Gert-Joachim Glaeßner
Schneisen ins Dickicht gesellschaftlicher
Verwerfungen
Für die Lösung von Zukunftsproblemen
sollte sich die Politik stärker den Sozialwissenschaften
öffnen
"The sick man of Europe" sei die Bundesrepublik:
So hört man es allenthalben bei Besuchen im Ausland.
Häufig schwingt bei solchen Gesprächen eine gewisse
Schadenfreude mit. Je nach politischem Standort oder
weltanschaulichen Positionen werden Ratschläge erteilt, die
stets darauf hinauslaufen, das seit 1949 gewachsene und nach der
Wiedervereinigung auf ganz Deutschland übertragene politische,
wirtschaftliche und soziale System einer grundlegenden Revision zu
unterwerfen.
Das hiesige Konsensmodell sei überholt,
lautet eine verbreitete Kritik. Die wissenschaftlich-technische und
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit werde durch zu viele Regeln
und Vorschriften geknebelt. Das politische System sei durch zu
viele Institutionen und Akteure handlungsunfähig geworden. Es
gebe zu viele Vetospieler, die, wenn denn schon der Wille zu
Neuerungen da sei, Entscheidungen blockieren könnten. Und
schließlich, so der generelle Vorwurf, sei das politische
Klima in der Bundesrepublik durch ein Status-quo-Denken und durch
die mangelnde Bereitschaft zu Veränderungen
gekennzeichnet.
Solche Thesen finden sich in großer
Breite und Detailliertheit auf internationaler Ebene, in der
wirtschafts-, politik- und sozialwissenschaftlichen Literatur wie
in der Publizistik. An all diesen Argumenten istdurchaus etwas
dran, aber zusammengefügt ergeben sie ein Zerrbild.
Deutschland rangiert im Mittelfeld
Wissenschaftliche Vergleichsstudien in den
OECD-Staaten kommen zu einem kaum zu widerlegenden Ergebnis: Die
Bundesrepublik, eine der ehemals leistungsfähigsten
Volkswirtschaften und eine der dynamischsten westlichen
Gesellschaften, rangiert inzwischen allenfalls im Mittelfeld - bei
den ökonomischen Wachstumsraten, bei der Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit, bei der Bildung oder bei den Aufwendungen
für die eigene Verteidigung.
Diese Bestandsaufnahme legt es nahe, massive
Strukturdefizite der politischen, wirtschaftlichen und sozialen
Ordnung zu vermuten. Und es ist im Prinzip nicht abwegig, auf der
Suche nach Abhilfe andere Länder, bei denen dies oder jenes
besser funktioniert, unter die Lupe zu nehmen. Genau dies geschieht
freilich nicht erst heute und führt eher zu mehr als zu
weniger Verwirrung - werden doch die ausländischen Vorbilder
in aller Regel nicht daraufhin untersucht, ob sie in einem
gänzlich anderen politischen, ökonomischen oder sozialen
Kontext überhaupt funktionieren können.
Wer, wie dies viele
Wirtschaftswissenschaftler taten, in den 70er- und 80er-Jahren das
"Thatcher-Modell" einer weitgehenden Privatisierung staatlicher
Aufgaben etwa bei der Eisenbahn, der Wasser- und Stromversorgung
oder der Hochschulfinanzierung als Allheilmittel anpries, negierte
nicht nur die Frage der Übertragbarkeit auf das
kontinentaleuropäische Modell sozialstaatlicher Demokratie,
sondern verlor auch die Konsequenzen dieser Politik aus den Augen:
nämlich eine als Folge der Privatisierung zusehends
verrottende Infrastruktur sowie eine Ökonomisierung und
Monetarisierung der höheren Bildung, um nur diese zwei
Beispiele zu nennen.
Nach der Veröffentlichung der
Pisa-Studie pilgerten deutsche Delegationen nach Finnland, um dort
zu lernen, wie man ein Bildungssystem leistungsfähiger machen
kann. Politiker und Wissenschaftler sahen sich dabei mit einer
zentralen Frage konfrontiert: Wurzelt der dortige Erfolg nicht nur
in besseren pädagogischen Konzepten, sondern auch in einer
komfortablen staatlichen Finanzierung, die mit einer exorbitanten
Staatsquote erkauft wird, in der geringen Größe des
Landes und in dessen ungewöhnlicher kultureller und ethnischer
Homogenität? Sind einem Export des finnischen Modells deshalb
vielleicht Grenzen gesetzt?
In der DDR gab es eine oft zitierte Losung:
"Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen." Ein solches
oktroyiertes Vorbild existiert in der modernen internationalen Welt
und im zusammenwachsenden Europa glücklicherweise nicht mehr.
Aber auch das "Modell-Shopping" dürfte kaum weiterhelfen -
nach dem Muster, man nehme ein wenig wirtschaftlichen Thatcherismus
(und sei es in der Blair'schen Variante), mixe ein bißchen
holländisches Poldermodell in der Sozialpolitik dazu und
übernehme zudem Versatzstücke kandinavischer
Bildungspolitik. Nein, ohne prinzipiell neue Weichenstellungen, bei
denen auch die Wissenschaft verstärkt gefordert ist, wird es
nicht gehen. Vieles ist ja auch bereits auf dem Weg.
Drückeberger
Es stimmt: Die Bundesrepublik hat sich
über ein Jahrzehnt um notwendige Erneuerungen
herumgedrückt. Dafür gibt es manche Gründe.
Erwähnt seien beispielsweise die Schwierigkeiten politischer
Mehrheitsbildung, die Bremsspuren des föderalen Systems, die
Versteinerung der Parteiendemokratie oder Fehlsteuerungen wie jene
im Zuge der deutschen Einheit. Gerade der historische Prozess der
Wiedervereinigung drängte viele Reformüberlegungen
für einige Jahre in den Hintergrund.
Die Entscheidung, die Vereinigung und den
Umbau Ostdeutschlands nicht mit einer Debatte über die Reform
der politischen Ordnung zu befrachten, war pragmatisch motiviert,
hatte aber die unangenehme Konsequenz, dass notwendige
Veränderungen verschoben wurden - die nun, mehr als ein
Jahrzehnt später, unter wesentlich schlechteren
ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen erneut auf der
Tagesordnung stehen. Die Debatte über eine grundlegende Reform
des Föderalismus, die sich in der Gründung einer
gemeinsamen Kommission von Bund und Ländern niedergeschlagen
hat, ist ein lebendiges Beispiel für diesen
Zusammenhang.
Zu den Ursachen der heutigen politischen und
gesellschaftlichen Verwerfungen gehört aber auch eine
unterentwickelte Kultur wissenschaftlicher Politikberatung. Viele
der aktuellen Probleme wurden in den Wirtschafts- und
Sozialwissenschaften seit langem diskutiert, konnten aber nicht
oder nur unzulänglich in die Politik vermittelt
werden.
Die Bundesrepublik war in den 70er- und
80er-Jahren einer sozialen und kulturellen Wandlung unterworfen,
die weitreichende Auswirkungen auf die Politik hatte. Die
Wirtschafts- und Sozialwissenschaften haben diesen dynamischen und
historisch einzigartigen Beschleunigungsprozess unter verschiedenen
Gesichtspunkten beschrieben, analysiert und versucht,
Entwicklungsperspektiven für die Zukunft aufzuzeigen. Die
Wissenschaft hat dabei Erhebliches geleistet, wobei den aktuellen
wie den künftig zu erwartenden Veränderungen und
Umbrüchen natürlich auch neue Fragestellungen für
die Forschung entspringen.
Wie lassen sich die wissenschaftlichen
Befunde zusammenfassen? Die Entwicklung in den OECD-Staaten ist
durch einen Wechsel von ökonomischer Dynamik und - trotz aller
Instrumente moderner Wirtschafts- und Finanzpolitik -
wiederkehrende Krisen charakterisiert. All diese Länder
durchleben schnell voranschreitende sozialstrukturelle
Differenzierungsprozesse, die mit einer Mobilität in bislang
unbekanntem Ausmaß verbunden sind.
Eine wachsende Fragmentierung, die Auszehrung
tradierter politisch-kultureller Milieus und die Herausbildung
pluraler Lebensstile kennzeichnen diese Gesellschaften. Dies
führt unter anderem dazu, dass sich die bisherigen relativ
festen und dauerhaften Bindungen der Menschen an bestimmte
gesellschaftliche und politische Gemeinschaften, an soziale und
politische Organisationen und nicht zuletzt an Parteien lockern und
tendenziell auflösen.
Herkömmliche politische,
ökonomische, soziale und kulturelle Konfliktmechanismen werden
von einer Vielzahl von Interessengegensätzen abgelöst,
die sozialstrukturell nur noch schwer zuzuordnen sind. Das Ergebnis
ist eine Schwächung derjenigen Gemeinschaften, Organisationen
und Institutionen, die dafür sorgen, dass eine Gesellschaft
mit ihren unterschiedlichen und teils gegenläufigen Interessen
"zusammengehalten" wird.
Frage der Legitimation
Die "etablierten" politischen Instanzen
geraten unter den Verdacht, ihre Repräsentationsfunktion nicht
mehr erfüllen zu wollen oder zu können. Parlamente,
Regierungen und Parteien sehen sich mit der Frage nach ihrer
Legitimation als privilegierte politische Akteure konfrontiert. Die
beiden großen Volksparteien, die Mitte der 70er-Jahre
über 90 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigten,
vermögen mittlerweile nur noch etwa 75 Prozent der Bürger
an sich zu binden. Bei Landtagswahlen kann es sogar geschehen, dass
eine der großen Parteien deutlich unter die 30-Prozent-Marke
gedrückt wird. Bei kommunalen Urnengängen und bei
Direktwahlen von Bürgermeistern oder Landräten sind die
Wähler immer häufiger für Überraschungen
gut.
Die klassischen Zuordnungsmuster für
politische Gruppierungen und Parteien nach dem Rechts-Links-Schema
erweisen sich zunehmend als problematisch, da sich nicht wenige der
Themen einer "neuen Politik" nicht über diesen Leisten
schlagen lassen. Ein Beispiel: Eine Law-and-Order-Partei wie die
CSU, die man wegen eben dieser Haltung als "rechte" politische
Organisation zu charakterisieren gewohnt war, überholt
mittlerweile nicht nur die CDU, sondern auch die SPD "links", wenn
es um die künftige Gesundheits- und Sozialpolitik
geht.
Die "kleinen Leute", von denen Horst Seehofer
spricht, sind eben nicht mehr die klassischen, SPD wählenden
Facharbeiter und kleinen Angestellten - das sind vielmehr Menschen
aus verschiedenen sozialen Milieus in materiell angespannten
Lebenssituationen, die sich von Arbeitslosigkeit oder von der
Entwertung ihrer Kenntnisse und Qualifikationen bedroht fühlen
und für die daher Ruhe, Ordnung und (soziale) Sicherheit einen
hohen Stellenwert haben.
Die Auflösungstendenzen in tradierten
Milieus sind eine der Ursachen dafür, dass neue soziale
Bewegungen und ein neuer Typ von Parteien das politische Geschehen
und die Entwicklung des Institutionensystems beeinflussen. Hinzu
kommen neuartige Gruppen, die als "advocacy groups" bestimmte
Interessen zu vertreten vorgeben: Diese Initiativen kümmern
sich um Menschen wie etwa Behinderte oder Kinder, die keine eigene
Organisationsmacht haben, und um Probleme wie Umweltschutz oder die
Folgen der Globalisierung, die sich nicht auf einen bestimmten
Personenkreis reduzieren lassen.
Hoffnungszeichen?
Von vielen werden Assoziationen wie "Robin
Hood" oder "attac" als hoffnungsvolle Erscheinungen einer neuen
Form demokratischer Partizipation begrüßt. Mit guten
Argumenten sehen hingegen andere in solchen Vereinigungen Gruppen
mit einem Anspruch, der sich nur durch die Selbstzuweisung einer
übergreifenden Aufgabe und nicht demokratisch
legitimiert.
Auch bei diesem Thema erschließt sich
den Sozialwissenschaften ein neues Aufgabenfeld. Forschungen
über Netzwerke in der Politik sollten das Bewusstsein
dafür schärfen, dass neben den "alten" wirtschaftlichen,
politischen und Verbandseliten, die das bisherige stark korporativ
geprägte System Deutschlands beherrschten, neue Eliten
entstehen: Diese Gruppen treten mit einem hohen normativen und
moralischen Anspruch auf, gewinnen erheblichen Einfluss auf die
Politik, sind aber im Blick auf demokratische Legitimation
"unterausgestattet" - was sie nicht davon abhält, im Namen
einer "wahrhaftigeren" und unmittelbareren Demokratie das Wort zu
ergreifen.
Professor Gert-Joachim Gläßner
lehrt Politikwissenschaft an der Humboldt-Berlin.
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