Peter Weingart
Die Stunde der Wahrheit für die
Wissenschaft
Politik, Wissenschaft und Medien sind heute
Partner, aber auch Konkurrenten im Wettstreit um öffentliche
Anerkennung
Die Wissenschaft ist das am schnellsten
wachsende Teilsystem der Gesellschaft. Grob gerechnet hat jede
Verdoppelung der Bevölkerung mindestens drei Verdopplungen der
Zahl von Wissenschaftlern hervorgebracht. Der amerikanische
Wissenschaftshistoriker Derek de Solla Price sah infolgedessen
bereits für die Jahrtausendwende einen Übergang zu einer
geringeren Wachstumsrate voraus. Dieses Wachstum hat dazu
geführt, dass die Wissenschaft nunmehr als der zentrale Faktor
einer revolutionären Umstrukturierung der Gesellschaft, der
Transformation der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft
gesehen wird.
Alle Analysen der Wissenschaft und ihres
Verhältnisses zu Wirtschaft, Politik und den Medien
müssen auf diese unvergleichliche Wachstumsdynamik
zurückgehen, auf ihre Ursachen und ihre Folgen. Das Wachstum
der Wissenschaft hat nicht nur Auswirkungen auf die Gesellschaft,
sondern diese haben Rückwirkungen auf die Wissenschaft
selbst.
Zum einen reagiert die Wissenschaft auf ihr
exponentielles Wachstum mit Innendifferenzierung beziehungsweise
Spezialisierung. Sie ist Resultat eines strategischen Verhaltens:
Nimmt die Zahl der Konkurrenten und damit auch die Intensität
der Konkurrenz unter ihnen zu, dann steigt der Anreiz für die
Differenzierung über die Suche nach "Nischen" und/oder die
Spezialisierung und Verengung des Forschungs- und
Lehrbereichs.
Spezialisierung wird durch die bestehende
Struktur der Disziplinen, ihrer Gegenstandsbereiche und
Forschungsfragen gesteuert. Sie ist nur dann eine erfolgreiche
Strategie zur Erlangung von Aufmerksamkeit, wenn sie die Verbindung
zu den etablierten Feldern nicht verliert.
Allerdings ist die Funktionsweise von diesem
Mechanismus auch abhängig von der Attraktivität der
Alternativen, die ihrerseits wiederum von den verfügbaren
Ressourcen abhängt. Praktisch hochgradig relevante
Forschungsgebiete wie die Biochemie, die sehr viel öffentliche
Gelder erhalten, ziehen eine wesentlich größere Zahl von
Forschern an und sind zugleich hoch kompetitiv.
Eine Stoßrichtung der
Innendifferenzierung weist auf größere Abstraktion, etwa
durch Mathematisierung. Die Folge ist, dass die Wissenschaft immer
weniger unmittelbares Tatsachen- und Erfahrungswissen aus ihrer
Umwelt gewinnt und kategorisiert. Als Erfahrungs- und Lernform
setzt die Wissenschaft an die Stelle unmittelbarer
alltagsweltlicher Erfahrung Begriffe, Instrumente und Theorien, so
dass sie ihre Empirie in zunehmendem Maße selbst
konstruiert.
Die zweite Stoßrichtung der
Innendifferenzierung besteht in der Ausweitung wissenschaftlicher
Erkenntnisweisen auf immer neue Gegenstandsbereiche. Zu Anfang
jeder disziplinären Entwicklung ist der Gegenstandsbezug
konkret. Im weiteren Verlauf wird er durch disziplinkonstituierende
Problemstellungen ersetzt, die auf immer neue Gegenstände
angewandt werden. Je abstrakter und damit generalisierbarer die
Methoden und Instrumente sind, desto effektiver der Zugriff auf
neue Gegenstände und Phänomene, desto zahlreicher auch
die Verknüpfungsmöglichkeiten zu bereits etablierten
Disziplinen.
Ein besonders einschlägiges Beispiel der
Verwissenschaftlichung von Handlungs- und Erfahrungsbereichen ist
der gesamte Komplex der individuellen Verhaltenssteuerung, der
durch eine Fülle von Forschungsgebieten -
Ernährungswissenschaften, Hu- mangenetik, Sexualforschung und
-therapie, Epidemiologie, um die wichtigsten zu nennen - geleistet
wird. Aufgrund der unmittelbaren Beziehung dieser Gebiete zu Fragen
der menschlichen Gesundheit und ethischer Wertbezüge
lässt sich die Grenze zwischen "reiner" Wissenschaft und
gesellschaftlichen Werten nicht mehr eindeutig ziehen.
Ähnliches gilt für den Bereich der
Umweltwissenschaften, der sich von der ursprünglich
naturwissenschaftlichen Ökologie auf die
sozialwissenschaftliche Risikoforschung bis hin zur
Umweltpsychologie ausgeweitet hat. Das hervorstechende Merkmal
dieses Forschungsbereichs ist ebenfalls die unausweichliche
politische, ökonomische und soziale Bewertung, die in die
Konzipierung von Forschungsgegenständen und die
Einschätzung von Ergebnissen eingeht. Die Umweltwissenschaften
gelten deshalb als paradigmatisch für einen neuen Typus von
Wissenschaft, der sich durch Politiknähe,
Legitimationssensibilität und Wissensabhängigkeit
auszeichnet und mit Bezeichnungen wie "post-normal-science"
gekennzeichnet wird.
Die Verwissenschaftlichung hat, wie die
Spezialisierung, ebenfalls Rückwirkungen auf die
Identität der Wissenschaft. Die durch die Spezialisierung
vorangetriebene Expansion der Wissenschaft hat eine Verschiebung
ihrer institutionellen Grenzen zur Folge. Die Demarkationslinie der
Wissenschaft wird weiter "nach außen" verlagert in Bereiche,
die vordem als außerhalb der wissenschaftlichen Beobachtung
und Reflexion liegend galten: Politik und Wirtschaft werden
verwissenschaftlicht; Ethik, Moral und soziale Werte werden
Gegenstand wissenschaftlicher Diskurse. Das Wachstum der
Wissenschaft ist mithin die Kraft, die für viele der
grundlegenden Veränderungen der Wissenschaft und ihrer Rolle
in der Gesellschaft verantwortlich ist.
Harrisburg und Tschernobyl
Am Abend des 28. März 1979
eröffnete Walter Cronkite die CBS Abendnachrichten mit der
Bemerkung, dass es der 'chaotischste Tag in der Geschichte der
Nachrichtenmedien' sei und fuhr fort, die sich widersprechenden
Informationen vom Unglück im Three Mile Island Kernreaktor in
Harrisburg zu präsentieren. Die Konfusion sollte für
mehrere Tage anhalten. Drei Wochen später schrieb das
Nachrichtenmagazin Newsweek, eines der ersten Opfer des
Nuklearunfalls sei die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit
gewesen. Sieben Jahre später wurde durch ein sehr viel
schwereres Unglück im ukrainischen Tschernobyl faktisch der
politische Ausstieg aus der Kernkraft besiegelt.
Three Mile Island und Tschernobyl wurden zu
Symbolen des Verlusts der auf verlässlichem Wissen und
einstimmiger Expertise gründenden Autorität der
Wissenschaft sowie der Glaubwürdigkeit der sich auf diese
Autorität stützenden Politiker. Die
widersprüchlichen Erklärungen der wissenschaftlichen
Experten in öffentlichen Anhörungen zeigten, dass sie
bestimmte politische und wirtschaftliche Interessen vertraten.
Damit wurde das Image der Wissenschaft als einer von Interessen
freien Institution zerstört. Seither sind gleichartige
Kontroversen im Zusammenhang mit einer Reihe anderer
wissenschaftlich-technologischer Projekte, etwa der genetischen
Veränderung von Nahrungsmitteln, den
Reproduktionstechnologien, der Stammzellforschung
aufgetreten.
Wissenschaftler sind als Gäste in den
Korridoren der politischen Macht längst zu einem vertrauten
Anblick geworden. Noch vor wenig mehr als drei Jahrzehnten wurde
die Verbindung von Wissenschaft und Politik ambivalent gesehen:
einerseits als Gewähr für eine rationale und auf
unparteiisches Wissen sich stützende Politik der "besten
Lösungen" im Interesse des Gemeinwohls, andererseits als eine
Bedrohung des demokratischen Systems durch den keiner
öffentlichen Kontrolle unterliegenden und somit illegitimen
politischen Einfluss wissenschaftlicher Experten. In dem Maß,
in dem wissenschaftliche Experten zur Normalität in der
Politik geworden sind, haben sich die ursprünglichen
Befürchtungen gelegt, nicht zuletzt, weil Expertenwissen allen
Gruppen in der Politik zugänglich gemacht worden
ist.
Die Funktion wissenschaftlichen Wissens
für die Politik und die allgemeine Verfügbarkeit dieses
Wissens hat geradezu zu einer Konkurrenz um Expertise geführt.
Diese Verwissenschaftlichung der Politik hat jedoch die
überraschende Folge, dass politische Entscheidungen nicht etwa
rationaler, eindeutiger, einmütiger und unter
größerer Sicherheit getroffen werden können. Im
Gegenteil, die Kontroversen um sie sind intensiver und ihre
mangelnde Wissensbasierung sowie ihre Risiken dadurch offenbar
geworden. Die Beziehung von Wissenschaft und Politik lässt
sich deshalb am ehesten als eine "rekursive Kopplung" modellieren:
Verwissenschaftlichung von Politik und der Politisierung der
Wissenschaft.
Ein Indikator der Verwissenschaftlichung ist
darin zu sehen, dass viele der Probleme, die auf die politische
Agenda gelangen, zu allererst durch die Wissenschaft wahrgenommen
und definiert werden. Das Problem des Umweltschutzes wurde
Gegenstand der politischen Diskussion, als wissenschaftliche
Untersuchungen die Akkumulation des DDT in der Nahrungskette
aufgewiesen hatten. Mit anderen Worten: Die Wissenschaft spielt
eine zunehmend größere Rolle in der Definition von
Problemen, zu deren Lösung sie sodann um Rat gefragt wird,
wenn diese Probleme auf die politische Tagesordnung gelangt
sind.
Umgekehrt führt die Kopplung von
Wissenschaft und Politik zur Politisierung der Wissenschaft.
Wissen, das in die öffentliche Arena eintritt, wird
unweigerlich von der Gesellschaft bewertet. Die Position von
Experten wird als von Politik und Interessen bestimmt gesehen.
Berater werden allzu oft gewählt, nicht weil Parlamentarier
und Regierungsbeamte ihren Rat wollen, sondern weil sie die
Legitimierung für die Politik haben wollen, die sie
vertreten.
Die Wissenschaft ist selbst zu einem Akteur
in der politischen Arena geworden, sei es als interessierte Partei
oder sei es als von anderen Akteuren rekrutierter Gehilfe, deren
spezifische Interessen sie unterstützen soll. Die
legitimatorische Funktion wissenschaftlichen Wissens als politische
Ressource begründet tendenziell eine Konkurrenz unter den
politischen Akteuren um die jeweils neuesten Forschungsresultate,
um in den Auseinandersetzungen über die Einführung einer
neuen Technologie oder die Zulassung eines neuen Arzneimittels die
angestrebten Entscheidungen dafür oder dagegen möglichst
überzeugend begründen zu können.
Die Konkurrenz um das neueste und deshalb
vermeintlich überzeugendste wissenschaftliche Wissen
produziert jedoch systematisch eine paradox erscheinende
Konsequenz. Der Tendenz nach treibt nämlich die Rekrutierung
von Experten über den Bereich des konsentierten Wissens hinaus
bis an die jeweiligen Forschungsfronten, wo das Wissen noch
umstritten ist, die Behauptungen unsicher und Angriffen
gegenüber offen sind und die Kontroversen noch andauern. Die
enge Kopplung von Wissenschaft und Politik enthält für
die Politik das Risiko, eine wichtige Quelle der Legitimierung, und
für die Wissenschaft das Risiko, das Vertrauen der
Öffentlichkeit zu verlieren.
Kritik an den Medien
Eine ähnliche Kopplung wie die der
Wissenschaft mit der Politik besteht auch mit den Medien. Seit
einer Reihe von Jahren beklagen Wissenschaftler und
Wissenschaftsjournalisten wieder einmal das Desinteresse der
Öffentlichkeit vor allem an der Förderung der
Grundlagenforschung und den schlechten Ausbildungsstand der
Bevölkerung. Die Medien sollten die Erkenntnisse der
Wissenschaft in geeigneter Weise, populär und
publikumsgerecht, darstellen. Entsprechend diesem Arrangement
stehen die Medien auch unter der kritischen Beobachtung der
Wissenschaft, wenn es um die Frage der 'Richtigkeit' der
Berichterstattung geht.
Die häufig zu hörende Klage der
Wissenschaft über "falsche" oder "verzerrte" Berichte oder
über die vorgeblich "falsche" Auswahl von Nachrichten geht
jedoch an der Sache vorbei. Die Medien gehorchen ihrer eigenen
operativen Rationalität. Sie produzieren offenbar ebenfalls
Wissen, zumindest im Sinn der eigenständigen Darstellung von
Realität für das von ihnen adressierte Publikum. Zu
dieser medial vermittelten Realität gehören auch die
Wissenschaft und deren Realitätsbeschreibung. Es ist deshalb
auch kein Zufall, dass es genau in diesem Bereich zur
schärfsten Konkurrenz kommt, zum Konflikt über die
Angemessenheit der Darstellung.
In dem Maß, in dem die Medien an
Bedeutung gewinnen und die Eigenständigkeit ihrer
Verarbeitungsweisen und ihrer Wirkung erfahren wird, verliert die
Wissenschaft das Monopol dieser Beurteilungskompetenz. Das
abstrakte Wahrheitskriterium der Wissenschaft gilt nicht mehr
allein, sondern ihm stellen die Medien das Kriterium der Zustimmung
des öffentlichen Publikums gegenüber. Der
Verlässlichkeit einer Information steht ihr Verbreitungsgrad,
repräsentiert durch die Auflagenhöhe einer Zeitung oder
die Zuschauerzahl einer Fernsehsendung, gegenüber. In der
medialen Berichterstattung über Wissenschaft tritt mediale
Prominenz der Wissenschaftler potentiell in Konkurrenz zu ihrer
wissenschaftlichen Reputation.
Viele Wissenschaftler haben die strategische
Bedeutung der Medien verstanden und entwickeln Strategien der
Informationskontrolle und der Öffentlichkeitsarbeit, um sie
für die Wahrnehmung, Bewertung und Förderung ihrer Arbeit
zu nutzen. Institutionen und wissenschaftliche Zeitschriften setzen
die gezielte Breitenveröffentlichung wissenschaftlicher
Ergebnisse ein, um ihr Image zu verbessern oder auch die
Bereitschaft zur Unterstützung bestimmter Forschungsrichtungen
zu fördern. So werden globale Katastrophen beschworen oder
Hoffnungen auf neue Medikamente und Behandlungstechniken geweckt,
die die mediale Aufmerksamkeit erringen und im Konkurrenzkampf um
knapper werdende Ressourcen als Legitimationsbasis dienen
sollen.
Diese Strategie greift vor allem dort, wo
politische Entscheidungen die Ressourcenzuweisung an die Forschung
bestimmen. Dort aber, wo die Notwendigkeit des "Verkaufens" der
Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung das Kalkül der
Forscher mitbestimmt, liegt die Vermutung nahe, dass die
Entscheidungen im Forschungsprozess sich nicht nur an der
späteren Verwertbarkeit der Ergebnisse im gesellschaftlichen
und politischen Raum orientieren, sondern zunehmend auch an ihrer
potentiellen Medienwirksamkeit.
So ist zum Beispiel der Forschungsgegenstand
des Klimawandels durch die Wissenschaftler selbst zu einem
politischen Handlungsfeld vorgeformt, indem Verantwortlichkeiten,
Handlungsoptionen und Bezüge zum gesellschaftlichen Kontext in
die wissenschaftliche Kommunikation eingebaut wurden.
Alle diese Indizien für ein neues
Verhältnis zwischen Wissenschaft und Medien lassen sich zu
einem Bild verdichten. Das Neue besteht in Form und Intensität
des Verhältnisses und ergibt sich aus der engeren Beziehung
der Wissenschaft zu ihrer gesellschaftlichen Umwelt sowie der
veränderten Rolle der Medien in der Beobachtung dieser
Beziehung. Das Phänomen, um das es hier geht, soll als
Wissenschaft-Medien-Kopplung bezeichnet werden.
Daraus lässt sich die These von der
Medialisierung der Wissenschaft ableiten: Der Bedeutungszuwachs der
Medien für die Prägung des öffentlichen Bewusstseins
hat auch die Wissenschaft in die Konkurrenz um öffentliche
Aufmerksamkeit gezwungen. Die Medien haben die Funktion der
Formulierung und Vermittlung von Themen, die für Wissenschaft
und Politik legitimatorisch relevant sind. Unter bestimmten
Bedingungen lassen sich aus diesen medienträchtigen Themen
langfristige Forschungsprogramme ableiten, die aufgrund ihrer
politischen Relevanz die Mobilisierung finanzieller Ressourcen
ermöglichen.
Die Politik einzelner Forschungsfelder, durch
die öffentlichkeitswirksame Prognose von Katastrophenszenarien
und die gleichzeitige Positionierung als Experten mit Bedarf an
Forschungsmitteln wird zu einem Muster. Macht sich die Wissenschaft
nicht prinzipiell unglaubwürdig, wenn die prognostizierten
Katastrophen auf das Interesse ihrer Urheber an der Finanzierung
ihrer Forschung zurückzuführen sind? Die
verschwörungstheoretische Unterstellung bösen Willens und
der Fälschung aufgrund von Eigeninteresse ist jedoch nicht das
Problem. Vielmehr hat die Kopplung zwischen Wissenschaft und Medien
eine in ihrer Häufigkeit und Intensität neuartige
Konkurrenz um Aufmerksamkeit ausgelöst.
Im Kampf um Aufmerksamkeit versuchen alle
Akteure, die Definitionsmacht zu gewinnen, aber keiner kontrolliert
das Spiel. Das Resultat sind Überbietungsdiskurse: Die von der
Wissenschaft behaupteten Katastrophen werden immer globaler, die
politischen Selbstverpflichtungen, für den Legitimationsgewinn
im Augenblick getroffen, werden immer riskanter und rechnen mit der
Vergesslichkeit. Die Medien spielen die zentrale Rolle in der
Vermittlung der Szenarien, ihrer Vereinfachung,
Überhöhung und wirksamen Verbreitung.
Schon die Form der Präsentationen und
sodann die erzwungenen Korrekturen zuvor propagierter Positionen
führen jedoch zu einem unvermeidlichen Verlust an
Glaubwürdigkeit für die Wissenschaft, unabhängig vom
Wahrheitsgehalt der Warnungen. Das darin zum Ausdruck kommende
"Risiko der Kommunikation" entspricht im Prinzip jenem der
Kassandra-Sage. An sich gerechtfertigte Warnungen drohen einer
allgemeinen Skepsis zum Opfer zu fallen. Es gibt keine
Möglichkeit mehr, ihren Wahrheitsgehalt einer
unabhängigen Prüfung zu unterziehen. Wissenschaft als
"Frühwarnsystem" der Gesellschaft droht auf diese Weise zu
einer Stimme unter vielen zu werden, die niemand mehr ernst
nimmt.
Elitäre Wissenschaft, wie sie noch bis
in die Mitte unseres Jahrhunderts ihrem Selbstverständnis und
der Wahrnehmung der Öffentlichkeit entsprach, ist in diesem
Kontext nicht mehr denkbar. Damit geht der gesellschaftliche Primat
wissenschaftlichen Wissens verloren. Dass diese Entwicklung ihren
Preis hat und nicht ohne Selbstschädigung des Arrangements
beliebig weiter gesteigert werden kann, liegt auf der
Hand.
Welches sind letztlich die Konsequenzen der
Kopplungen für die Kommunikation von gesichertem Wissen?
Gerade weil die Ausdifferenzierung der Wissenschaft nur bei Strafe
des Rückfalls in die Vormoderne umkehrbar (und vorstellbar)
ist, können Entwicklungen nur in Richtung einer Steigerung
ihrer eigenen Prinzipien weisen. Ihr Funktionsmonopol bleibt
erhalten, allerdings nunmehr unter den Bedingungen erhöhter
Unsicherheit, der Vielfalt der Kontexte sowie komplexer und
dezentrierter Beobachtungsverhältnisse und des Verlusts ihrer
ursprünglichen Autorität.
Der Verlust der Distanz zwischen Wissenschaft
auf der einen, Politik und Medien auf der anderen Seite führt
nicht zum Zusammenbruch der Wahrheitskommunikation. Vertrauen und
Glaubwürdigkeit bleiben weiterhin die konstitutiven und
zugleich knappen Werte dieser Kommunikation, und dies mehr denn je,
da die Abhängigkeiten von der Verlässlichkeit des Wissens
größer denn je sind. Die Konkurrenz um sie kennzeichnet
die neue Wissensordnung genauso wie die alte. Nur der Aufwand,
Vertrauen und Glaubwürdigkeit herzustellen, ist für die
Wissenschaft ungleich größer geworden.
Professor Peter Weingart hat sich in seiner
langjährigen Arbeit an der Universität Bielefeld auf
Fragen der Wissensentwicklung und Wissenschaftsforschung
konzentriert.
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