Michael Edinger
Blockierte Republik Deutschland durch begrenzten
Handlungswillen?
Probleme des Regierens und der Reformpolitik im
deutschen Bundesstaat
Maßgebliche Reformen waren es, die die Bundesregierung
Anfang 2003 ankündigte. Sie sollten Deutschland endlich
zukunfts- und wettbewerbsfähig machen. Ein Jahr später
ist der Reform- und Modernisierungsoptimismus eher gedämpft.
Rückblickend kommt dem im vergangenen Jahr aufgeführten
Reformdrama der Charakter eines Lehrstücks über die
Schwierigkeiten des Regierens im deutschen Bundesstaat zu. Verfolgt
man die letztjährige Reformdebatte aus der Perspektive der
Sozialwissenschaften, stellen sich Assoziationen zu den 70er-Jahren
ein.
Mit Vehemenz ist seinerzeit in den Politik- und
Verwaltungswissenschaften ein Konflikt um die
Steuerungsfähigkeit des Staates und die (Un-)Regierbarkeit
ausgetragen worden. Dieser Begriff ist zwischenzeitlich aus der
Mode gekommen, sei es aus Missbehagen an der Vieldeutigkeit oder
wegen seiner normativen Implikationen. Heutzutage werden
vergleichbare Phänomene als Reformblockaden oder
Modernisierungsbarrieren, öfters auch als Strukturdefizite des
föderativen Systems verhandelt.
Handlungsfähigkeit und Legitimation
Freilich geht mit dem Wandel der Terminologie auch der explizite
Bezug zum Regieren verloren - und womöglich das Bewusstsein
für die gewaltigen Herausforderungen des Regierens (nicht
erst) im frühen 21. Jahrhundert. "(Un-)Regierbarkeit"
lässt eben keinen Zweifel daran, dass es um
Grundsätzliches geht: die Durchsetzung gesellschaftlich
verbindlicher Entscheidungen. In dem Maße, in dem ein Staat
die Fähigkeit dazu verliert, büßt er beides ein:
seine materielle Handlungsfähigkeit und seine
Legitimation.
Dieser doppelte Bezug auf die Ergebnisse staatlichen Handelns
(Leistungsfähigkeit) und die Verfahren mitsamt ihrer Akzeptanz
(Legitimation) hat die wissenschaftliche Debatte um die
Regierbarkeit seit ihren Anfängen geprägt. Dabei bilden
Input- und Outputprobleme gewissermaßen zwei Seiten derselben
Medaille. Sieht man von dem hier nicht zu behandelnden dramatischen
Kompetenzverlust nationalstaatlicher Akteure im Zuge von
Globalisierungs- und Europäisierungsprozessen ab, sind es vor
allem drei Aspekte, die das Regieren und mit ihm größere
Reformen erschweren:
1. der umfassende Katalog wohlfahrtsstaatlicher Aufgaben bei
reduzierten Verteilungsspielräumen, aber konstant hohen
Erwartungen der Wähler;
2. der Autonomieverlust der Politik;
3. die im Regierungssystem selbst angelegten
Blockademöglichkeiten.
Während das Problem im ersten Fall paradoxerweise gerade in
einer Entgrenzung der Politik besteht, liegt im zweiten Fall eine
"Entleerung" der Politik und im dritten eine Selbstblockade
vor.
Dass der Ausbau der Staatstätigkeit die
Handlungsfähigkeit des Staates letztlich einschränkt,
findet sich als zentrale These bereits in frühen Texten zur
Regierbarkeit. In dieser liberal-konservativen Lesart kommt die
Entgrenzung seiner Zuständigkeiten den Staat gleich in
doppelter Hinsicht teuer zu stehen: Sie belastet dauerhaft das
Budget, vor allem aber verändert sie die
Legitimationsgrundlage des demokratischen Verfassungsstaates in
Richtung auf eine verstärkte Outputorientierung. Kann dieser
den steigenden Erwartungen der Bürger an die Absicherung
sozialer Risiken nicht entsprechen, droht ihm der Vertrauensentzug.
Dem versuchen die konkurrierenden politischen Parteien durch eine
weitere Steigerung der Wohlfahrt zu entgehen. Graf Kielmansegg hat
darin einst einen Teufelskreis erkannt, der in den Verfahrensweisen
der Demokratie selbst angelegt ist.
Birgt die Entgrenzung der Politik die Gefahr einer
Überlastung des Staates, so bedeutet ihre "Entleerung", dass
Regierung und Parlament kaum noch Wesentliches zu entscheiden
vermögen, zumindest nicht autonom. Angesichts der
Komplexität moderner Politik, ihrer Verflechtung mit der
Wirtschaft und der vorhandenen Verbändemacht ist die Regierung
vielfach zur autonomen Politikgestaltung nicht (mehr) in der Lage.
Autoritative Entscheidungen werden infolgedessen durch komplizierte
Aushandlungsmechanismen ersetzt. Der Preis dieser Art von
Verhandlungsdemokratie besteht in der Abhängigkeit von
wirkmächtigen Lobbys. Hinzu kommt die unzureichende
Berücksichtigung schwer organisierbarer Interessen und damit
zugleich ein Legitimitätsverlust.
Für die enge Abstimmung der Politik mit
Unternehmensverbänden, Gewerkschaften und sonstigen
Interessengruppen hält die bundesdeutsche Geschichte reichlich
Anschauungsmaterial bereit. Das Paradebeispiel aus der
Regierungspraxis der rot-grünen Koalition stellt wohl der
Ausstieg aus der Atomenergie dar. Sorgsam wurden hier im
Zusammenspiel von Regierung und Betreibern die Interessen aller
Beteiligten in einem Kompromiss abgeglichen, dessen Regelungen bis
weit ins dritte Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts reichen. Wie massiv
der Widerstand mächtiger Interessenverbände ausfallen
kann, veranschaulicht das Konfliktthema Dosenpfand. Trotz
eindeutiger Vereinbarungen gegen seine Einführung gab es eine
boykottartige Obstruktionspolitik seitens der Hersteller.
Angesichts der solchermaßen eng gesteckten Grenzen
staatlicher Steuerungsfähigkeit erscheint die Kooperation
staatlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Akteure in
einem anderen Licht. In einigen Politikfeldern sichert sie offenbar
allererst die Regierungsfähigkeit.
Blockademöglichkeiten
Während sich die Verhandlungsmacht von Verbänden aus
ihrer starken gesellschaftlichen Position ergibt, sind dem
Bundesverfassungsgericht und dem Bundesrat aus Gründen der
Machtdiffusion und Kontrolle vom Verfassungsgeber ganz bewusst
Vetomöglichkeiten eingeräumt worden.
Beiden Verfassungsorganen ist jedoch wiederholt die exzessive
Ausübung ihrer Kompetenzen zu Lasten von Parlament und
Regierung vorgeworfen worden. Schlagworte vom
Bundesverfassungsgericht als Ersatzgesetzgeber oder vom Bundesrat
als Nebenparlament legen Zeugnis davon ab.
Auch wenn es an empirischen Anhaltspunkten dafür nicht
mangelt, kann von einer systematischen und nachhaltigen
Beeinträchtigung des Regierungshandelns kaum die Rede sein.
Dies gilt selbst für den seit Anfang der 90er-Jahre weitgehend
von der jeweiligen Bundestagsopposition dominierten Bundesrat. Zwar
ist seither verstärkt der Vermittlungsausschuss angerufen
worden, doch dort konnte in der Regel ein Kompromiss erreicht
werden - wie zuletzt am 15. Dezember.
Gleichwohl sind die existierenden Blockademöglichkeiten der
Opposition Ausdruck von Fehlentwicklungen im deutschen
Föderalismus. Problematisch erscheinen neben der
Exekutivlastigkeit des Bundesrates vor allem die enorm hohe Quote
zustimmungspflichtiger Gesetze bei gleichzeitigem Rückgang
originärer Länderkompetenzen sowie die fehlende
Transparenz der Entscheidungsfindung.
Die Politikverflechtung im deutschen Bundesstaat stattet die
beteiligten Akteure mit einem gewaltigen Verhinderungspotenzial
aus, das durchgreifende Reformen erschwert. Die fehlende
Zurechenbarkeit politischer Entscheidungen tut ein Übriges, um
auf Seiten der Wähler politische Apathie und Unzufriedenheit
gedeihen zu lassen.
Die hier skizzierten Probleme des Regierens - teils
Strukturprobleme westlicher Demokratien, teils solche "made in
Germany" - erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Modernes Regieren wird auch durch die Funktionslogiken der
Mediengesellschaft erschwert - und ganz entscheidend von der
Globalisierung. Aber schon Entgrenzung, Entleerung und
Selbstblockade der Politik stellen die
Problemlösungsfähigkeit der deutschen Demokratie auf eine
ernsthafte Probe. Die Bemühungen, dem Staat
Gestaltungsspielraum zurückzugewinnen, gehen im Wesentlichen
in drei Richtungen.
Erstens wird zur Auflösung der Selbstblockade qua
Politikverflechtung eine institutionelle Reform angestrebt. Der so
genannten Föderalismuskommission ist aufgetragen,
Vorschläge für eine Entflechtung von Landes- und
Bundeskompetenzen vorzulegen. Zweitens erfolgt die Begrenzung der
staatlichen Aufgaben sowohl auf dem traditionellen Weg der
Privatisierung als auch durch die Verlagerung in die
Zivilgesellschaft. Letzteres geschieht mit dem Risiko, dass mangels
tragfähiger gesellschaftlicher Strukturen vormals staatliche
Aufgaben nicht mehr wahrgenommen werden. Weitgehend irreversibel
erscheint hingegen der Autonomieverlust der Politik. Ein Ausweg
wird hier vor allem in der Forcierung kooperativer
Konfliktbewältigung und in Verfahren der indirekten Steuerung
gesehen.
Kein genereller Reformstau
Befindet sich nun der deutsche Bundesstaat mitsamt seinen
Akteuren, Eliten wie Wählern, am Rande der
Reformunfähigkeit? Für einen solchen Krisenbefund besteht
kaum Anlass, zumal sich Demokratien - einem Diktum Oberreuters
zufolge - per se durch eine gewisse Schwerregierbarkeit
auszeichnen. Man mag den begrenzten Reformwillen der Deutschen
beklagen und dafür ihre "Versorgungsmentalität"
verantwortlich machen. Die Gründe könnten auch mit den
Reformen in Verbindung stehen. Der Eifer in der Politik erweckt
mitunter den Eindruck, als seien die Reformen bloßer
Selbstzweck - ein Verdikt, das viele eilfertig ventilierte
Vorschläge, aber auch Teile der verabschiedeten Gesetzespakete
trifft. Unbestritten ist, dass der Reformmotor der deutschen
Verhandlungsdemokratie langsam auf Touren kommt - und sich einzelne
Politikfelder reformresistent erweisen. Durch einen generellen
Reformstau ist die politische Lage in Deutschland jedoch nicht
gekennzeichnet.
Michael Edinger ist Politikwissenschafter an der
Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Zurück zur
Übersicht
|