der türkischen Einwanderer zu einer
ähnlichen kulturellen Bereicherung Deutschlands beitragen
könnte wie einst die Emanzipation der Juden.
Wünschenswert wäre, dass sich die
europäischen Länder hinsichtlich der Einwanderer nicht zu
kontrovers verhalten, dass vielmehr eine aufgeschlossene
Perspektive der EU insgesamt gegenüber den bereits hier
Lebenden sichtbar wird. Aus meiner Sicht wäre ihre bessere
Integration gegenüber weiterer Zuwanderung prioritär.
Eine weniger quantitativ, sondern qualitativ argumentierende
demographische Wissenschaft böte entsprechende
Entscheidungshilfen.
Bislang sind nicht nur die
Einwandererkulturen, sondern auch der Europäische
Zusammenschluss kaum in den Schulprogrammen berücksichtigt.
Während man sich noch streitet, ob die Lehrer ihr Programm aus
einem enger als bislang gefassten Kanon deutschen Literaturerbes
zusammenstellen sollen, müssten den Literaturwissenschaften
längst Vorschläge abgefordert werden, damit jeder
Schüler ein Minimum von Spitzenwerken der europäischen
Literatur kennenlernt und - wegen der vielen muslimische
Einwanderer - mindestens auch ein Buch eines repräsentativen
Autors oder einer Autorin aus dem islamischen Kulturkreis. Es gibt
keinen besseren Weg, den Muslimen zu bürgerlicher
Repräsentativität zu verhelfen, als etwa die
literarischen Traditionen der laizistischen türkischen Kultur
auch hierzulande zur Geltung zu bringen.
Sabine Kebir arbeitet als freie Journalistin
in Berlin.
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