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Silke Schieber
Dr. Sisyphus im Dauerclinch mit der
Heimtücke der Viren und der Armut
Sars, Tuberkulose und Aids: Die Globalisierung
fördert die Ausbreitung neuer und alter Krankheiten
Die Geschichte enthält alles, was ein gutes Drehbuch
ausmacht. Eine unbekannte Seuche, die sich rasch ausbreitet. Einen
tragischen Helden: Der Arzt, der als erster öffentlich vor der
neuen Bedrohung warnt, wird selbst von der Krankheit dahingerafft.
Zeiten der Unsicherheit und Panik, in denen sich die Menschen
ganzer Städte hinter Schutzmasken verstecken, in denen das
öffentliche Leben und die Wirtschaft fast zum Erliegen kommen,
in denen Reisen nur unter strengsten Sicherheitsbedingungen
möglich sind. Schließlich eine Gruppe unermüdlich
arbeitender Forsche auf der Spur der Erreger. Und zuguterletzt fast
ein Happy End: Die Seuche scheint zunächst besiegt.
Doch diese Story ist kein Hollywood-Film: Es handelt sich um die
Chronologie der Ereignisse um eine Krankheit, die Mediziner
"Schweres akutes respiratorisches Syndrom" nennen und die unter der
Abkürzung Sars von November 2002 bis Sommer 2003 die Welt in
Atem hielt. Zieht man eine nüchterne Bilanz über die
Folgen der Lungeninfektion, die in den Medien schon die "Seuche des
21. Jahrhunderts" getauft worden war, so haben sich bis Juli 2003
etwa 8.500 Menschen angesteckt, die meisten von ihnen in Asien und
Kanada. Etwas mehr als 800 der Betroffenen sind verstorben.
Verursacht wird diese schwere Lungenentzündung durch ein Virus
aus der Familie der Coronaviren. Doch das Sars-Virus ist ein neuer
Erreger und unterscheidet sich grundlegend von den drei Gruppen von
Coronaviren, die vor 2003 bekannt waren.
Vielleicht wäre zu früherer Zeit die Geschichte anders
verlaufen, vielleicht hätte sich Sars nicht weltweit
ausgebreitet und nicht einen solch enormen öffentlichen Wirbel
verursacht. Denn die Krankheit begann im Süden Chinas, in der
Provinz Guangdong, einer ländlichen, wenig entwickelten Gegend
in den Subtropen, in der die Menschen mit ihren Hoftieren auf
engstem Raum zusammenleben. In dieser Region grassierte im November
2002 eine atypische Lungenentzündung, die zunächst nicht
als Bedrohung wahrgenommen wurde. Zwar warnte Carlo Urbani, Arzt
und Experte für Infektionskrankheiten bei der
Weltgesundheitsorganisation (WHO), seine Kollegen schon früh
vor der manchmal schwer verlaufenden Lungenkrankheit. Doch seine
Hinweise bewirkten wenig, obwohl er selbst später an der
Infektion starb.
Im Februar 2003 übernachtete aber ein anderer Mediziner,
der Patienten mit dieser schweren atypischen Lungenentzündung
in Guangdong versorgt hatte, in einem Hotel in Hongkong, wo er
hohes Fieber, Muskelschmerzen und einen quälenden, trockenen
Husten bekam. Weil es eine internationale Herberge war und sich die
Viren über ausgeatmete Tröpfchen schnell verbreiten,
steckten sich zwölf andere Hotelgäste bei diesem Arzt an.
Mit den Infizierten reisten die Viren nach Nordamerika und
Europa.
Die Geschichte von Sars enthält nach den Erkenntnissen von
Virologen des Berliner Robert-Koch-Instituts typische Elemente, die
das Entstehen weltweiter Seuchenausbrüche in den heutigen und
künftigen modernen Zeiten begünstigen: In einer
Ursprungsregion mit schlechten hygienischen Verhältnissen, mit
dem Zusammenleben von Menschen und Tieren auf engstem Raum und mit
schlechter medizinischer Versorgung können Krankheitserreger
von Tieren auf Menschen überspringen, menschliche Erreger
Nutztiere befallen und sich in ihnen verändern. Als
mögliches Wirtstier des Sars-Virus sehen Wissenschaftler
inzwischen die wilde Zibetkatze, deren Fleisch in Südchina ein
beliebtes Nahrungsmittel ist.
Außerdem stellten die WHO-Experten fest, dass die
Bekämpfung global grassierender Infektionen nicht nur die
medizinischen, sondern auch die kulturellen Gegebenheiten der
verschiedenen Länder in den Blick nehmen muss. Die
Bereitschaft, sich Quarantäneregeln zu unterwerfen, ist sehr
unterschiedlich ausgeprägt: Solche Anordnungen werden in
asiatischen Ländern besser befolgt als in freizügigeren
westlichen Gesellschaften.
Doch die Globalisierung befördert nicht nur die Verbreitung
von Viren und neuen Krankheiten, sie bietet auch Vorteile, wie das
Beispiel Sars ebenfalls beweist. Schon im Mai 2003 wurde der
Erreger der Lungenkrankheit gefunden. Zu einem der drei Teams von
Wissenschaftlern, die das neue Coronavirus identifizierten,
gehören Christian Drosten und Stephan Günther vom
Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg sowie
Wolfgang Preiser vom Institut für medizinische Virologie der
Uni Frankfurt. Die Forscher haben die Erbanlagen des Virus in
Proben von Rachenabstrichen, Auswurf, Plasma und Stuhl eines
Sars-Patienten isoliert, der während einer Zwischenlandung auf
dem Weg von New York nach Singapur am Flughafen Frankfurt als krank
erkannt und in der Isolierstation der dortigen Uniklinik behandelt
wurde.
Vier Wochen lang wurden diese Proben mit detektivischem
Spürsinn zunächst auf alle möglichen Viren,
Bakterien und Pilzen untersucht, die schwere Lungeninfektionen
verursachen können, so Professor Rainer Dierkesmann,
Ärztlicher Direktor der Lungenfachklinik Schillerhöhe in
Gerlingen bei Stuttgart, über die Arbeit der jungen
Wissenschaftler. Molekularbiologische Methoden und
Datenbankrecherchen erlaubten es dann, die Erbanlagen des
Sars-Erregers zu identifizieren und zu entschlüsseln.
Zwar werden die meistenwissenschaftlichen Erkenntnisse in
Teamarbeit gewonnen, doch "sind es heute immer noch die
Beiträge einzelner Personen, die einen solch raschen
Fortschritt möglich machen", beurteilt Dierkesmann die Arbeit
von Drosten und Günther: "Denn dafür müssen
persönliche Kontakte, gutes Fachwissen,
Durchhaltevermögen und großes Engagement zusammenkommen."
Besiegt worden ist Sars noch nicht, wie der neueste Fall in China
belegt. Es kann noch lange Zeit dauern, bis wirksame Medikamente
oder gar Impfungen gegen die Krankheit auf den Markt kommen.
Doch auch Infektionskrankheiten, gegen die es längst
wirksame Mittel gibt und die trotzdem immer noch das Leben von
Millionen zerstören, werden Mediziner und Wissenschaftler in
Zukunft weiterhin und sogar verstärkt herausfordern. So sind
weltweit rund 1,5 Milliarden Menschen mit Tuberkulosebakterien
angesteckt, 95 Prozent von ihnen leben in Entwicklungsländern.
Während die Infektionsraten in Deutschland der Statistik des
Robert-Koch-Instituts zufolge leicht zurückgehen - 2001 gab es
knapp 8.000 neu Erkrankte - ist im globalen Maßstab genau das
Gegenteil der Fall: Die WHO schätzt, dass sich pro Jahr acht
Millionen Menschen neu anstecken. Unbehandelt verläuft die
Tuberkulose bei der Hälfte der Betroffenen Menschen
tödlich. Derzeit sterben jährlich drei Millionen Menschen
an dieser Krankheit, das sind 5.000 bis 8.000 täglich. An
keiner an sich gut heilbaren Infektionskrankheit gehen so viele
Menschen zugrunde.
Nur etwa 50 Euro kostet die Behandlung mit einer effektiven
Antibiotikakombination. Das ist sehr wenig im Vergleich zu den
Kosten vieler anderer Krankheiten. Aber selbst an diesen geringen
Mitteln fehlt es in vielen Ländern. Als schwierig beurteilt
Dierkesmann auch die Situation in Osteuropa, weil dort die
Tuberkulosebehandlung als Folge des Zusammenbruchs vieler
staatlicher Gesundheitssysteme nicht mehr konsequent vorgenommen
wird: "Damit sie an Lebensmittel kommen, um ihr Überleben
kurzfristig zu sichern, verkaufen Tuberkulosekranke zum Beispiel
einen Teil ihrer Medikamente."
Doch wenn die Infizierten nur ein einzelnes Antibiotikum statt
drei oder vier dieser Mittel schlucken, reicht das nicht aus, um
die Bakterien abzutöten. Im Gegenteil: Die überlebenden
Keime werden unempfindlich, breiten sich weiter aus und erschweren
den Kampf gegen die Krankheit. Etwa fünf Prozent der
Tuberkuloseerreger in Deutschland weisen eine Resistenz gegen eines
der Standardantibiotika auf, Tendenz steigend.
Ähnlich groß ist die Schere zwischen
Behandlungsmöglichkeiten, die HIV-Infizierte in reichen und
armen Ländern haben, warnt die WHO. Zwar ist die
Immunschwächekrankheit Aids im Gegensatz zu Tuberkulose nicht
heilbar und auch eine wirksame Impfung ist trotz mehr als
20-jähriger Forschung noch nicht in Sicht. Doch
Medikamentenkombinationen gegen das Retrovirus haben Aids
inzwischen von einer schnell tödlichen Bedrohung zu einer
behandelbaren Krankheit werden lassen. Die Medikamente
verlängern das Leben Infizierter deutlich. Zugang zu der
Therapie haben aber ähnlich wie bei der Tuberkulose im Grunde
genommen nur die wenigsten Betroffenen.
In Afrika findet man ganze Landstriche, in denen die meisten
Menschen im erwerbsfähigen Alter mit HIV infiziert, aidskrank
oder bereits an der Krankheit verstorben sind. Übrig bleiben
Aids-Waisenkinder und die Großelterngeneration. Katastrophen
ähnlichen Ausmaßes drohen nach WHO-Befürchtungen in
Teilen Chinas und der ehemaligen Sowjetunion. Derzeit, so
schätzt die WHO, gibt es weltweit etwa 42 Millionen
HIV-Infizierte. Damit aber nicht genug: Täglich sind 14.000
Neuinfektionen zu verzeichnen, alle sechs Sekunden steckt sich ein
Mensch mit dem HI-Virus an. 95 Prozent der Betroffenen leben in
Entwicklungsländern: Sie haben deshalb nur eine minimale
Chance, über Vorbeugungsmaßnahmen informiert zu werden
oder, wenn sie erkranken, eine effektive Behandlung zu
erhalten.
Die WHO hat mittlerweile ein Programm gestartet, das "3 by 5"
genannt wird. Dessen Ziel: Drei Millionen HIV-Infizierten aus
Entwicklungsländern soll bis Ende 2005 ein Zugang zu
freiwilligen und vertraulichen HIV-Tests sowie anschließend zu
einer Beratung und zu einer lebensverlängernden medizinischen
Behandlung verschafft werden. Eine Stärkung der
Gesundheitsvorsorge in diesen Regionen, die Aufklärung
über Schutzmöglichkeiten gegen Aids wie Hinweise auf
Safer Sex und auf den Verzicht des Nadeltauschs beim Drogengebrauch
oder die Verhinderung der Weitergabe der Infektion von Schwangeren
an ihre Neugeborenen mittels einer Ziduvudine-Therapie gehören
ebenfalls zu dieser WHO-Kampagne.
Der ungehinderte Zugang zu diesen Programmen für alle Teile
der Bevölkerung, also auch für Prostituierte oder
Homosexuelle, ist ebenso Teil der neuen Initiative - wie der Ausbau
des öffentlichen Gesundheitswesen in armen Ländern. Etwa
5,5 Billionen US-Dollar seien notwendig, um dieses Programm
vollständig umsetzen zu können, rechnet die WHO vor. Eine
fast unvorstellbar hohe Summe, weshalb zu befürchten ist, dass
die Aids-Geschichte selbst in fernerer Zukunft noch lange kein
gutes Ende finden dürfte.
Dokumentiert das Beispiel Sars, dass der medizinische
Forschergeist auch in Zukunft vor ständig neuen
Herausforderungen steht, so zeigen Tuberkulose und Aids vor allem
eines: Wissenschaftliche Fortschritte allein können
Krankheiten nicht aus der Welt schaffen, die Bekämpfung von
Armut und Unterentwicklung gehören ebenfalls dazu.
Silke Schieber arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin und
Ärztin in Stuttgart.
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