Heiko Schwarzburger
Direkt ins Hirn gepflanzte Chips
Informatik und Mikroelektronik stehen vor neuen
Quantensprüngen
Alle reden von der technologischen Revolution, von
Mikroelektronik und Computern, als stünde ein neues Zeitalter
bevor. Doch dieser Vergleich hinkt. Revolutionen liefen bisher
stets punktuell ab. Die Innovationslawine in der Mikroelektronik
aber wird so schnell nicht ausrollen. Der rasante Fortschritt
dürfte zum Dauerzustand für die nächsten
Menschengenerationen werden. Nach einer Schätzung des
Forschungszentrums für Informatik in Karlsruhe kommen schon in
den nächsten Jahren mehr als 100 Prozessoren auf jeden
Bürger: in Handys, Autos, medizinischen Geräten,
Heimcomputern oder Fernsehern.
Künftig verschmelzen diese Geräte miteinander oder
kommunizieren über allgegenwärtige Funknetze. "Da stehen
wir noch ganz am Anfang", sagt Holger Boche, Experte für
schnelle Datennetze am Heinrich-Hertz-Institut in Berlin: "Mit
Systemen, die mehr als einen Sender und Empfänger haben, wird
sich die Leistungsfähigkeit der Datennetze erheblich
erhöhen." Der Mensch, so scheint es, wird in der Information
schwimmen.
Holger Boche, der 2003 den renommierten Alcatel-Preis für
seine Forschungen erhielt, arbeitet an der Theorie von
Mehrantennensystemen, sprich: an ihrer mathematischen
Beherrschbarkeit. "Die Innovation auf diesem Gebiet schreitet mit
Riesenschritten voran", sagt der Wissenschaftler. James Watts
Dampfmaschine brauchte 120 Jahre, bis sie sich in ganz Europa
durchsetzte. Heute lässt sich der technologische Run an der
Biografie eines Durchschnittsmenschen verdeutlichen:
Ältere Menschen kennen noch die Ära ohne Telefon und
Fax, Zeiten, als man Sendungen mit der Hand schrieb und zum Postamt
brachte. Kaum war die Bundesrepublik Mitte der 1950er-Jahre
flächendeckend mit einem Telefonnetz ausgerüstet, kamen
die Fernschreiber, die Datensysteme, erste Computer, Glasfaserkabel
- bis zum heutigen Handy. Einige Schwellenländer
überspringen diese Stufen und gehen gleich auf drahtlose
Systeme über, beispielsweise Brasilien, Indonesien oder
Südafrika.
In China gibt es heute 280 Millionen Handybesitzer, mehr als in
den USA oder in Europa - hingegen sind nur 250 Millionen
Anschlüsse für Telefone im Festnetz registriert. Die Zahl
der Anmeldung neuer Handys wächst in dem Riesenreich
dramatisch. Deshalb hat Holger Boche eine einzigartige Kooperation
mit den Chinesen gestemmt: "Wir gründen ein Doppelinstitut in
Peking und in Berlin, finanziert von Bundesforschungsministerium
und vom Forschungsministerium der chinesischen Zentralregierung",
berichtet er: "Dann werden rund 225 junge Wissenschaftler an der
Umsetzung neuer Netzalgorithmen arbeiten."
War Innovation bislang eine nationale Angelegenheit, wird sie
nun zum Kennzeichen einer global vernetzten Welt. Will man den
Stand der modernen Kommunikationstechnik einem historischen
Vergleich unterziehen, könnte man das gängige Handy
vielleicht mit einem Abakus vergleichen, also mit jenem antiken
Rechenbrett, das auch die Römer für die Abwicklung ihres
Handels nutzten. Bis zum modernen Computer vergingen 3.000 Jahre.
Auch das Handy, das wir heute im Mobil-Shop in die Hand nehmen,
markiert lediglich einen Anfang in seiner Leistungsfähigkeit,
in seiner Funktionalität und in seiner Reichweite.
Schon in wenigen Jahren wird das Handy zur
Kommunikationszentrale unseres gesamten Alltags mutieren. Forscher
der Universität von Illinois haben jetzt einen Transistor
entwickelt, der 509 Milliarden mal pro Sekunde schaltet. In Handys
der so genannten neuen Generation, die gerade den Markt
überschwemmen, schalten die Geräte im Gigahertz-Bereich,
also mehrere Milliarden Takte pro Sekunde.
Auch Prozessoren für Computer schaffen höchstens drei
Gigahertz. Alle 18 Monate, so ein ungeschriebenes Gesetz der
Chip-Industrie, verdoppelt sich die Rechenleistung - und zwar zum
gleichen Preis. Herbert Reichl, einer der führenden
Spezialisten für die Verdrahtung von Mikrochips und für
neue Systeme der Mikroelektronik, sieht dasHandy jedoch nur als
eine von mehreren Optionen: "Es könnte auch eine eingewebte
Antenne in der Kleidung sein, die dann größer wäre
und mehr Daten übertragen könnte."
Völlig neue Ideen
Reichl weist daraufhin, dass schnelle Prozessoren nur den Anlass
für völlig neue Ideen bilden. Mit zunehmender Leistung
der Chips wäre es denkbar, "ein sogenanntes Body-Area-Network"
aufzubauen: "Die Uhr kommuniziert mit dem Handy, das Handy mit der
Chipkarte und irgendwann auch das Handy mit der Brille", prophezeit
er. Reichl: "Die Brille würde dann die Funktion eines
Bildschirms übernehmen."
Der Forscher erwartet zudem weitere erhebliche Innovationen vor
allem im Gesundheitsbereich: "Sensoren in der Kleidung könnten
aus dem Schweiß Informationen über
Antikörperreaktionen gewinnen oder den Blutzucker messen",
nennt er zwei Beispiele. Reichl: "Je kleiner die Geräte, desto
zuverlässiger sind sie."
Was wie Zukunftsmusik klingt, dämmert schon als
Realität herauf: In den Vereinigten Staaten werden bereits
Sportjacken zum Verkauf angeboten, die den Puls fühlen und per
Antenne an den Arzt melden. Was technisch machbar ist, muss seine
Tauglichkeit für den Alltag indes erst noch unter Beweis
stellen: Auch die elektronische Kleidung muss schließlich
einmal in die Wäsche. "Das müssen die Bauelemente
aushalten", meint Reichl. Der Wissenschaftler geht sogar einen
Schritt weiter: "Konventionelle Leiterplatten sind starre Gebilde."
Auf der Basis von Polymeren werde es jedoch gelingen, "komplette
elektronische Systeme aufzubauen, die preiswert, einfach
herzustellen und biegsam sind". Dann könnten, prophezeit
Reich, Herzschrittmacher extrem dünn gebaut oder als filigrane
Implantate gefertigt werden.
An der Technischen Universität in Dresden arbeiten
Werkstoff-Forscher fieberhaft an Kunststoffen, aus denen sich
solche körperverträglichen Implantate herstellen lassen.
Noch stehen solche Studien am Anfang. Um die
Abstoßungsreaktionen des Körpers zu vermeiden, tragen die
Wissenschaftler eine spezielle Schutzschicht auf die Implantate
auf. "Unter Biomolekülen verstehen wir Peptide oder Proteine,
aber auch Proteoglycane", erläutert Hartmut Worch, der diese
Arbeiten leitet: "Sie sollen so wirken, dass das körpereigene
Gewebe die synthetische Unterlage nicht wahrnimmt. Das Implantat
heilt ein wie bei einem Knochenbruch."
Ohne Mikroelektronik in Rechentechnik, Simulation oder Analytik
wären die neuen Werkstoffe undenkbar. Beim "Tissue
Engineering" werden Zellen aus dem Rückenmark eines Patienten
auf ein Trägermaterial gepflanzt: Dort wachsen sie und bilden
ein biologisches Pflaster, das der Körper als sein eigenes
Gewebe erkennt. Auch Mikrochips auf einer flexiblen Polymerfolie
lassen sich eines Tages auf diese Weise verkapseln beziehungsweise
tarnen.
Dann ist es nicht mehr weit bis zum Prozessor, den man direkt
ins Hirn einpflanzen kann. Auch dazu gibt es schon Forschungen. Der
Chip wirkt wie ein elektronisches Etikett im Supermarkt. Gekoppelt
mit den allgegenwärtigen Funknetzen, wäre ein solcher
Mensch leicht zu orten und biometrisch kontrollierbar. Während
dies für die einen eine Horrorvision ist, verweisen andere auf
den Nutzen. Vermisste ließen sich schneller finden.
Implantierte Sensoren könnten, ein anderes Beispiel, das
Wachstum eines Hirntumors überwachen. Ans Herz angebracht,
schlügen sie bei erhöhtem Infarktrisiko Alarm. Sogar die
Energie für die Chips ließe sich aus dem Körper
gewinnen: "Vielleicht beziehen wir eines Tages die Energie aus
Blutzucker oder aus der Blutzirkulation", schätzt Herbert
Reichl. Es werde heute schon versucht, "Energie aus dem
Rückenmuskel zu gewinnen".
Der Mensch als virtuelles Modell
Der Mensch selbst wird zum Gegenstand der Informatik: Nach
Auffassung des Mathematikers Peter Deuflhard, Chef des
Konrad-Zuse-Zentrums für Informationstechnik in Berlin, wird
es in wenigen Jahren möglich sein, den gesamten Menschen als
virtuelles Modell im Rechner zu simulieren. Die Informatiker
brachten bereits das Bein mit der komplizierten Geometrie des Knies
in den Kasten. Die Wissenschaftler sind auch in der Lage,
Weichteile zu simulieren. Mediziner des Klinikums "Rechts der Isar"
in München und des Klinikums in Basel nutzen aufwändige
Simulationsprogramme, um chirurgische Eingriffe am Gesicht von
Unfallopfern oder anderen schwer entstelltenPatienten
vorzubereiten. "Mit Hilfe der modernen Informatik können wir
sogar das künftige Lächeln der Patienten vorhersagen",
meint Deuflhard.
In der Krebstherapie helfen die Simulationen, die optimale
Hyperthermiebehandlung zu planen. Zu diesem Zweck muss der Computer
innerhalb weniger Sekunden mathematische Gleichungen "mit einigen
Hunderttausend bis Millionen unbekannten Größen
lösen", erläutert der Professor.
Allerdings offeriert auch die moderne Computermathematik kein
Allheilmittel für alle Probleme der menschlichen Existenz: "Zu
politischen oder psychologischen Phänomenen haben wir bislang
noch keinen mathematischen Zugang", meint Deuflhards Kollege Martin
Grötschel. Er sieht eine wesentliche Herausforderung in der
Aufgabe, die zunehmende Komplexität der Welt mit Hilfe von
Mathematik und Informatik beherrschbar zu machen.
Noch produzieren die Forscher in ihren Labors Stückwerk.
Doch der Trend ist klar: Die verschiedenen Wissenschaftsgebiete
wachsen zusammen. Die Informatik könnte das dazu notwendige
Rückgrat bilden. Doch ohne systematische Forschung wird dies
nicht geschehen. Um mit Joachim Milberg, dem ehemaligen
Vorstandschef von BMW, zu sprechen: Die Zukunft kommt von allein.
Der Fortschritt nicht.
Heiko Schwarzburger ist freier Wissenschaftsjournalist in
Berlin.
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